"Allerhand auf Immenhof"

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Andrea1984
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"Allerhand auf Immenhof"

Beitrag von Andrea1984 »

Kapitel 1

„Hier bei Rechtsanwalt Dr. Lange.“, meldete sich eine junge Frauenstimme. „Ob der Herr Doktor für Sie heute noch einen Termin frei hat? Einen Moment, bitte. – Ja, es geht in Ordnung. Um 16 Uhr passt es dem Herrn Doktor gut. Auf Wiederhören, Frau Arkens.“
Die Sekretärin notierte sich den Termin pflichtbewusst im Kalender und gab Dr. Lange Bescheid.

Pünktlich um 16 Uhr schlug die Türglocke an. Die Sekretärin öffnete. Vor der Türe stand eine nicht mehr ganz so junge Frau mit blauen Augen und blonden Locken, durch die sich langsam graue Strähnen zogen: „Guten Tag. Mein Name ist Arkens. Wir haben heute morgen telephoniert.“
„Guten Tag, Frau Arkens. Bitte legen Sie Ihren Mantel ab. Hier ist das Büro von Dr. Lange.“

Hinter dem Schreibtisch saß der Rechtsanwalt. Seine braunen Augen wurden von dicken Brillengläsern verdeckt. Auf dem Schreibtisch lag eine Aktenmappe: „Guten Tag. Darf ich Sie bitten, Platz zu nehmen. Meine Sekretärin hat mir einige aufschlussreiche Informationen bereits mitgeteilt.“
„Guten Tag.“, erwiderte Dalli, während sie Dr. Lange die Hand schüttelte. „Kommen wir zur Sache.“

„Eine energische Persönlichkeit.“, dachte der Rechtsanwalt. „Sie weiss genau, was sie will. Und ist offenbar tatsächlich entschlossen die Scheidung von ihrem Noch-Ehemann tatsächlich durchzuziehen. Gründe dafür gibt es ja genug. Doch leider auch ebenso viele, welche gegen eine Scheidung sprechen. So oder so springt für mich bestimmt ein angemessenes, hohes Honorar dabei heraus.“

Dalli kramte eine Zigarette und ein Feuerzeug aus der Innentasche des blauen Jacketts, welches sie an diesem Tag trug: „Gestatten Sie, Herr Doktor, dass ich hier drinnen eine Zigarette rauche?“
„Gewiss doch, Frau Arkens. Hier ist ein Aschenbecher für Sie. Geben Sie acht, dass die wichtigen Unterlagen nicht beschmutzt werden. Immerhin sind dort alle wichtigen Punkte sorgfältig aufgelistet.“

Eine Weile redeten Dalli und Dr. Lange um den heißen Brei herum. Plötzlich klingelte das Telephon. Auf einer Nebenstelle nahm die Sekretärin zwar den Hörer auf, doch sie reichte das Gespräch wenige Augenblick später an Dr. Lange weiter. Dieser wandte sich an Dalli: „Entschuldigen Sie bitte, Frau Arkens. Sie können ruhig hier in meinem Büro warten. Das Gespräch wird gewiss nicht lange dauern.“

Dalli dämpfte die Zigarette aus. Und stützte den Kopf nachdenklich auf die Hände. Dieser Entschluss war ihr nicht leichtgefallen. Aber nun gab es kein Zurück mehr. Der Rechtsanwalt machte sich eifrig Notizen. Und kam nur selten zu Wort. Der Klient oder die Klientin am anderen Ende der Leitung hatte offenbar einiges auf dem Herzen und nur wenig Zeit alles, das so wichtig erschien, loszuwerden.

Der Rechtsanwalt verabschiedete sich und legte den Hörer auf: „Wo waren wir stehengeblieben?“
„Bei meinem Anliegen: Der Scheidung.“, erwiderte Dalli sachlich und strich sich eine Haarsträhne hinter die Ohren. „Mit einer räumlichen Trennung von Tisch und Bett alleine ist es nicht getan.“
„Sie haben doch mit ihrem Mann eine recht gute Ehe geführt.“, brachte Dr. Lange nun vor.

„Das war einmal.“, setzte Dalli ihre Argumente für eine Scheidung von Alexander fort. „Er hat mich mit einer gewissen Sigrid Eversen betrogen. Der gemeinsame Sohn Paul ist inzwischen knapp zwei Jahre alt. Sie verstehen doch, dass ich solch ein Verhalten nicht länger unter meinem Dach dulden kann.“
Der Rechtsanwalt nickte: „Wie stehen die anderen Kinder von ihrem Mann zu dieser Sache?“

„Unsere gemeinsamen Töchter sind noch zu jung, um das alles zu begreifen. Henriette ist jetzt acht und Christine sieben Jahre alt. Alexander hat zudem noch aus seiner ersten Ehe zwei inzwischen erwachsene Töchter Roberta und Sybille. Sie verhalten sich nach außen hin so neutral wie möglich. In einem kleinen Dorf wie Malente wird über alles und jeden geredet. Mein Ruf bleibt hoffentlich gut.“

Das Gespräch fand in Hamburg statt. An diesem Vormittag war Dalli extra dorthin gefahren. Sie wusste ihre Töchter in der Schule unter der Aufsicht des Lehrers in den besten Händen. Um den Haushalt kümmerten sich das Hausmädchen Stine und der Knecht Ole. Wo sich Alexander im Augenblick aufhielt, interessierte Dalli nicht. Vermutlich steckte er bei Sigrid im Reisebüro.

Ein weiterer Termin stand noch aus. Alexander musste den Scheidungsvertrag ebenfalls unterschreiben. Sonst war dieser ungültig. Dalli nickte. Diese Information war ihr bereits bekannt. Sie verließ die Praxis und kehrte auf den Immenhof zurück. Ein Ausritt würde jetzt gewiss gut tun.
Zuletzt geändert von Andrea1984 am Mo 19.Jan.2015 11:36, insgesamt 1-mal geändert.
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Kapitel 2

Beitrag von Andrea1984 »

„Halt, Boss. Sie können da jetzt nicht rein.“, mit diesen Worten versperrte Ole Dalli den Weg.
„Warum nicht? Ich will jetzt mit Scheitan ins Gelände gehen. Und hab‘ sowieso nur wenig Zeit.“
Dalli hatte sich nach ihrer Rückkehr auf den Immenhof rasch umgekleidet. Und trug nun einen roten Pullover und schwarze Reithosen, sowie die wilden Locken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Dalli schlug mit der Gerte gegen ihre Oberschenkel: „Lass‘ mich durch, Ole.“
Er grinste bis über beide Ohren: „Scheitan ist gerade dabei seine wichtigste Pflicht hier zu erfüllen.“
„Fressen?“, gab Dalli schmunzelnd zurück. „Spass beiseite: Ich weiß schon, was du damit meinst.“

Also blieb ihr nichts anderes übrig als Rasputin von der Weide zu holen, wogegen diesern mit einem heftigen Schnauben protestierte, und zu satteln. Rasputin benahm sich zwar in der Bahn tadellos, war im Gelände jedoch äußerst schwierig und brauchte daher eine gute Hand. Auch beim Satteln machte der Hengst manchmal Mucken. Heute ging alles gut. Dalli genoss die Ruhe, als sie langsam durch den Dodauer Forst ritt. Allmählich stand der Frühling vor der Türe. Im Schatten der vielen Tannen lag allerdings noch ein wenig Schnee. Rasputin wieherte leise. Dalli klopfte ihm beruhigend auf den Hals: „Nur keine Panik. Das ist doch nur ein heruntergefallener Ast und keine Schlange gewesen.“

Eine junge Mutter schob den Kinderwagen, in welchem ihr Baby drinnen lag. Dalli ritt langsam daran vorüber. Die junge Mutter dankte es ihr mit einem kurzen Gruß. So gut kannten sich die beiden Frauen ja nicht. Rasputin wollte gerne schneller laufen, aber er durfte dies nicht. Dalli hielt – das war allzu wörtlich zu nehmen – die Zügel fest in der Hand. Rasputin blieb daher nichts anderes als Gehorsam übrig. Er brauchte Bewegung. Immer nur im Stall oder auf der Weide stehen war nicht gut.

Nach dem Ausritt kümmerte sich Dalli pflichtbewusst um die Buchhaltung und die Korrespondenz. Ein Stapel Briefe lag auf dem Schreibtisch. Bis zum Mittagessen sollten alle Briefe eigentlich beantwortet sein. Aber Dalli hatte gerade einmal die Hälfte davon geschafft, als Stine den Gong schlug. Und das Essen auftrug. Dalli nahm zwar schon Platz, wartete jedoch mit dem Essen noch, bis ihre Töchter aus der Schule gekommen waren. Es roch nach einer frischen Erbensuppe.

„Sag‘ Ole Bescheid, dass wir essen können.“, mit diesen Worten wandte sich Dalli an Stine, die gerade einen Krug mit Wasser zum Tisch trug. „Setzt euch doch zu uns dazu. Hier ist genug Platz.“
„Jawohl, gnädige Frau.“, Stine strich ihre Schürze glatt. Und ging in die Küche. Dort wartete schon Ole. Er zeigte sich sehr überrascht davon, dass das Speisen am Tisch der Herrschaft erlaubt war.

Dalli hatte im Winter viel Zeit gehabt, über alles nachzudenken. Und war unter anderem zu dem Entschluss gekommen, Stine und Ole nicht mehr wie Dienstboten, sondern mehr wie gute Freunde zu behandeln. Auch wenn das gegen alle hergebrachten Konventionen war. Dalli kümmerte sich nicht darüber, was die Leute im Dorf von ihr dachten. Es gab tatsächlich noch einige wenige, die an dieser harten Trennung – Herrschaft/Dienstboten – festhielten, obwohl dazu kein Grund mehr bestand.

Henny und Chrissy kamen aus der Schule. Sie hatten viele Neuigkeiten zu berichten. Plötzlich wurde Henny stutzig und blickte quer über den Tisch: „Wo ist denn Vati? Hat er heute keinen Hunger?“
„Ich weiß es leider nicht.“, gab Dalli zögernd Auskunft. „Magst du noch einen Schöpfer Suppe?“
„Au ja. Sie schmeckt prima.“, freute sich Henny aufrichtig. Chrissy hingegen verzog das Gesicht.
„Ich mag keine Erbensuppe. Warum kommt sie bloß so oft in der Woche auf den Tisch?“

„Morgen gibt es Sauerbraten mit Klößen.“, verriet Stine schon heute. „Das schmeckt dir bestimmt.“
Nach dem Essen schickte Dalli ihre Töchter nach oben auf ihre Zimmer. Henny erledigte pflichtbewusst ihre Hausaufgaben, doch Chrissy trödelte noch ein wenig herum. Sie hatte keine Eile.
Doch Dalli war in dieser Hinsicht konsequent: Erst die Aufgaben, dann das Kümmern um die Pferde.

