Abenteuer auf Immenhof

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Andrea1984
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Abenteuer auf Immenhof

Beitrag von Andrea1984 »

Prolog:

„Ich kann den Frühling kaum erwarten.“, sagte Dalli, die am Fenster stand und in den Innenhof hinabblickte. Die Wolken schoben sich von Minute zu Minute dichter zusammen. Es sah aus, als wollte es jeden Moment zu regnen beginnen.
„Die Pferde sind doch versorgt.“, antwortete Jochen, der in einem der Ohrensessel saß und seine Pfeife stopfte. „Der Stall ist wetterfest gemacht, ebenso die Scheune.“
„Oh das meine ich eigentlich nicht.“, Dalli spürte, wie ihre Wangen rot anliefen.
„Was dann?“, Jochen wechselte die Pfeife von der linken in die rechte Hand.
„Sieh doch einmal genauer hin. Fällt dir nichts auf?“
„Deine Reithose ist ein wenig zu eng. Hast du sie etwa zu heiß gewaschen?“
„Im Laufe der Jahre bin ich eine recht gute Hausfrau geworden. Ethelbert sagt das auch.“
„Ach so: Jetzt geht mir ein Licht auf. Ihr bekommt Nachwuchs.“
„Im März soll es soweit sein.“, verriet Dalli, legte eine Hand auf ihre leichte Wölbung, die sich unter dem verwaschenen blauen T-Shirt abzeichnete. „Ich bin jetzt in der 14. Woche.“
„Na dann: Herzlichen Glückwunsch. Weiß Ethelbert es schon?“
„Als Ehemann wird ihm das wohl kaum verborgen bleiben.“, Dalli lachte, ging vom Fenster hinüber zum Tisch, auf dem eine Schale mit frischem Obst stand. „Ich habe einen Heißhunger auf Obst.“

„Heute auf Obst und morgen auf Fleisch. Das kenne ich von Margot her, nur allzu gut.“
„Wo ist sie denn? Ich habe sie heute noch gar nicht gesehen, außer beim gemeinsamen Frühstück.“
„Mit den Kindern zum Arzt gefahren, einfach nur eine Kontrolluntersuchung, weiter nichts. Mach dir keine Sorgen.“, verriet Jochen. „Dann werde ich wohl besser meine Pfeife nur noch draußen rauchen.“
„Oder noch besser: Mit dem Rauchen aufhören. Es schadet deiner Gesundheit.“
„Du redest fast wie Oma Jantzen.“, schmunzelte Jochen. „Gönnt mir doch das einzige Laster, das ich noch habe.“
„Wie du meinst.“, Dalli blickte auf die Uhr, die sie an ihrem linken Handgelenk trug. „Wo bleibt denn nur Ethelbert? Er sollte schon längt wieder hier sein. Um ihn mache ich mir am meisten Sorgen.“
„Ethelbert ist alt genug, um zu wissen, was er tut. Entweder hilft er Hein im Stall. Oder Ethelbert unternimmt einen Ausritt, bevor das Wetter wirklich umschlägt und womöglich noch stürmisch wird.“
„Was ein harter Kerl ist, dem macht ein bisschen Regen und Wind nichts aus.“
„Ich bin auch mal so ein harter Karl gewesen, damals an der Front. Doch das ist lange her.“

„Wen interessieren die alten Geschichten. Lass uns lieber in die Zukunft blicken.“, schlug Dalli vor. „Hoffentlich geht das Ponyhotel bald so gut, dass wir es auch im Winter betreiben können.“
„Das stellst du dir so einfach vor, in deinem jugendlichen Leichtsinn. Doch die Idee gefällt mir. Ich werde sobald wie möglich mit Oma Jantzen und mit Dick und mit Ralf darüber reden.“
„Dick und Ralf wohnen doch schon längst nicht mehr hier.“, Dalli hob eine Augenbraue.
„Das weiß ich, aber sie haben ein Recht darauf, das zu erfahren, meinst du nicht auch?“
„Außerdem sind die beiden derzeit mit ganz anderen Dingen beschäftigt, als mit dem Ponyhotel.“

„Richtig. Wie konnte ich das nur vergessen.“, Jochen legte die Pfeife, die inzwischen ausgegangen war, beiseite.
„Man wird eben alt und immer älter.“, zitierte Dalli und lachte.
„Werd nicht frech, sonst mache ich von meinem Züchtigungsrecht Gebrauch.“
„Du kannst doch keiner Fliege etwas zuleide tun.“, neckte Dalli ihren Schwager.
„Apropos Fliegen. Ich werde mal im Stall nach dem rechten sehen. Dort sind auch immer soviele dieser Insekten, dass ich sie gar nicht alle loswerden kann. Wo kommen die nur her?“
„Das weiß ich nicht, die haben keinen Reisepass dabeigehabt.“, behielt Dalli das letzte Wort.