In der Küche klapperte das Geschirr unter Stines geschickten Händen. Dalli kam herein: „Ich helf‘ dir, Stine. Was ist noch alles zu tun? Hast du den Topf schon abgewaschen ? Nein ? Dann tu‘ ich es.“
„Aber gnädige Frau, das sollten Sie doch nicht.“, protestierte Stine halbherzig. „Ihr Platz ist auf dem Rücken eines Pferdes oder bei Ihren Kindern. Nee, nee unter der Zarin hätte es das nicht gegeben.“

Zu zweit ging die Arbeit rasch von der Hand. Dalli und Stine standen nebeneinander am Spülbecken. Plötzlich hob Dalli den Kopf. Und lächelte Stine an. Diese war zunächst verlegen. Aber dann glitt ein stilles Lächeln über ihr Gesicht. Von diesem Augenblick an verstanden sich die beiden besser als zuvor. Doch zu einem wichtigen Schritt konnte sich Dalli noch nicht durchringen: Nämlich Stine – ja und auch Ole – beizubringen, dass die Anredeform „gnädige Frau“ inzwischen unzeitgemäß war.
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Kapitel 3

Beitrag von Andrea1984 »

Bobby saß am Küchentisch und blickte auf die Uhr. Wo blieb Hasso bloß so lange? Überstunden waren für heute keine abgemacht worden. Zu dem war es schon dunkel draußen. Hasso sollte längst zu Hause sein. In einem Haus, dass für die fünfköpfige Familie allmählich zu klein wurde. Doch Geld für einen Umzug war nicht vorhanden. Bobby hatte zwar eine umfangreiche Mitgift in die Ehe mitgebracht, aber dieser Beitrag sollte, auf Hassos Bitte hin, nur in einem Notfall verwendet werden.

„Ich bin unzufrieden.“, seufzte Bobby. „Aus meinen Träumen von damals ist nichts geworden. Stattdessen sitze ich zu Hause und betreue meine drei Kinder. Billy kommt weit in der Welt herum.“
Auf dem Küchentisch lag die aufgeschlagene Tageszeitung. Daneben stand eine Tasse Tee. Bobby rührte gedankenverloren mit dem Löffel darin herum, obwohl die Flüssigkeit schon kalt geworden war.

Plötzlich klingelte es an der Türe. Erst zögernd, dann mit Nachdruck. Bobby erhob sich, stellte die Teetasse auf den Tisch und ging hinüber ins Vorzimmer. Wer wohl um diese Tageszeit hier war?
„Billy, das ist eine Überraschung. Was machst du hier so plötzlich.“, mit diesen Worten ließ Bobby ihre Zwillingsschwester eintreten, die sich seit zwei Jahren nicht mehr gemeldet hatte und nun – wie aus dem Nichts – hier aufgetaucht war. „Und wie siehst du denn aus? Was ist mit dir geschehen?“

Billy fuhr sich mit einer Hand durch ihre Haare, die sie nun kurz geschnitten trug: „Ich hab es in der Fremde nicht mehr ausgehalten. Nun bin ich also wieder hier. Dalli weiß noch nicht Bescheid.“
„Soll ich sie anrufen?“, erkundigte sich Bobby, während sie das Teewasser aufsetzte und Brot herausholte. „Nimm‘ doch Platz. Die Kinder sind schon im Bett. Sie werden uns gewiss nicht stören.“

Billy stellte ihren Rucksack unter den Tisch und zog sich die Turnschuhe aus: „Lieb von dir. Doch Dalli wird schon schlafen. Sie soll erst morgen erfahren, dass ich wieder da bin. Und Vati noch später.“
„Du kannst doch nicht ständig vor ihm davonlaufen.“, meinte Bobby. „Früher oder später wird Vati mit dir reden wollen. Versuch‘ doch wenigstens, ihn zu verstehen. Er hat dich vermisst, wie Dalli und ich.“

Billy blickte auf die Tischplatte: „Du hast Recht. Aber was soll ich denn sonst tun. Vati wie früher gegenübertreten – das bringe ich, beim besten Willen, nicht über’s Herz. Er ist nach wie vor mit einer anderen zusammen, obwohl er doch einst Dalli geliebt hat. Männer sind zu nichts gut. Du kannst einen mit dem anderen erschlagen. Na schön, es gibt auch Ausnahmen. Hasso gehört dazu.“

Bobby schwieg. In dieser Hinsicht konnte sie nicht sicher sein. Wer weiß, wo Hasso sich in diesem Augenblick aufhielt. Und vor allem mit wem. In der Bank arbeitete seit kurzem eine junge Kollegin. Hasso sprach oft von ihr. Bobby wurde allmählich misstrauisch. Doch es bestand wahrlich kein Grund dazu. Hasso hatte Bobby damals ewige Treue geschworen und sollte diesen Schwur auch halten.

„Was riecht denn hier so komisch?“, mit diesen Worten rümpfte Bobby angewidert die Nase.
„Nicht „was“, sondern „wer“.“, berichtigte Billy. „Ich hab‘ meine Klamotten seit drei Tagen nicht gewechselt. Das große Gepäck ist am Flughafen in Hamburg spurlos verschwunden. Jegliche Nachfragen sind unbeantwortet geblieben. Jeans und Pullover – das ist mein Handgepäck.“

Bobby holte eine zweite Tasse aus dem Schrank. Und schenkte den Tee behutsam ein: „Nun trink erst mal, das wird dir gut tun. Hier das Brot ist auch für dich. Magst du Butter dazu? Oder lieber Wurst?“
Billy knabberte an dem Brot: „Das schmeckt lecker. Besser als das weiche drüben in Amerika. Oder diese Dougnuts, die ich nicht einmal riechen kann. Beim Gedanken daran wird mir schon übel.“

Eine Weile saßen die Zwillinge noch am Tisch und plauderten über Gott und die Welt. Danach stellte sich Billy unter die Dusche – und wusch sich auch die Haare ausgiebig - , während Bobby gleichzeitig die Jeans und den Pullover in die Waschmaschine stopfte. Hasso war noch immer nicht nach Hause gekommen. Billy schlüpfte in einen Schlafanzug: „Ich leg‘ mich auf die Couch ins Wohnzimmer. Danke für deine Unterstützung. Ohne dich wäre ich in den vergangenen zwei Jahren verloren gewesen.“

„Du kannst gerne bei mir im Schlafzimmer schlafen. So wie früher.“, bot Bobby an. „Ich fühle mich einsam, wenn Hasso nicht da ist. Dabei hat er mir doch versprochen, heute früher da zu sein.“
Billy föhnte sich die Haare trocken: „Wenn es dir keine Umstände macht. Ich könnte auf Nägeln schlafen, müde wie ich bin. Die Zeitumstellung macht mir doch mehr zu schaffen, als ich dachte.“

Bobby sah noch rasch nach ihren Kindern. Diese schliefen tief und sorglos. Sie hatten keine Ahnung, welches große Problem ihre Mutter und ihre Tante im Augenblick richtig schwer auf der Seele lag.
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Kapitel 4

Beitrag von Andrea1984 »

Eine halbe Stunde später schlief Bobby schon tief und fest. Aber Billy lag noch wach und starrte in die Dunkelheit. Es war eine sternklare, frostige Nacht. Was sollte man auch Mitte Februar anderes erwarten. Billy sprang aus dem Bett. Dabei stieß sie sich die Zehen am Bettpfosten an. Bobby drehte sich seelenruhig auf die andere Seite. Und bekam nicht mit, dass Billy in die Pantoffeln schlüpfte.

„Vielleicht hilft ja ein Glas Milch, dass ich besser einschlafen kann.“, murmelte sie halblaut vor sich hin. Auf dem Weg zur Küche war es finster. Billy wagte es nicht, das Licht aufzudrehen. Etwas knackte. Billy tastete sich an der Wand bis zur Küchentüre entlang. Von draußen schimmerte der Vollmond durch das Fenster. Das war ein kleiner Vorteil für Billy, die in dem Licht durchaus einiges erkennen konnte. So auch, in welchem Regal die Gläser standen. Die Milch war jedoch schon beinahe alle.

Billy nippte zögernd daran. Sie hatte keine Eile wieder ins Bett zu gehen. Der Vollmond wanderte langsam weiter. Nun lag die Küche wieder im Dunkeln. Billy stellte das leere Glas auf die Anrichte. Plötzlich war ein merkwürdiges Geräusch zu hören. Billys Herz klopfte bis zum Hals. Im nächsten Augenblick wurde die Haustüre geöffnet. Hasso trat ein, schüttelte sich den Schnee von der Jacke.

„Warum bin ich heute bloß schon wieder zu spät nach Hause gekommen?“, murmelte er in seinen nicht vorhandenen Bart. „Bobby wird sicher sauer auf mich sein. Ich kann’s ihr nicht verdenken.“
Hasso zerrte sich rasch die Stiefel von den Füßen und hängte die Jacke auf den Haken. Dann warf er einen Blick in den Spiegel: „Ich sehe grauenhaft aus. Das liegt wohl an dem Stress auf der Arbeit. Wie bekomm‘ ich nur diese dunklen Ringe rund um die Augen und den Ring um die Hüften schnell weg?“

Billy hielt sich die Hand vor den Mund, um nicht laut herauszulachen. Seit wann hatte Hasso dunkle Ringe um die Augen? Seine Figur war schlank und sportlich. Warum jammerte er deshalb herum?
Billy nahm die Pantoffeln in die Hand und huschte über den Flur Richtung Wohnzimmer. Auf der Couch lag eine Tagesdecke. Kopfkissen gab es dort genug. Pardauz. Was war nun geschehen?

Billy und Hasso prallten auf dem Flur zusammen. Hasso rieb sich den Kopf: „Was ist los, Bobby?“
„Also erstmal bin ich Billy. Und zweitens wollte ich gerade ins Wohnzimmer gehen, um mich dort auf die Couch schlafen zu legen.“, klärte Billy ihren Schwager auf und knipste trotzdem das Licht an.
Hasso rieb sich verwirrt die Augen: „Lass‘ mich mal hinter dein linkes Ohr schauen, ob da was ist.“

Billy wandte den Kopf: „Nur zu. Du wirst allerdings dort nichts finden, was wie ein Leberfleck aussieht.“
Nur anhand dieses kleinen, eher unbedeutenden Merkmals, das sich hinter Bobbys linkem Ohr befand, ließen sich Bobby und Billy unterscheiden.
Hasso wischte sich die Hand an der Jeans ab und reichte sie Billy zum Gruß: „Schön, dass du wieder da bist. Bobby hat oft von dir gesprochen und dich sehr vermisst. Bleibst du nun länger hier?“

Billy zuckte mit den Schultern: „Ich weiß es nicht. Und brauch‘ einige Zeit um darüber nachzudenken.“
Inzwischen war Bobby munter geworden: „Komm‘ zum mir Billy. Hasso, du schläfst diese Nacht auf der Couch. Dreh‘ doch bitte das Licht ab, sonst werden die Kinder wach. Das wäre nicht gut für sie.“
„Ich kann gerne im Wohnzimmer schlafen.“, bot Billy an. „Mir macht das wirklich nichts aus, ehrlich.“

„Es ist ja nicht das erste Mal, dass Hasso zu spät nach Hause kommt.“, ergänzte Bobby und verzog das Gesicht. „Ständig hat er irgendwelche Ausreden parat. Und zu dem riecht er nach Alkohol.“
„Seit wann führen zwei oder drei Bier gleich zu einer Fahne?“, wunderte sich Hasso. Er sprach mit schwerer Zunge. „Lass‘ mich doch bei dir bleiben. Wir gehören schließlich zusammen, das weißt du.“

Hasso versuchte, Bobby den Arm um die Schultern zu legen und ihre einen Kuss zu geben. Bobby ekelte sich vor der Alkoholfahne. Und griff zu einem drastischeren Mittel: „Geh‘ weg von mir. Leg‘ dich auf die Couch. Das ist ja nicht mehr auszuhalten. Hast du dich wenigsten auf der Geburtstagsfeier deines Kollegen – oder vielleicht einer Kollegin – gut amüsiert? Nun red schon, was ist geschehen.“

Hasso schwieg. Er wusste genau, dass Bobby ihm nicht glauben würde, egal, was er zu berichten hatte. Es war tatsächlich nicht mehr als eine harmlose Geburtstagsfeier gewesen. Der Kollege hatte seinen 50. Geburtstag gefeiert und einige Mitarbeiter eingeladen. Der Kollege selbst war nicht verheiratet. Und hatte weitaus besseres zu tun, als sich über Ehe und Kinder Gedanken zu machen.

Bobby seufzte. Als ob sie nicht schon genug Probleme hätte. Billy hingegen verstand nur Bahnhof. In dieser Nacht schlief Hasso wohl oder übel auf der Couch. Und hatte Zeit über alles nachzudenken.
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Kapitel 5

Beitrag von Andrea1984 »

Gleich nach dem Frühstück am nächsten Morgen brachen Bobby und Billy Richtung Immenhof auf. Hasso kümmerte sich um die Kinder und nahm sie auf dem Weg zur Arbeit in den Kindergarten mit. Er war noch immer ein wenig verstimmt, dass Bobby ihn ohne Grund verdächtigte fremd zu gehen, doch er ließ es sich nach außen hin nicht anmerken. Und verhielt sich so, als ob nichts gewesen wäre.

Auf dem Immenhof wurden Bobby und Billy von Stine empfangen: „Die gnädige Frau ist heute nach Lübeck gefahren. Und wird erst gegen Abend zurückkehren. Hier ist ein Brief für Sie gekommen, gnädiges Fräulein. In München abgestempelt. Der Brief liegt im Arbeitszimmer Ihres Vaters.“
Seit Bobby mit Hasso verheiratet war, konnte es sich bei dem „gnädigen Fräulein“ nur noch um Billy handeln: „Ich schau‘ gleich nach, was in dem Brief drinnen steht. Schade, dass Dalli nicht hier ist.“

Stine ging nach oben und kümmerte sich dort um die Zimmer, die gesaugt und gelüftet werden mussten. Es war nicht allzu viel Arbeit. Doch Stine merkte, wie die Jahre langsam an ihr zehrten. Sie sehnte sich, ohne es jedoch zugeben zu wollen, nach Jugend: „Wenn ich doch einmal nur so jung wie die junge gnädige Frau und das gnädige Fräulein sein könnte. Dann ginge mir die Arbeit leichter von der Hand. Doch die alte gnädige Frau möchte niemanden hier einstellen; behauptet sie jedenfalls.“

Bobby ging dem Hausmädchen zur Hand und schüttelte die Bettdecke aus. Ein kalter Wind pfiff ums Haus: „Gemeinsam ist es leichter, Stine. Ich kenn‘ das von zu Hause aus gut. Die Kinder machen viel Arbeit. Doch ich könnte mir mein Leben nicht ohne meine Familie vorstellen. Weißt du weshalb?“
Stine schüttelte den Kopf, so dass ihre dunkelblonden Haare hin und her flogen: „Nee, gnädige Frau.“

Bobby legte die Bettdecke wieder zurück und klopfte das Kopfkissen zurecht. Stine wischte derweilen den Staub von den Möbeln. Bobby kippte das Fenster, um frische Luft hereinzulassen: „Ganz einfach. Weil ich gebraucht werde. Von meinem Mann und von meinen Kindern. Ole und du ihr werdet ihr gebraucht. Was ihr schon alles hier geleistet habt, dass geht auf keine Kuh – äh Pferdehaut mehr.“

Stine wurde rot bis über beide Ohren und meinte: „Aber gnädige Frau, sagen Sie doch das nicht.“
„Du hast dir das Lob mehr als redlich verdient.“, behielt Bobby das letzte Wort. „So nun schaue ich wieder nach Billy. Sie hat den Brief in der Zwischenzeit bestimmt schon geöffnet und gelesen.“
Stine fegte Dallis Schlafzimmer noch einmal gründlich aus und begab sich dann in die Küche.

Billy saß auf der Treppe und hielt den geöffneten Brief in den Händen. Bobby kam näher und erkundigte sich: „Wer hat dir geschrieben? Nathalie oder Ethelbert? Oder jemand anderer?“
„Du hast Recht. Der Brief ist von Nathalie. Sie schreibt, dass sie mich schrecklich vermisst.“, antwortete Billy. „Ich bin damals sehr plötzlich aus Bayern weggegangen, ohne mich zu verabschieden. Das trägt Nathalie mir offenbar immer noch nach. Ich kann’s ihr nicht verdenken.“

Im nächsten Augenblick steckte Billy den zusammengefalteten Brief in ihre Jackentasche: „Ich frag‘ Ole, ob er bei der Stallarbeit eine Hilfe benötigt. Er ist ja bekanntlich nicht mehr der Jüngste.“
„Aus dem gleichen Grund hab‘ ich Stine vorhin geholfen.“, schmunzelte Bobby. „Wir sollten mal mit Dalli in Ruhe darüber reden. Die Arbeit wird nicht weniger, doch Dalli fordert Stine und Ole sehr.“

Gesagt – getan. Billy half beim Ausmisten und beim Polieren der Sättel mit. Ole zeigte sich erfreut. Zum einen über Billys Rückkehr und den neuen Haarschnitt – „jetzt kann ich euch endlich einmal auseinander halten.“ – zum anderen auch über die Hilfe: „Das tut meinen alten Knochen gut, wenn sie geschont werden. Was die Seejungfrau bisweilen von Stine und mir verlangt, es ist unglaublich.“

Billy hörte geduldig zu, während sie die Einstreu in die Boxen verteilte. Und nickte gelegentlich. Was Ole da erzählte klang nicht gerade erfreulich. Doch nur Dalli alleine konnte daran etwas ändern. Sie war, wie Ole es sich ausdrückte hier „der Boss“. Ihr gehörte der Immenhof schon seit vielen Jahren.
„Und Vati hat da nichts mitzureden?“, erkundigte sich Billy und trug den schweren Sattel von Rasputin hinüber in die Sattelkammer. Ole lehnte an der Boxentüre: „Der ist ja kaum noch hier. Und wenn dann nur in Begleitung von Fräulein Eversen. Ach übrigens: Hast du gewusst, dass sie ihr zweites Kind erwartet? Es soll im Juli das Licht der Welt erblicken. Man sieht es Fräulein Eversen inzwischen an.“

Vor lauter Wut und Enttäuschung hätte Billy den Sattel am liebsten gleich wieder fallen gelassen. Doch sie konnte sich gerade noch zurückhalten. Und berichtete Bobby, noch vor Dallis Rückkehr gegen Mittag, davon: „Was sagst du dazu? Ich hätte nie gedacht, dass Vati sich so vergessen kann.“
Bobby zuckte mit den Schultern: „Uns steht kein Urteil darüber zu. Vati muss wissen, was er tut.“
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Kapitel 6

Beitrag von Andrea1984 »

Zur gleichen Zeit als Stine das Mittagessen vorbreitete, Bobby und Billy es sich im Wohnzimmer gemütlich machten und Henny und Chrissy mit dem Bus von der Schule nach Hause kamen, unterrichtete Dalli an der Volkshochschule in Lübeck. Der Englisch-Kurs ging über zwei Semester.

Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen stammten aus vielen unterschiedlichen Gesellschaftsschichten. Von Jugendlichen, die nur an diesem Kurs teilnahmen, weil er ihnen von Arbeitsmarktservice als „Beschäftigungstherapie“ vorgeschrieben worden war, bis hin zu dem alten Ehepaar, dass nach mehr als 40 Jahren Ehe ins Ausland reisen und daher seine Sprachkenntnisse unbedingt verbessern wollte.

Im Kurs war die Anredeform gleich am ersten Tag von Dalli festgelegt worden: Zwar siezten sich die Teilnehmer einerseits, nannten sich jedoch andererseits beim Vornamen, was eine vertrauliche Atmosphäre schaffte. Auch die sonst so aufmüpfigen Jugendlichen hatten damit kein Problem. Im Gegenteil. Sie fühlten sich geschmeichtelt und ernst genommen, als außerhalb des Kurses.

Dalli war sehr großzügig. Sie erlaubte den Teilnehmern so ziemlich alles, solange im Kurs selbst englisch gesprochen wurde. Der lange Thomas, knapp sechzehn, nahm ein Buch mit und las es in der Mittagspause. Es war nicht irgendeines, sondern der Klassiker „Vom Winde verweht“ im Original also „Gone with the wind“. Thomas hatte oft große Schwierigkeiten damit den Text zu verstehen. Doch es half ihm sehr, dass Dalli jederzeit um Rat wegen eines Wortes oder dem Inhalt fragen konnte.

Thomas‘ Banknachbarin Elisabeth genannt „Ella“, ebenfalls sechzehn Jahre alt, kaute nur Kaugummi und trug eine Baseballmütze. Warum auch nicht. Dalli sah einfach darüber hinweg. Zudem sprach Ella, nach inzwischen knapp sechs Monaten, schon recht gut englisch. Und half auch gerne den anderen z.B. dem alten Ehepaar Hofer, welches jeden Pfennig auf die große Weltreise sparte.

Im Juni fand die Abschlussprüfung statt. Schon jetzt lernten die Teilnehmer eifrig dafür. Sie hatten – wie sie unabhängig voneinander immer wieder betonten – ja auch sonst nichts anderes zu tun. Wobei Abschlussprüfung ein bisschen übertrieben war. Und aus zwei Teilen – einem schriftlichen und einem mündlichen – bestand. Die Fragen des schriftlichen handelten von dem gesamten Stoff des Kurs, im mündlichen wurde über aktuelle Geschehnisse aus verschiedenen Bereichen z.B. Kunst, Kultur, Sport, Politik etc. geplaudert. Dalli unterschrieb anschließend das Zeugnis und stempelte das jeweilige Datum darauf. Das Zeugnis hatte allerdings mehr einen symbolischen als einen wirklichen Wert. Gewiss, es war schon echt mit Siegel , nur für eine berufliche Weiterbildung brachte es fast gar nichts.