Jochen lachte, stand auf und verließ das Wohnzimmer. Dalli blieb alleine zurück oder eigentlich nicht ganz alleine, wenn man das ungeborene Kind, dass sie unter ihrem Herzen trug, mitrechnete. Über drei Jahre war sie nun schon mit Ethelbert verheiratet, doch mit Nachwuchs hatte es bisher nicht klappen wollen. Ob es vielleicht an der mehr oder weniger nahen Verwandtschaft zu Ethelbert, der ihr Cousin 2. Grades war, lag? Dalli hatte immer viel zu tun und daher nur wenig Zeit und Muse, über alles in Ruhe nachzudenken. Der heutige Tag stellte eine Ausnahme dar.

Erst beim Mittagessen war die ganze Familie vollzählig. Dalli war großzügig und rechnete auch Margot, die zweite Frau von Jochen, und deren beide Kinder dazu, obwohl sie eigentlich gar nicht blutsverwandt waren. Aber wer wollte denn so kleinlich sein? Noch bevor das Hausmädchen Trine die Suppe auftrug, erhob sich Dalli und verkündete ihre Neuigkeit.
„Dass muss ich erst einmal verdauen.“, murmelte Oma Jantzen. „Trine bring mir einen Korn.“
„Du willst ja wohl nicht Dr. Pudlich Konkurrenz machen.“, ergriff Ethelbert, der an ihrer rechten Seite saß, das Wort. „Oder ist es eher Hein Daddel, der soviel Alkohl trinkt? Oder beide Herren?“
„Eigentlich hätte ich noch ein paar Wochen warten wollen, aber langsam wird mir meine Kleidung zu eng.“, Dalli setzte sich wieder, begann damit die Suppe zu löffeln.
Oma Jantzen trank den Korn, auf Ex hinunter.
„Hast du deiner Schwester schon Bescheid gesagt?“, fragte sie mit sichtlich schwerer Zunge.
„Es passt gerade nicht. Du weisst ja warum.“

Plötzlich klingelte das Telephon. Dalli warf Ethelbert einen seltsam grinsenden Blick zu.
„Ich geh schon ran.“, Jochen legte den Suppenlöffel und die Serviette beiseite. „Wartet nicht auf mich.“
„Danke, Jochen, das ist lieb von dir. Ich kann ja nicht mehr so schnell rennen, sonst hätte ich den Anruf schon selbst entgegengenommen, wie es doch meine Pflicht ist. Esst Kinder, esst, sonst wird die Suppe noch kalt. Und das wäre doch schade darum.“
Dalli ließ sich den Teller noch ein zweites Mal füllen. Aber auch Ethelbert und Margot langten tüchtig zu, während sich die Kinder mit kleineren Portionen zufrieden geben mussten.

„Wer da wohl am Telephon ist?“, wunderte sich Margot. „Vielleicht jemand, der ein Pony kaufen will?“
„Das glaubst du doch selbst nicht. Heute ist der 30. September. Na was kann denn da schon sein?“
„Vielleicht möchte ein Gast aus der Stadt einen Platz im Ponyhotel buchen und wird enttäuscht sein, wenn er erfährt, dass es im Winter geschlossen ist.“, sagte Ethelbert.
„Darauf wäre ich schon nicht gekommen. Die Telephonnummer kann man ja problemlos im Telephonbuch finden.“
Die kleinen Kinder rutschten auf ihren Stühlen herum, wollten offensichtlich aufstehen.
„Nun lauft und spielt schön im Kinderzimmer. Den Nachtisch könnt ihr dann später essen.“
Die Kinder jubelten, warfen beim Aufstehen beinahe die Stühle um und liefen nach draußen.

„Sie langweilen sich schrecklich hier. Das sehe ich den Kleinen an den Nasenspitzen an.“
„Arme Oma Jantzen.“
„Wieso bin ich „arm“?, die angesprochene schien offenbar nur Bahnhof zu verstehen.
„Oh nicht auf das Geld bezogen.“, versicherte Ethelbert. „Sondern darauf, dass Dalli früher bestimmt ebenso ein Wildfang gewesen und nie lange stillgesessen ist, außer vielleicht auf einem Pferderücken.“
„Das ist doch gar nicht wahr.“, Dalli streckte Ethelbert die Zunge heraus.
„Aber Brigitte, vielleicht benimmst du dich.“, gab dieser lachend zurück.
„Erwachsen werden? Ich mach ja viel Quatsch mit, aber nicht jeden.“

Die beiden alberten noch eine Weile herum. Dalli fühlte sich sorglos, zumindest für einen Augenblick. Was hatte sie schon in ihrem Leben durchgemacht. Endlich konnte sie wieder befreit aufatmen. Wenn auch noch das Baby da war, würde bestimmt alles gut werden, davon war sie überzeugt.
Als Nachtisch gab es Obstsalat mit Schlagsahne. Selbstverständlich nur aus frischen Früchten, die auf den Bäumen, welche im Garten standen, wuchsen und sorgfältig händisch zu Obstsalat oder zu Marmeladen verarbeitet wurden. Die Schlagsahne stammte von heimischen Kühen, die auf dem Immenhof in einem der Ställe standen. Das Brot hingegen wurde im Laden gekauft.