Dalli erfuhr aus den mitgebrachten Unterlagen und aus den im Kurs geführten Gesprächen viel über die Teilnehmer. Doch sie hütete sich, etwas davon in der Öffentlichkeit preiszugeben. Die Teilnehmer wussten diese zu schätzen. Und vertrauten Dalli bisweilen auch sehr private Details – auf englisch – an. In anderen Kursen ging es nicht halb so locker und unformell zu. Darüber wusste Dalli Bescheid.

„Brigitte....“, Thomas hob die Hand. „.... darf ich auf Toilette gehen?“
Dalli nickte verständnisvoll, während sie einige Unterlagen auf ihrem Pult hin und her schob : “Ja, Thomas. Komm sobald wie möglich zurück. Wir brauchen dich hier. Bitte: Rauche nicht auf der Toilette.”
Die anderen Teilnehmer lachten oder grinsten. Wieder andere klatschten Beifall. Es war allgemein bekannt, dass Thomas ab und zu eine Zigarette rauchte. Aber er sprach nicht offen darüber, sondern suchte stattdessen einen Vorwand, um den Kurs für ein paar Minuten verlassen zu können.

Herr Hofer las eine englische Zeitung, seine Frau strickte ein Paar Socken. Ella kramte in der Tasche nach dem nächsten Kaugummi. Thomas verließ hastig den Raum, ohne seine Zigaretten mitzunehmen. Also hatte er sie dieses Mal ausnahmsweise nicht gebraucht. Dalli stand kurz auf. Und öffnete das Fenster. Schon kamen die ersten Proteste, alles auf englisch, dass es zu kalt draußen sei.

Dalli erklärte den Teilnehmern, ebenso auf englisch, dass frische Luft gut für die Konzentration sei und bisweilen sehr weiterhelfen könne. Herr Hofer blätterte die Zeitungsseite um. Und nickte zustimmend. Dann entdeckte er auf der Zeitungsseite ein großes ungelöstes Kreuzworträtsel. Einige Wörter waren einfach. Doch andere sehr knifflig. Ella ging hin und half ihm gerne dabei. Gemeinsam schafften sie es, das Kreuzworträtsel zu lösen. Frau Hofer strickte in der gleichen Zeit die Socken endlich fertig.

Um 17 Uhr war der Kurs zu Ende. Er fand jeden Werktag von 9 bis 17 Uhr, inklusive einer Mittagspause von 13 bis 14 Uhr, statt. Dalli verabschiedete sich von den Teilnehmern und ging zu ihrem Wagen. Heute hatte sie es endlich geschafft nicht an ihre Probleme mit Alexander zu denken.
Zuletzt geändert von Andrea1984 am Di 01.Mär.2016 21:59, insgesamt 1-mal geändert.
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Kapitel 7

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Dalli achtete nicht auf die Umgebung, während sie den Motor anließ, den Wagen wendete und auf die Hauptstraße hinausfuhr. Frau Hofer, deren Wagen direkt neben dem von Dalli stand, runzelte die Stirn: „Ist dir das auch aufgefallen, Waldemar? Es ist etwas ganz Wichtiges, so glaub‘ mir doch.“
Herr Hofer, der bereits im Auto saß, brummelte in seinen nicht vorhandenen Bart: „Was soll mir den aufgefallen sein, abgesehen davon, dass Frau Arkens fährt, als ob der Teufel hinter ihr her wäre.“

Frau Hofer stieg ein und legte den Sicherheitsgurt an. Dann warf sie einen Blick in den Außenspiegel: „In einem Punkt bist du auf dem richtigen Weg. Es hat tatsächlich etwas mit Frau Arkens zu tun. Sie trägt ihren Ehering nicht mehr. Darauf hab ich auch schon in der vorigen Woche genau geachtet.“
Herr Hofer drehte den Zündschlüssel herum: „Ja und wenn. Was geht uns das an, ob Frau Arkens nun verheiratet, verwitet oder geschieden ist. Sie leitet den Kurs gut. Nur das ist für mich wichtig.“

Eine Weile diskutierten die beiden noch darüber, ob und wenn ja wie relevant das nun sei. Doch Frau Hofer hatte Recht. Dalli, die sich inzwischen auf der Autobahn befand, trug ihren Ehering schon eine geraume Zeit nicht mehr. Er passte er gewiss noch, das war nicht das Problem. Sondern vielmehr die Pietät. Dalli wollte sich – nach all dem was vorgefallen war – nun entgültig von Alexander scheiden lassen. Doch solange er die Scheidungsurkunde nicht unterzeichnet hatte, war diese ungültig.

Inzwischen hatte das Wetter umgeschlagen. Dichte Wolken zogen auf. Und schon bald prasselten die ersten Regentropfen vom Himmel. Nur ungern schaltete Dalli die Scheibenwischer ein und verringerte die Geschwindigkeit. Auf der Gegenfahrbahn überholte ein junger Mann einen Lastwagen. Noch waren die Straßen halbwegs trocken. Plötzlich blickte Dalli erschrocken auf die Tankanzeige.

„Mist, wieso hab‘ ich gestern auf das Tanken vergessen. Sowas Blödes kann auch nur mir passieren. Hoffentlich reicht das wenige Benzin gerade noch, bis ich heil auf dem Immenhof angelangt bin.“
Mit dem letzten Tropfen Benzin im Tank steuerte Dalli den Parkplatz einer einer Raststation an. Leider war die dort befindliche Tankstelle an diesem Tag schon geschlossen. Dalli stellte den Motor ab.

„Vielleicht kann ich von der Raststation aus telephonieren. Stine macht sich bestimmt Sorgen, weil ich noch nicht zu Hause bin.“, mit diesen Worten stieg Dalli aus dem Wagen, nahm ihre Handtasche mit und ging hinüber zur Raststation. Hinter der Theke saß ein alter Mann, der zwar freundlich war, jedoch auf Dallis Bitte hin mit dem Kopf schüttelte: „Unser Telephon ist leider kaputt. Sie müssen hier warten.“

Dalli setzte sich an einen der Tische und bestellte sich einen starken Kaffee. Nun war guter Rat teuer. Plötzlich rief eine Stimme: „Brigitte, was machen Sie hier? Wie geht es Ihnen? Kann ich Ihnen helfen?“
Erschrocken blickte Dalli auf: „Henning, wie schön, Sie wiederzusehen. Bitte nehmen Sie doch Platz. Ja, Sie können mir helfen. Ich habe kein Benzin mehr im Tank. Und kann hier nicht telephonieren.“

Henning Holm klappte den nassen Schirm zusammen und zog den Mantel aus: „Nun trinken Sie erstmal in Ruhe Ihren Kaffee. Mit Hast erreicht man gar nichts. Ich werde sehen, was ich tun kann.“
Dalli nippte an dem heißen Getränk, welches ihr im Augenblick gut tat. Eigentlich sollte sie ja am Abend keinen Kaffee mehr trinken, sonst konnte sie in der Nacht nicht schlafen. Aber was machte es.

Henning bestellte sich einen Grog: „Den brauch‘ ich nach so einem harten Arbeitstag einfach.“
„Ich komme auch gerade von der Arbeit.“, verriet Dalli, während sie eine Zigarette aus der Jackentasche kramte. „Nämlich von einem Englisch Kurs in Lübeck, den ich selbst leite.“
„Das ist ja interessant. Ich hab‘ diese Sprache nie wirklich richtig gelernt. In der Schulzeit ist es nur schwer möglich gewesen. Und später ebenso wenig“, meinte Henning dazu, während er sich setzte.

Auch ihm war aufgefallen, dass Dalli ihren Ehering nicht mehr trug. Doch Henning war taktvoll genug, dieses Thema nicht anzuschneiden. Wer weiß wie Dalli darauf reagiert hätte. Gar nicht auszudenken.
Der alte Mann brachte den Grog und legte auch gleich die Rechnung auf den Tisch. Nur wenige Kunden saßen in der Raststation. Henning lud Dalli ein, wenngleich sie dagegen protestierte.

„Wir sollten langsam aufbrechen. Ich hab‘ ein Abschleppseil hinten im Kofferraum. Damit hängen wir Ihren Wagen einfach an den meinigen dran. Was halten Sie davon, Brigitte?“
Dalli war zu erschöpft und nickte wortlos mit dem Kopf. Mit vereinten Kräften schafften sie es die beiden Wagen zusammenzuhängen. Dalli hätte am liebsten geschlafen, doch sie musste Henning den langen Weg zum Immenhof genau ansagen. Mit einem vorwurfsvollen Blick standen Stine, Bobby und Billy in der Türe. Henning trennte die Wagen voneinander und verabschiedete sich hastig von Dalli.
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Andrea1984
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Kapitel 8

Beitrag von Andrea1984 »

Billy und Bobby schrieben nach wie vor regelmäßig Tagebucheinträge. Wenngleich Billy dazu mehr Zeit als ihre Zwillingsschwester hatte. Bobby kam oft mehrere Tage hintereinander nicht zum Eintragen, weil sie sich um ihre Familie kümmern musste. Da war es nur schwer möglich einige freie Minuten zu finden. Billy hingegen wusste in diesen Tagen gar nicht, was sie zuerst notieren sollte.

„30. 04. 1984

Dalli ist vor einigen Tagen von einem etwas älteren Mann nach Hause gebracht worden. Angeblich hat sie kein Benzin mehr im Tank gehabt. Nun ja, das kann passieren. Doch warum hat sie dann nicht gleich von einer Raststation aus angerufen. Andererseits ist dies nur schwer möglich, wenn das Telephon dort nicht funktioniert. Und dann kommt, wie aus dem nichts, dieser Mann, den Dalli offenbar gut zu kennen scheint. Er bringt sie heim, als ob das einfach so selbstverständlich wäre.

02. 05. 1984

Ich bin wieder zurück nach München gefahren. Nathalie hat mich sehr vermisst. Und Ethelbert auch. Hier gibt es viel zu tun. Pferde bereiten, Ställe ausmisten, mit den Kunden reden etc. Das Zimmer im Quartier steht mir nach wie vor zur Verfügung. Darüber freue ich mich sehr. Ein einziger Wehrmutstropfen fällt in mein Glück: Bobby ist viel zu weit weg. Für einen Urlaub nach München fehlen ihr zwei wichtige Faktoren: Geld und Zeit. Schade. Doch ich kann es leider nicht ändern.

10. 05. 1984

Als ob es nicht schon schlimm genug wäre, dass Dalli von einem fremden Mann auf den Immenhof gebracht worden ist. Vati und dieses Fräulein Eversen sind nach wie vor zusammen. Bald soll ihr zweites Kind das Licht der Welt erblicken. Wie kann Vati Dalli nur sowas antun. Ich hab‘ immer geglaubt, dass ihre Ehe glücklich sei. Und das ist sie ja eigentlich auch immer gewesen, soweit ich das als Außenstehende beurteilen kann. Bis ja, bis dieses Fräulein Eversen aufgetaucht ist. Ich hab‘ sie schon damals vor zehn Jahren nicht besonders gut leiden können. Bobby sieht das alles viel gelassener als ich und meint, dass wir uns aus Vatis Angelegenheiten besser heraushalten sollen. Sie redet sich leicht, wo Hasso so etwas nie tun würde. Ich hab‘ davon keine Ahnung - sowohl was das Verheiratet sein, als auch das Fremdgehen betrifft - , also halte ich lieber besser den Mund.

14. 05. 1984

Heute hat Nathalie Geburtstag. Ich weiß allerdings nicht genau den wievielten. Dabei kennen wir uns doch schon soviele Jahre lang, von meiner zweijährigen Pause einmal abgesehen. Wir werden heute Nachmittag an den Starnberger See fahren. Nathalie hat sich das von mir gewünscht. Ethelbert kommt auch mit. Dann bleibt eben das Gestüt für einen Nachmittag geschlossen. Die Pferde sind versorgt und wenn ein Notfall eintritt – was ich ehrlich gesagt nicht hoffe – nun so ist eben einer der Stallknechte da, welcher nach dem rechten sieht. Sozusagen das Pedant von Ole auf dem Immenhof.

28. 05. 1984

Ich bin in den letzten Tagen kaum zum Eintragen gekommen. Es gibt einfach zuviel Arbeit hier für mich. Doch sie macht mir Freude. So soll es ja auch sein. Bobby hat mir einen langen Brief geschrieben und darin einige interessante Neuigkeiten erwähnt. Unter anderem, dass Dalli sich nun von Vati scheiden lassen will, er jedoch die Papiere – aus welchen Gründen auch immer – noch nicht unterschrieben hat. Was soll das alles? Ich versteh‘ die Welt nicht mehr. Und bin ehrlich gesagt ratlos.

04. 06. 1984

Im Augenblick halte ich mich alleine auf dem Gestüt auf. Nathalie und Ethelbert sind nach München gefahren. Ja beide – obendrein mit Ethelberts teurem Auto. Das tun sie doch normalerweise um diese Jahreszeit, wo es hier soviel Arbeit gibt, nie. Irgendetwas ist daran seltsam. Ich komm‘ schon noch drauf, was dahintersteckt. Vielleicht haben Nathalie und Ethelbert auch Probleme, ähnlich wie Dalli und Vati. Oder es ist etwas mit dem Gestüt selbst. Was auch immer los ist, hoffentlich klärt es sich bald – so oder so – auf. Diese Ungewissheit ist ja nicht mehr zum Aushalten. Ich bin schon ganz aufgeregt, obwohl vielleicht gar kein Grund dazu besteht. Soeben läutet es an der Türe. Die ersten Kunden sind da, um die ich mich sogleich kümmern werde. Das ist meine wichtigste Pflicht hier.
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Kapitel 9

Beitrag von Andrea1984 »

Am frühen Abend kehrten Ethelbert und Nathalie aus München zurück. Kaum hatte Billy die Türe geöffnet, konnte sie Nathalie schon mehr schlecht als recht singen hören: „Vollbepackt mit tollen Sachen, die das Leben schöner machen.“ Und „Schön ist es auf der Welt zu sein, lalala lalala la.“
„Hier halte das mal.“, Ethelbert drückte Billy einige weiße Tüten in die Hand. „Da sind Lebensmittel drinnen. Wir haben heute Großeinkauf gemacht. Und gönnen uns heute einen leckeren Braten.“

Billy verstaute die Butter und die Milch im Kühlschrank, während Nathalie in einer roten Tüte kramte und etwas Interessantes herauszog: „Wie gefällt dir dieses Kleid? Was meinst du dazu, Billy?“
„Sag‘ jetzt nichts Falsches.“, warf Ethelbert grinsend ein, noch ehe Billy etwas antworten konnte. „Wir haben den ganzen Nachmittag gebraucht, um dieses Kleid zu finden. Schließlich trägt Nathalie ja sonst fast nur Jeans und Pullover. Doch ich hab‘ sie dazu überredet, etwas Schickeres zu tragen.“

Billy legte das Obst – Äpfel, Bananen und Kiwis – in die Obstschale und meinte dann zögernd: „Nun ja, das Kleid gefällt mir sehr gut. Es ist dunkelrot, dass passt hervorragend zu deiner Haarfarbe.“
„Passend dazu hab‘ ich mir silberfarbene Schuhe mit hohen Absätzen gekauft.“, plauderte Nathalie weiter. Sie war an diesem Tag ungewöhnlich gut gelaunt und nichts konnte sie so leicht erschüttern.

„Zu welchem Anlass wirst du es tragen?“, erkundigte sich Billy interessiert und verstaute die leeren Tüten in der Abstellkammer. Nathalie zuckte mit den Schultern: „Ich weiß es noch nicht genau.“ Und warf anschließend Ethelbert, welcher in der Küchentüre lehnte, einen liebevollen, ja geradezu zärtlichen Blick zu. Ethelbert wurde rot bis über beide Ohren. Billy bekam davon jedoch nichts mit.

Nach ein paar Augenblicken hatte sich Ethelbert wieder gefangen: „So nun raus mit euch beiden. Ich möchte den Braten gerne alleine zubreiten. Das ja wohl das Mindeste, was ich für euch tun kann.“
„Ich leg‘ schon mal die Telephonnummer der Feuerwehr bereit.“, neckte Billy und verließ hinter Nathalie die Küche. Schon machte sich Ethelbert gemäß des Kochrezepts frisch ans Werk.

„Was meint er damit, dass es das Mindeste ist, was er für uns tun kann.“, grübelte Billy auf dem Weg zum Esszimmer halblaut vor sich hin. „Ich verstehe momentan nur Bahnhof samt der Zugspitze.“
Nathalie antwortete: „Ethelbert schätzt es sehr, dass du wieder zurückgekommen bist und hart hier arbeitest. Abgesehen von dem Lohn möchte er dir gerne etwas gutes tun. So hat er sich bereit erklärt das Kochen für heute Abend zu übernehmen. Auch mir ist Ethelbert einen Gefallen nun ja schuldig.“

Billy wunderte sich darüber, war jedoch klug genug, nicht weiter nachzufragen und wechselte daher das Thema. Sie plauderte über die Kunden, welche an diesem Nachmittag gekommen waren und über die Pferde. „Bei Stella ist es bald soweit. Wer von uns hält die Nachtwache?“, fragte Billy.
Nathalie gähnte: „Ich bin müde. Und werde heute früh zu Bett gehen. Du bist noch jung, du wirst das schon schaffen. Falls es Schwierigkeiten bei Stella geben sollte, kannst du mich ja aufwecken.“

Stella war eine dunkelbraune Vollblutstute, die in diesen Tagen ihr erstes Fohlen erwartete. Sowohl für die Stute, als auch für das Fohlen hatten sich bereits Interessenten gemeldet. Doch Ethelbert gab die beiden Pferde nur gemeinsam weg. Er wollte, dass sie in gute Hände kamen. Und ließ sich daher bei einem Verkauf lieber etwas mehr Zeit, anstatt eine unüberlegte, hastige Entscheidung zu treffen.

Allmählich verbreitete sich ein köstlicher Bratenduft im ganzen Haus. Billy sprang hastig auf: „Ich deck‘ schon mal den Tisch. Ethelbert wird bestimmt gleich das Essen auftragen. Ich hab‘ Hunger wie ein Pferd nach einem Drei-Tage-Ritt. Und könnte durchaus einen ganzen Ochsen am Spieß verdrücken.“
Nathalie stützte den Kopf auf die Hände und blickte Billy nach: „Ich wäre auch gerne nocheinmal so jung. Wo sind die Jahre geblieben? Doch Schluss mit dem Selbstmitleid. Das alles ist endlich vorbei.“

Billy kam mit den Tellern und dem Besteck zurück. Dicht hinter ihr folgte Ethelbert, mit einer Kasserrolle in der Hand. Nathalie machte sich nun ebenfalls nützlich und legte eine Unterlage auf den Tisch. Vorsichtig stellte Ethelbert die Kasserrolle darauf. Dann holte er ein Messer, um das Fleisch anzuschneiden: „Wer von euch möchte den Bauch haben? Es ist genug für alle da.“

Nathalie plauderte zwar lebhaft mit Ethelbert, dennoch achtete sie auch auf Billy. Das junge Mädchen aß fast nichts. Dabei hatte Ethelbert sich große Mühe beim Zubereiten des Bratens gegeben. Und auch der Salat – rote Rüben – war durchaus in Ordnung. Als Nachtisch schlug Ethelbert einen Obstsalat vor, doch Billy und Nathalie schüttelten den Kopf. Nathalie stöhnte: „Ich bin pappsatt. Nichts geht mir in mich hinein. Den Obstsalat können wir ja morgen auch noch essen. Es eilt ja damit nicht.“
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Kapitel 10

Beitrag von Andrea1984 »

„Dafür mit etwas anderem umso mehr.“, erwiderte Ethelbert und blickte zwischen den beiden Frauen hin und her. Schließlich blieb sein Blick bei Nathalie hängen. „Ratet doch mal, wovon ich rede.“
Billy zuckte vage mit den Schultern: „Meinst du vielleicht den Berg schmutzigen Geschirrs, das wir abwaschen und abtrocknen müssen? Ansonsten fällt mir so auf die Schnelle nichts anderes ein.“

Ein paar Minuten später wusch Ethelbert alleine in der Küche das schmutzige Geschirr ab, während Billy und Nathalie im Jagdzimmer, welches sich im ersten Stock des Gutshauses befand, auf ihn warteten. Normalerweise war das Jagdzimmer für die Kunden und die anderen Praktikanten tabu, doch in Bezug auf Billy und Nathalie machte Ethelbert gerne eine Ausnahme. Hastig hatte er Nathalie den Schlüssel dazu, scheinbar beiläufig, in die Hand gedrückt und war dann in die Küche geeilt.

Billy machte es sich in einem Lehnstuhl bequem. Über ihrem Kopf hing ein ausgestopfter Geier, daneben ein ausgestopfter Auerhahn. Auf dem Fensterbrett gegenüber stand ein ausgestopfter Fuchs. „Wer hat diese Tiere hier hergebracht?“, erkundigte sich Billy interessiert bei Nathalie.
„Ich weiß es leider auch nicht. Vermutlich einer von Ethelberts Vorfahren oder jemand Fremder.“

Nathalie ging unruhig auf und ab. Dabei war in diesem Raum noch genug Platz um sich Niederzusetzen. Unter dem Fensterbrett befand sich eine große Couch, aus der bereits die Sprungfedern heraussahen und deren Überzug im Laufe der Jahre nach immerwährender Benutzung und nur geringer Auswechslung inzwischen eine undefinierbare Farbe angenommen hatte.