„Nanu, ihr seid ja schon fertig mit dem Nachtisch.“
„Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“
„Typisch Dalli: Immer mit dem Mundwerk vorneweg. Willst du wissen, was ich gerade erfahren habe?“
Dalli nickte, da sie gerade den Mund voll mit Schlagsahne hatte.
„Eine sprachlose Dalli: Dass ich das noch erleben darf.“
Diese hustete, so dass die Schlagsahne quer über den Tisch spritzte.
„Hier, nimm diese Serviette. Damit kannst du dir den Mund abwischen. Du kleines Ferkel.“
„Erzähl schon, Jochen: Was gibt es neues. Wer hat angerufen?“
„Bestimmt irgendso ein Heini vom Tagblatt, der uns mal wieder ein Zeitungsabo aufschwatzen möchte?“, schlug Dalli vor.
„Oder ein Mitarbeiter der Lottogesellschaft: „Sie haben eine Reise nach Westafrika gewonnen.“?“, riet Margot.

„Weder noch. Wobei ich zugeben muss, dass mir eure Ideen sehr gut gefallen“, Jochen ließ sich Zeit, die richtige Antwort zu geben. „Ratet noch ein Weilchen, während ich den Obstsalat hier genieße. Welche der drei holden Grazien hat ihn zubereitet?“
„Diesmal bin ich es gewesen.“, gestand Dalli, die sonst eigentlich selten in der Küche stand. Wozu auch? Kochen war nicht ihre Stärke, also überließ sie es lieber Margot oder Trine. Oma Jantzen war inzwischen schon zu alt, um sich täglich in der Küche aufzuhalten. Also teilten sich Dalli, Margot und Trine den Küchendienst, während Jochen, Ethelbert und Hein für die Stallarbeit zuständig waren.
"Walzer .... Walzer hätt' ich auch gekonnt."
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Andrea1984
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Ruhige Tage

Beitrag von Andrea1984 »

„Wo bleibt er denn solange?“, Dick blickte auf die Uhr.
„Wer? Der Weihnachtsmann oder der Osterhase?“
„Du bist ganz schön kindisch, wenn du in deinem Alter noch daran glaubst.“
„Dalli, lass deine Schwester in Ruhe.“, mischte sich Oma Jantzen, die strickend in einem Lehnstuhl saß, in das Gespräch ein. „Musst du nicht noch Hausaufgaben machen?“
„Die habe ich schon längst erledigt.“, winkte Dalli ab. „Nämlich in der Mittagspause in der Schule.“
„Und dabei vermutlich nur die Hälfte gemacht oder so hingekritzelt, dass der Lehrer sie nicht lesen kann.“
Dalli verzog das Gesicht, ballte die Hände zu Fäusten.
„So jetzt seid ihr wieder quitt. Schlimm genug, dass wir in den vergangenen Tagen immer wieder Ärger mit den Gästen gehabt haben, da müsst ihr euch nicht auch noch ständig streiten.“

„Ich bin ja schon still.“, meinte Dalli, ruhiger als es sonst ihre Art war.
„Jetzt kommt er. Na endlich. Ich werde gleich nach unten gehen und ihn fragen.“
„Bleib hier, Dalli. Oder hast du etwas im Garten zu erledigen?“
„Äh nein, aber …“
„Nichts aber.“
Dalli spürte, dass an diesem Tag mit Oma Jantzen nicht gut Kirschen essen war und verzichtete daher auf eine weitere Erwiderung, die ihr auf der Zunge lag.