Nathalie blickte auf die Uhr und murmelte so leise, dass es Billy nicht verstand: „Vielleicht hätten wir Ethelbert ja doch helfen sollen. Dann wäre er früher zu uns gekommen. Doch es ist nicht zu ändern.“
„Setz‘ dich, bitte.“, schlug Billy vor. „Du machst mich nervös, wenn du so auf und ab gehst. Was auch immer Ethelbert uns sagen möchte, das kann durchaus noch ein wenig dauern, meinst du nicht auch.“

„Es ist etwas sehr Wichtiges und soll eigentlich nicht mehr warten.“, beharrte Nathalie, die ansonsten eher geduldig war – sowohl mit den Kunden, als auch mit den Pferden. Einige ließen sich leicht lenken, doch bei anderen half nur noch eines, nämlich die gute alte Methode: „Zuckerbrot und Peitsche.“ Billy runzelte die Stirn. Warum verhielt sich Nathalie an diesem Abend anders als sonst?

Zur gleichen Zeit kümmerte sich Ethelbert nach wie vor um das schmutzige Geschirr. Und ließ sich – zufällig oder absichtlich, wer wusste das so genau – Zeit. Mehr Zeit als sonst. Dabei bestand eigentlich kein Grund dieses Vorhaben, welches er schon seit langem geplant hatte, hinauszuzögern. Nathalie war einverstanden mit seinen Plänen. Und Billy – ja was würde sie wohl davon halten.

Ethelbert legte das Geschirrtuch beiseite. Dann begab er sich Richtung Jagdzimmer. Seine Knie zitterten bei jedem Schritt. Nein, das lag nicht daran, dass Ethelbert – wie es Oma Jantzen damals formuliert hatte – „alt und älter wurde“. Sondern an etwas ganz anderem. Wobei Ethelberts Alter (psst, nicht weitersagen: 45, im November 1984) in diesem Fall durchaus nicht ganz so unwichtig war.

„Heute werde ich es ihr sagen.“, nahm sich Ethelbert fest vor. „Auch wenn vielleicht nicht ganz der richtige Zeitpunkt dafür ist. Im Grunde genommen ahnt sie es ja schon längst. Ich hab‘ mir diese Entscheidung gründlich überlegt. Ja wirklich. Auch obwohl oder gerade weil mir niemand das zutraut. Besonders Dick und Dalli nicht. Sie staunen bestimmt, wenn sie eines Tages davon erfahren werden.“

Ethelbert kramte etwas Kleines aus seiner Jackentasche, das er vorhin bereits heimlich dort deponiert hatte. Dabei handelte es sich um einen schlichten, goldenen Ring, der im Schein der untergehenden Sonne glitzerte und funkelte. Ethelbert hatte hart gearbeitet, um sich diesen Ring leisten zu können. Ja gut, es war zwar noch die Erbschaft seiner Eltern da. Aber auf diese wollte Ethelbert auf keinen Fall zurückgreifen. Das viele Geld bedeutete ihm nichts. Er gönnte sich daher nur selten einen Luxus.

Langsam drückte Ethelbert die Türklinke nieder. Und knipste mit der anderen Hand das Licht blitzschnell aus. Erschrocken zuckte Billy zusammen. Doch Nathalie blieb ganz ruhig, abgesehen von ihrem laut klopfenden Herzen: „Komm‘ herein, Ethelbert. Ich weiß doch, dass du es bist.“
Schon näherte sich der Angesprochene und kniete vor Nathalie nieder: „Willst du mich heiraten?“

„Ja sehr gerne, Ethelbert.“, stammelte die sonst gar nicht auf den Mund gefallene Nathalie. Im nächsten Augenblick spürte sie etwas an ihrem rechten Ringfinger. Ethelbert gab Nathalie zunächst einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Erst der zweite Kuss traf auch ihre Lippen. Nathalie strahlte.
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Kapitel 11

Beitrag von Andrea1984 »

Auch Sigrid, die sich viele tausend Kilometer entfernt in Malente befand, strahlte. Nur noch wenige Wochen, dann sollte ihr zweites Kind gesund und munter das Licht der Welt erblicken. Bei den Utraschalluntersuchungen war das Geschlecht des Kindes nicht genau erkennbar gewesen, sodass die Ärztin im Scherz bei der vorigen Untersuchung gemeint hatte: „Es ist ein sehr unhöfliches Kind.“
„Wieso das denn?“, hatte Sigrid neugierig wissen wollen und den Kopf in die Richtung gedreht.
„Weil es uns ständig sein Hinterteil zudreht.“, hatte die Ärztin darauf schmunzelnd geantwortet.

Sigrid saß in einem Schaukelstuhl, den ihr jemand nach draußen getragen hatte, und versuchte, sich entspannt zurückzulehnen. Doch das war gar nicht so einfach. Neben ihr spielte der knapp zweijährige Paul im Garten. Er versuchte den Schmetterlingen nachzulaufen, die ständig um seinen Kopf herum flatterten. Der Garten war durch einen Zaun abgegrenzt, es konnte also nichts Schlimmes passieren.

Die Idylle wurde plötzlich unterbrochen. Friedrich, Sigrids Vater, stand in der Türe: „Sigrid. Telephon für dich. Kommst du bitte herein. Ich kann ja kurz nach Paul schauen, das geht schon in Ordnung.“
Mühsam erhob sich Sigrid, watschelte ins Haus. Dann nahm sie den Hörer ab und nannte ihren Namen. Wer konnte es nur sein, der um diese Tageszeit anrief? Normalerweise hatten doch die meisten Leute am Vormittag keine Zeit für private Telephonate. Die Arbeit war viel wichtiger.

„Opa, Opa.“, rief derweilen Paul und stolperte auf Friedrich zu. Dieser nahm ihn lachend hoch.
„Du bist schon wieder gewachsen, seit ich dich das letzte Mal gesehen hab‘. Und zugenommen hast du auch.“, scherzte Friedrich. Er hätte sich nie träumen lassen, dass dieser kleine Junge sein Herz so rasch eroberte. Wenn ja, wenn da nicht noch ein großer Wehrmutstropfen gewesen wäre.

Pauls Eltern waren nicht verheiratet. Nun, das mochte noch angehen. Doch was schwerer wog: Sigrid hatte es mit List und Tücke geschafft, die einstmals so glückliche Ehe zwischen Dalli und Alexander zu zerstören. Alexander war Pauls Vater und auch der des noch ungeborenen Kindes. Das hatten Bluttests eindeutig ergeben. Nun saß Alexander bis über beide Ohren in der Tinte. Dennoch konnte er sich noch nicht zu einer Scheidung von Dalli durchringen, wenngleich ihm die Papiere bekannt waren.

Sigrid war sehr ehrgeizig. Und wusste genau, was sie wollte. Mit vielen Tricks hatte sie Alexander um den Finger gewickelt, so dass er nun bei ihr bleiben musste, ob er es wollte oder nicht. Zudem waren ja auch noch die Kinder da. Kein Wort davon, dass Alexander versuchte, sich um Bobby, Billy, Henny und Chrissy zu kümmern, von denen besonders Chrissy ihm äußerlich und charakterlich sehr ähnelte.

Nach dem Telephonat hängte Sigrid den Hörer auf die Gabel und lehnte sich für einen Augenblick erschöpft gegen die Wand. An diesem Tag war es ungewöhnlich warm. Sigrid strich mit den Fingern behutsam über die Bauchdecke. Wenige Augenblicke später kam als Antwort ein zartes Pochen.
„Ich bin überzeugt davon, dass auch du ein Junge bist.“, murmelte Sigrid. „Warum zeigst du dich nicht einfach, so wie es dein Bruder getan hat? Ich hasse es, noch sechs Wochen lang darauf zu warten.“

„Ist alles in Ordnung?“, rief Friedrich von draußen. Die Türe nach drinnen stand weit offen.
„Ja, mir geht es gut. Und dem Baby auch.“, langsam ging Sigrid wieder nach draußen. Und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Wenn ich nur wüsste, welchen Namen ich ihm geben sollte.“
Friedrich kniete auf dem Terrassenboden und ließ seinen Enkel auf seinem, breiten Rücken reiten.

„Lauf, lauf.“, schrie Paul immer wieder. Im nächsten Augenblick jauchzte er vor Freude. Schade, dass Friedrich keine Haare mehr hatte. Paul verfügte über eine blühende Phantasie. Er stellte sich einfach ein Pony ohne Mähne vor, obwohl die Ponys und Pferde auf dem Immenhof schöne, lange Mähnen hatten. Ja Sigrid war einmal mit Paul auf dem Immenhof gewesen, um Alexander zu besuchen.

„So nun ist aber Schluss mit dem Vergnügen.“, griff Sigrid nach einer Weile ein und unterbrach das muntere Reiterspiel mit folgenden Worten. „Weißt du Paul, der Opa ist schon alt. Er braucht seinen Mittagsschlaf. Und du auch. Komm‘ ich trag‘ dich in dein Bettchen. Oder soll das der Opa machen?“
Paul kletterte von Friedrichs Rücken und meinte ganz spontan: „Opa soll das machen. Bitte, Opa.“

„Na dann komm.“, mit diesen Worten ging Friedrich nach drinnen. Paul umklammerte fest seine Hand. Sigrid nahm wieder im Schaukelstuhl Platz. Auf dem Tisch daneben stand ein Glas Mineralwasser. Das löschte den Durst bei dieser Hitze besser als jedes andere Getränk. Sigrid nippte kurz davon. Und blickte im nächsten Augenblick auf die Uhr: „Wo bleibt Alexander nur? Ich hab‘ ihm extra gesagt, dass er heute hierher ins Forsthaus kommen soll. Es ist sehr wichtig. Und kann nicht ewig warten.“
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Kapitel 12

Beitrag von Andrea1984 »

Alexander wusste genau, dass Sigrid auf ihn wartete. Doch er hatte leider keine Zeit ins Forsthaus zu kommen. Zum einen türmte sich ein Stapel ungelesener Briefe auf dem Schreibtisch – einige Firmen, aber auch einige private Absender wussten offenbar nicht, dass Alexander längst die Adresse gewechselt hatte und fortan unter der des Forsthauses zu erreichen war. Und zum anderen meldete sich (besser spät als nie) die Stimme des schlechten Gewissens bei dem ehemaligem Gutsbesitzer.

„Ich hätte mich niemals mit Sigrid einlassen dürfen. Niemals.“, murmelte Alexander vor sich hin, während er am Schreibtisch saß und scheinbar das Muster der Holzvertäfelung anstarrte. „Aber nun ist es zu spät. Dalli verzeiht mir mein Verhalten nie. Vor der Ehe fremdgehen, ja das ist was anderes. Zudem ist Dalli sicher auch keine Heilige. Neulich trifft sie sich immer wieder mit diesem Herrn Holm.“

Alexander konnte nicht wissen, dass Dalli in Henning Holm lediglich einen Freund sah. Langsam stieg das Gefühl der Eifersucht bei dem ehemaligem Gutsbesitzer auf. Dabei hatte er doch gar keinen Grund dazu. Alexander stopfte sich die Pfeife und nahm einen tiefen Zug: „Verdammt, warum musste das ausgerechnet mir passieren. Hätte ich nur mit meiner Mutter in Ruhe über alles gesprochen.“

Alexander stand auf, legte die Pfeife beiseite und ging hinüber zum Fenster. Draußen blühten die Pflanzen. Ole mähte soeben den Rasen. Die Ponys standen auf der Weide. Scheitan und Rasputin fochten, wie schon oft, Kämpfe aus, wer von den beiden der Stärkere war. Stine ging über den Hof. Ihre Holzpantoffeln klapperten laut. In den Händen trug das Hausmädchen einen vollen Wäschekorb.

Wo Dalli sich aufhielt wusste Alexander nicht. Er hätte durchaus Ole oder Stine danach fragen können. Doch die beiden waren im Augenblick zu beschäftigt, um dem „Chef“, wie sie ihn hinter seinem Rücken nannten, Auskunft zu geben. Dallis gelbes Cabrio stand neben der Garage. Ole hatte den Wagen erst heute Morgen frisch gewaschen. Einige Tropfen glänzten in der Mittagssonnen.

„Sonnig ist es damals auch gewesen. An einem der wichtigsten Tage in meinem Leben.“, murmelte Alexander in seinen Drei-Tage-Bart. Und errötete bei dem Gedanken daran. Ja er hatte Dalli geliebt, wirklich geliebt, doch inzwischen waren sie, besonders nach der Affäre mit Sigrid, nur noch auf dem Papier Mann und Frau. Alexander erinnerte sich sehr gut den Hochzeitstag: 04. November 1974.


„Aufstehen, Liebling. Heute werden wir endlich Mann und Frau.“, mit diesen Worten, sowie einem sanften Kuss versuchte Alexander Dalli, welche neben ihm tief und fest schlief, aufzuwecken. Tatsächlich, es funktionierte. Dalli räkelte sich genüsslich: „Guten Morgen, Alexander. Ja ist es soweit. Ich bin schon ganz aufgeregt. Hoffentlich passt mir das Brautkleid, welches Stine extra für mich genäht hat. Dazu noch der alte Brautschleier deiner Mutter, sowie die neuen Schuhe.“

Dalli und Alexander fanden nichts dabei, das Bett schon vor der Hochzeit miteinander zu teilen. „Wir leben im 20. Jahrhundert.“, waren sich die beiden einig, wann immer sie darauf angesprochen wurden. „Zu dem ist uns die Meinung der Leute aus dem Dorf relativ egal. Einzig unsere Liebe zählt.“
„Ich geh‘ hinüber und weck‘ die Zwillinge auf.“, meinte Dalli, während sie aus dem Bett stieg.

Alexander nickte. Und verschwand im Badezimmer. An diesem Morgen rasierte er sich besonders sorgfältig. Noch ehe er damit fertig war, klopften Bobby und Billy schon an die Türe: „Va ..., rief Bobby laut und Billy ergänzte nicht minder leise „ti .... wir müssen rein. Es ist wirklich sehr,sehr dringend.“
„Nun lasst doch euren Vater in Ruhe.“, ermahnte die Zarin streng, welche alles mitbekommen hatte.

Dalli nahm die Zwillinge bei der Hand und versuchte, sie mit freundlichen Worten zu überzeugen: „Geht doch einfach rüber ins Gästebad. Euer Vater braucht sicher noch länger zum Rasieren.“
„Das ist eine gute Idee.“, meinte Billy. „Warum sind wir bloß nicht selbst darauf gekommen.“
Kichernd verschwanden Bobby und Billy im Gästebad, während Dalli bereits nach unten ging.

Stine bereitete das Frühstück zu: „Guten Morgen, gnädige Frau. Wie geht es Ihnen heute?“
„Mir geht es ausgezeichnet. Nein danke, ich möchte keinen Kaffee und auch keine Brötchen. Mir kommt es vor, als hätte ich Schmetterlinge gefrühstückt, die in meinem Magen auf und ab flattern.“
Stine stellte den Brotkorb auf den Tisch: „Aber Sie müssen doch etwas essen, gnädige Frau. Nicht dass Sie plötzlich vor dem Altar umkippen. Was sollen wir dann tun? Ich kann Ihnen nicht helfen.“

Dalli nahm zwar schon Platz, wartete aber dennoch bis die anderen zum Frühstück herunterkamen.
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Kapitel 13

Beitrag von Andrea1984 »

Alexander strahlte über das ganze Gesicht und auch die Zwillinge freuten sich. Endlich war der Tag, auf den sie schon so lange gewartet hatten. Nach einer kleinen Lappalie im Frühjahr vertrugen sich Dalli und Alexander wieder bestens. So war es schließlich gekommen, dass Alexander Dalli einen Heiratsantrag gemacht hatte. Und dieser – wie selbstverständlich – angenommen worden war.

Alexander hatte viele Jahre als Witwer gelebt, sich aber nie so einfach entschließen können noch einmal zu heiraten. „Nur damit die Zwillinge wieder eine Mutter haben; deshalb brauch‘ ich doch nicht vor den Altar zu treten.“, hatte er zu sagen gepflegt, wenn jemand in seiner Gegenwart auf dieses Thema zu sprechen gekommen war. „Ich will nur die Frau heiraten, die ich wirklich liebe und, was noch viel wichtiger ist, die auch meine Kinder liebt. Bobby und Billy sind ein Teil meines Lebens.“

In diesem Augenblick saßen die beiden schwatzend und lachend am Tisch. Natürlich trugen sie die gleiche Kleidung, wie sollte es auch anders sein. Alexander kannte den Trick und wusste, wie er Bobby und Billy auseinanderhalten konnte. Bobby hatte einen Leberfleck hinter dem linken Ohr. Dalli hingegen brauchte diese Information nicht, wie sie Alexander einmal anvertraute hatte: „Ich verlasse mich auf meine Intuition. Vom ersten Augenblick an hab‘ ich die Zwillinge ins Herz geschlossen, als ob sie meine eigenen, leiblichen Kinder wären. Man sagt ja, dass derjenige, welche beide mag – ja später auch liebt – sie auseinanderhalten kann, ohne auf äußerliche Merkmale achten zu müssen.“

„Oh ti .....“, seufzte Billy, während sie sich hastig etwas Tee nachschenkte. „Müssen Bobby und ich heute am Vormittag wirklich noch zur Schule gehen? Schließlich heiratest du ja nicht alle Tage.“
Alexander biss gerade in sein Brot und konnte daher nur schwer antworten. Die Zarin kam ihm zu Hilfe: „Ja es ist leider so. Das verlangt die Schulvorschrift von euch. Ihr seid minderjährig, also müsst ihr euch den Gesetzen richtigen. Bei der standesamtlichen Trauung versäumt ihr gewiss nichts.“

„Das weiße Kleid und den Schleier werde ich sowieso erst am Nachmittag in der Kirche tragen.“, ergriff nun Dalli das Wort. „Bei der standesamtlichen Trauung ist ein schlichtes zweiteiliges Kostüm passender. Nur wenige Leute werden es zu Gesicht bekommen. Ja der Standesbeamte, euer Vater, eure Großmutter – als seine Trauzeugin – und mein Cousin Ethelbert – als mein Trauzeuge. Ethelbert ist heute Früh aus München aufgebrochen und fährt mit dem Zug hierher. Genau wie damals.“

„Kostüm ist gut.“, grinste Bobby. „Wir haben noch gar nicht Fasching, der beginnt erst am 11. 11.“
Dabei wusste sie natürlich genau, wie auch Billy, was in diesem Fall, mit Kostüm gemeint war.
Alexander blickte auf die Uhr: „Ihr müsst jetzt losfahren, nicht dass ihr zu spät zur Schule kommt.“
Die Zwillinge erhoben sich und stellen noch eine wichtige Frage: „Womit sollen wir denn fahren?“

„Mit dem Bus natürlich.“, bestimmte Alexander. „Die Pferde und die Kutsche werden hier gebraucht.“
Billy und Bobby packten ihre Sachen zusammen. Dann gaben sie Dalli, sowie Alexander und der Zarin einen hastigen Abschiedskuss und liefen los. Bekanntlich wartete der Bus ja nicht. In so einem kleinen Dorf fuhr er leider nur jede Stunde, anstatt wie in einem größeren Dorf jede Halbe oder Viertelstunde.

„Oh diese Kinder.“, meinte die Zarin halb im Spass, halb im Ernst, als sie beobachtete, wie Bobby und Billy durch das große Torhaus vorbei an den Weiden und dem Stall eilten. „Sie lernen es einfach nie.“
Stine deckte den Tisch wieder ab, während Dalli und Alexander das Speisezimmer verließen.
Obwohl es bereits Herbst war, schimmerte die Sonne zwischen den großen Bäumen hindurch.

Alexander trug noch seine gewöhnliche Kleidung. Einen grauen Pullover und hellblaue Jeans. Doch binnen weniger Minuten musste er sich umkleiden. Und in einen Anzug zwängen, den er so gar nicht mochte. Aber das gehörte nun einmal dazu. Im ersten Stockwerk trennten sich die Wege von Dalli und Alexander, jedoch nur für einigen Augenblicke. Dalli kleidete sich im Zimmer der Zwillinge um, Alexander im Badezimmer, wo es noch nach Rasierwasser und einem milden Shampooduft roch.

Alexander blickte in den Spiegel. Die Krawatte saß schief. Aber niemand kam, um ihm dabei zu helfen, sie richtig zu binden. Alexander riss sich die Krawatte wieder herunter: „Ich kann schlecht meine Mutter oder Dalli bitten. Vielleicht noch Ole, er könnte durchaus etwas davon verstehen.“
Alexander öffnete das Fenster. Und hatte Glück. Ole war auf dem Weg zum Stall. Alexander rief nach ihm und bekam sogleich eine Reaktion darauf. Wenige Minuten später war Ole schon zur Stelle.

„Ich mach‘ das doch gerne für Sie, gnädiger Herr.“, meinte der Knecht und band die Krawatte mit flinken Fingern. „So nun sitzt die Krawatte an Ort und Stelle. Ich geh‘ dann mal wieder nach unten.“
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Andrea1984
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Kapitel 14

Beitrag von Andrea1984 »

„Warte noch kurz.“, bat Alexander, während er die Knöpfe des weißen Hemdes schloss. „Ich möchte dich etwas Wichtiges fragen. Wir kennen uns viele Jahre lang. Ich weiß, dass ich dir vertrauen kann.“
Ole zögerte mit der Antwort und meinte nach einer kurzen Pause dann: „Nun ja, wenn es wirklich wichtig ist, können Sie es mir gerne anvertrauen, gnädiger Herr. Aber ich denke, mit Verlaub, für diese Frage ist doch eher die gnädige Frau die richtige Ansprechparterin. Sie wartet unten im Salon.“

Alexander schlüpfte in seinen Anzug. Und ging nach unten Richtung Salon. Wie Ole es vorausgesagt hatte, saß dort die Zarin auf dem Sofa: „Bitte nimm Platz, Alexander. Was hast du auf dem Herzen?“
„Ich bin unsicher.“, gestand ihr Sohn, dessen Wangen sich leicht röteten. „Zum ersten Mal in meinem Leben frage ich mich: Ist es wirklich die richtige Entscheidung, genau hier und heute zu heiraten? Wenn es die falsche sein soll, kann ich sie nicht so einfach wieder rückgängig machen? Zu dem habe ich Zweifel: Liebt Dalli mich wirklich oder lediglich deshalb, weil ich der Pächter des Immenhofs bin?“

Die Zarin bewahrte Haltung. Geschickt unterdrückte sie ein Lächeln. Alexander hatte sich diese Fragen bislang noch nie gestellt. Vieles war für ihn selbstverständlich gewesen. Das Verlassen der alten Heimat, der Umzug nach Malente, das Pachten des Immenhofs über die Liegenschaftsverwaltung in Hamburg. Aber jetzt nagte und bohrte das Gefühl der Unsicherheit in Alexander. Die Zarin ließ sich Emotionen nach außen hin nicht anmerken: „Nur Geduld. Mit der Zeit wird sich alles weisen. Brigitte und du ihr kennt euch inzwischen sehr gut, meinst du nicht auch?“

Alexander nestelte an seinen Hemdknöpfen herum und fuhr sich durch das lange blonde Haar: „Ein Jahr – das ist gar nichts. In so einer Zeit kann man einen Menschen nur schwer richtig kennenlernen.“
Die Zarin versuchte alles, um ihren Sohn zu beruhigen. Aber er konnte oder wollte ihr nicht zuhören.
„Nun reiss‘ dich bitte einmal zusammen, Alexander. Du heiratest ja schließlich nicht zum ersten Mal.“

Wieder hatte die Zarin das falsche Stichwort gegeben. Alexander ging hinüber zum Fenster und murmelte: „Womöglich liebt Dalli die Zwillinge mehr als mich und sieht in mir lediglich einen Ersatz für ihren frühverstorbenen oder verschollenen Vater. Ich bin ja bekanntlich nicht mehr der jüngste.“
Doch die Zarin hörte alles gut: „Lass es bleiben. Du musst da durch. Alles ist vorbereitet. Jetzt einen Rückzieher zu machen, wäre das schlechteste, was du tun kannst. Entspann dich. Es wird alles gut.“

Das war leichter gesagt, als getan. Alexander wischte seine schweißnassen Finger an einem Taschentuch ab: „Ist es eigentlich erlaubt, die Braut, noch vor der Trauung, im Kostüm zu sehen? Dalli hat sich bestimmt schon umgekleidet. Ich höre Schritte vor der Türe. Kann es sich um Dalli handeln?“
Im nächsten Augenblick betrat Stine den Salon: „Sie haben nach mir geläutet, gnädige Frau?“

„Bring‘ dem gnädigen Herren bitte ein Glas Wasser“, befahl die Zarin und stützte sich auf ihren Stock, um den Worten Nachdruck zu verleihen.“Das hilft, um seine angespannten Nerven zu beruhigen.“
Stine nahm den Auftrag wortlos entgegen und verließ den Salon. Alexander warf das zerknüllte Taschentuch in einen Mülleimer: „Du denkst einfach an alles, Mamá. Wasser ist gut für mich.“

Die Zarin erhob sich und ging auf ihren Sohn zu: „Was hab‘ ich dir früher alles beigebracht. Wie man sich wäscht, wie man sich anzieht und vor allem, wie man die Uhr liest. Wie spät ist es auf dieser?“
„09:00 Uhr.“, gab Alexander verwundert Auskunft. „Ich verstehe nicht, was du mir damit sagen willst.“
„Es sind noch über zwei Stunden bis zur standesamtlichen Trauung. Dies ist kein Grund aufgeregt zu sein. Wer weiß, wie sich Brigitte in diesem Augenblick fühlt. Für sie ist das alles neu und fremd.“

Alexander atmete tief durch. Langsam fiel die Nervosität von ihm ab: „Stimmt, das hätte ich doch beinahe vergessen. Ich muss unbedingt noch mit ihr reden, bevor wir zum Standesamt fahren.“
Stine brachte das Wasser, welches Alexander in einem Zug hinunterleerte und sich beinahe daran verschluckte. Hastig klopfte ihm das Hausmädchen auf den Rücken. Alexander hustete: „Danke, Stine. Es geht schon wieder. Das Wasser hat mir sehr geholfen. Mamá, du hast es richtig erkannt.“

Die Sonne warf ein Muster über die Möbel und den Kamin. Alexander wirkte sichtlich erleichtert. Er hatte mit seiner Mutter über alles wichtige geredet, das ihm auf dem Herzen gelegen war. Nun konnte er seiner zweiten Hochzeit mit einem guten Gewissen entgegen sehen. Der kleinen Flirt mit Sigrid Eversen im Frühjahr dieses Jahres hatte Alexander längst vergessen. Er ahnte jedoch nicht, dass Sigrid eine schlechte Verliererin war und eine gewisse Hartnäckigkeit zu ihren Stärken gehörte.
„So leicht gebe ich nicht auf.“, murmelte Sigrid, nachdem sie von der Bekanntgabe des Aufgebotes in der Zeitung gelesen hatte.“Warte nur ab. Du wirst noch dein blaues Wunder erleben, Alexander.“
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Kapitel 15

Beitrag von Andrea1984 »

Nicht nur er, sondern auch Bobby und Billy sollten ebenfalls noch heute ihr blaues Wunder erleben. Und zwar in der Form von neuen, blauen Kleidern, welche sie extra für die kirchliche Trauung bekommen hatten. Zur gleichen Zeit, in der Alexander mit seiner Mutter über die bevorstehende Trauung sprach, saßen Bobby und Billy in der Schule. An diesem Tag standen nur langweilige Fächer auf dem Stundenplan, darunter Mathematik, Chemie, Geographie, Latein und Deutsch.

Immer wieder blickte Bobby hastig auf die Uhr, während Billy hingegen ins Leere starrte und kaum richtige Antworten gab, wenn sie gefragt wurde. In der großen Pause sprach Kuddel die Zwillinge darauf an: „Was ist denn heute mit euch los? Habt ihr einen neuen Streich für den Döberlein geplant?“
„Aus dem Alter sind wir inzwischen herausen, meinst du nicht auch.“, antwortete Billy grinsend.
Im nächsten Augenblick zwinkerte sie Bobby zu. Die beiden verstanden sich auch ohne Worte.

„Jetzt sagt schon, was ist los mit euch.“; mischte sich nun auch Eva, welche an einem Apfel kaute, in die Unterhaltung ein. „Artur guckt schon wieder so komisch. Passt auf, dass er euch nicht verpetzt.“
Bobby meinte lakonisch, mit einer wegwerfenden Handbewegung: „Dazu besteht nun wirklich kein Grund. Wir haben uns entschlossen, vernünftig zu werden. Und fangen nun ab heute damit an.“

„Das nehme ich euch nicht ab.“, ergriff nun wieder Kuddel das Wort. „Da hättet ihr doch vorhin besser aufgepasst. Jetzt sagt schon, was los ist. Ich bin doch euer Freund, dem ihr alles anvertrauen könnt.“
Bobby kickte einen Kieselstein beiseite, Billy wickelte sich eine lose Haarsträhne um den Finger. Graue Wolken zogen sich über den Himmel. Langsam fiel der erste Schnee, reichlich früh im Jahr.

Die Klingel schrillte laut. Auf das Zeichen hin gingen die Kinder ins Klassenzimmer zurück. Kuddel warf den Zwillingen einen raschen Blick zu, doch er bekam keine Antwort auf seine Frage. Herr Döberlein betrat die Klasse. Artur ging nach vorne zum Katheder und legte einen Stapel Hefte dorthin ab. Herr Döberlein kontrollierte die Anwesenheitsliste, als sein Blick bei den Zwillingen hängen blieb.

„Geht es euch nicht gut?“, erkundigte er sich lediglich aus Höflichkeit. „Ihr seid so blass um die Nase.“
Bobby und Billy antworteten gleichzeitig: „Dürfen wir Sie etwas fragen? Es ist ein bisschen privat.“
Herr Döberlein stellte fest, dass die Zwillinge ernst dreinschauten. Das war ein gutes Zeichen.
„Von mir aus.“, meinte er. Und dachte: „Hoffentlich ist es keine Scherzfrage. Man weiß ja nie.“

„Was haben Sie und wir nicht?“, wollte Bobby wissen und Billy ergänzte: „Nicht nur Sie, sondern Kuddel, Zack, Eva, Suse, Lotte und die anderen auch. Es ist eine leicht zu beantwortetende Frage.“
„Verstand.“, mischte sich Kuddel ungefragt ein, noch bevor Herr Döberlein antworteten konnte.
Bobby und Billy schmunzelten: „Nein, das meinen wir nicht. Eigentlich hätten wir die Frage anders formulieren sollen: Nicht „was“, sondern „wen“ als Fragewort. Doch es kommt auf das Gleiche hinaus.“

Herr Döberlein legte die Kreide beiseite, mit der gerade einige Aufgaben an die Tafel geschrieben hatte. Dann setzte er sich auf den Stuhl, stützte den Kopf auf die Hände und tat so, als ob er nachdenken wollte. In Wahrheit kannte er die Antwort schon. In den Schulakten waren die wichtigsten Informationen zu finden, nicht nur der Name und das Geburtsdatum, sondern auch einiges über die Eltern. Herr Döberlein wusste natürlich, dass Bobby und Billy ihre leibliche Mutter früh verloren hatten. Doch er sprach nicht darüber. Insgeheim taten ihm die Zwillinge leid. Herr Döberlein selbst war von einem strengen Vater erzogen und von einer liebevollen Mutter verwöhnt worden. Er konnte sich nicht vorstellen wie es war, keine Mutter zu haben, die einen mochte, aber – wenn nötig – doch die Grenzen aufzeigte, was das Verhalten in der Gesellschaft oder die Ordnung des Zimmers anbelangte.

In diesem Augenblick schlug die Uhr 11. Jetzt war es soweit: Die standesamtliche Trauung von Dalli und Alexander wurde vollzogen. Bobby und Billy konnten an nichts anderes denken, endlich eine Mutter zu bekommen. Wie es wohl so sein würde? Bislang war Dalli stets eine Freundin gewesen, doch nun konnte sich das ändern. Bobby und Billy hatten schreckliches Herzklopfen und Kniezittern.

Und achteten daher nicht darauf, was im Klassenzimmer vor sich ging. Herr Döberlein versuchte, die Frage zu beantworten, war jedoch von der richtigen Lösung – laut Kuddel, welcher die Zwillinge gut kannte und verstand, was sie meinten – meilenweit entfernt. Endlich brachte der Lehrer die Antwort aufs Tapet: „Was oder wen hab‘ ich und ihr nicht? Mir fällt nur noch dieses hier ein: Eine Mutter?“

„Ja, das ist richtig.“, bestätigte Bobby erleichtert. Billy fuhr damit gelassen fort: „Doch wir bekommen heute eine neue. Unser Vati heiratet Dalli. In diesem Minuten befinden sie sich am Standesamt.“
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