Dick kehrte zurück, brachte einen Stapel Briefe mit: „Zwei für Jochen, einer für dich Oma und ein paar Werbebriefe, bei denen uns wieder jemand etwas aufschwatzen will, da sie nur die Adresse, aber keinen Empfänger enthalten.“
„Nichts für dich dabei?“
„Nein. Und das schon zum zweiten Mal in dieser Woche. Ich glaube, Ralf hat eine andere gern.“
„So darfst du nicht denken.“, Oma Jantzen hob eine Masche ab, legte dann die Nadeln beiseite. „Er hat viel zu arbeiten und daher nicht jeden Tag Zeit, dir einen ausführlichen Brief zu schreiben.“
„Es kann ja auch nur ein kurzer Brief sein. Oder ein Telegramm, das ist billiger.“

Dalli hörte noch eine Weile zu und schlich sich dann heimlich davon. Was konnte sie denn dafür, dass Dick gar so schlecht gelaunt war? Absolut gar nichts. Aber warum musste ihre große Schwester ihre Launen immer an ihr auslassen. Dalli verstand manchmal die Welt nicht mehr. Da sie niemanden zum Reden hatte, ging sie hinüber zur Weide, wo die Pferde standen und dösten.
„Bestimmt seid ihr froh, nach den harten Wochen ein wenig Ruhe zu haben.“, meinte Dalli. Sie hatte es sich angewöhnt, mit den Pferden zu reden, als ob diese sie verstehen konnten.
An diesem Tag war es, für Ende August ungewöhnlich kühl. Die Pferde drängten sich aneinander, um sich gegenseitig zu wärmen oder einfach nur Schutz zu suchen.

Dalli hob ihre Nase in die Luft. Es roch nach Heu, nach frischem Heu. Drüben auf der Wiese waren Hannes und Jochen dabei, das Heu einzufahren. Dalli schlenderte hinüber, fragte ob sie etwas helfen dürfte.
„Nein danke, wir sind schon fertig. Diesmal ist es nicht soviel Heu wie im letzten Jahr, das schaffen wir gerade noch zu zweit.“, Jochen nahm seine Pfeife aus der Brusttasche und sein Feuerzeug aus der Hosentasche, zündete sich seine Pfeife an.
„Die hast du dir auch verdient.“, meinte Dalli stolz. Sie mochte ihren Schwager gerne. „Wo steckt Margot?“
„Am Vormittag habe ich sie zuletzt im Gemüsegarten gesehen. Da gibt es immer etwas zu tun.“
Jochen wandte sich an Hannes: „Kommst du alleine klar? Ich möchte ein wenig spazierengehen.“
Der Stallknecht, der kein Mann vieler Worte war, nickte, setzte sich auf den Heuwagen, nahm die Zügel der eingespannten Ponys auf und schnalzte mit der Zunge. Schon trabten die Tiere los.

„Siehst du wie bedeckt der Himmel ist? Es wird bald ein Gewitter geben.“
„Dann muss ich schnell heim. Wegen Oma.“
„Die braucht keine Angst zu haben. Der Immenhof hat doch einen Blitzableiter, sowohl beim Hauptgebäude, als auch bei den Ställen.“
„Ich weiß auch nicht, warum Oma gerade bei einem Gewitter fast durchdreht. Irgendetwas muss sie früher einmal erschreckt haben.“
„Oder sie hat einfach so Angst, ohne dass ein triftiger Grund dahintersteckt. Ich zum Beispiel fürchte mich vor Spinnen.“
„Die tun doch keinem was.“, Dalli konnte sich das nicht so ganz vorstellen, wie Jochen das meinte.
„Ich weiß. Trotzdem möchte ich nicht von einer gebissen werden. Das mit den Spinnen bleibt unter uns, hast du mich verstanden, junge Dame?“
„Geht klar. Ich schwöre es bei allen Ponys, die auf dem Immenhof leben. Apropos Ponys: Müssen wir wirklich im Herbst und im Winter einige hergeben, obwohl sie gerade erst entwöhnt worden sind?“
„Ja, leider. Ich weiß, der Abschied wird dir schwerfallen, doch das ist das Leben. Das Ponyhotel steht auf sehr wackeligen Beinen. Ich werde dieser Tage die Buchhaltung machen, doch ich habe dabei kein gutes Gefühl.“
Dalli zuckte mit den Schultern. Von Buchhaltung verstand sie zu wenig, um Jochen helfen zu können oder zu dürfen. Es würde schon alles recht werden. Gespart werden musste so oder so.

Besonders in der Zeit, in welcher immer wieder neue Gäste gekommen waren, hatte es oft nur das nötigste bei Tisch gegeben. Brote, bei denen die Butter abgestrichen worden war. Dünne Milch und vieles mehr. Die Gäste sollten schließlich keinen Mangel leiden. Viele davon hatten den Aufenthalt auf dem Immenhof in positiver Erinnerung behalten, wie zahlreiche Einträge in dem Gästebuch bewiesen und versprachen, auch im nächsten Jahr, so es ihre Gesundheit und ihre Zeit zulassen würden, wiederzukommen. Doch jetzt forderte wieder der Alltag seine gewohnten Rechte ein.

Dalli und Dick mussten zur Schule gehen, obwohl Dalli viel lieber auf dem Immenhof gearbeitet und die Gäste versorgt hätte. Ralf, Dicks Freund, war bei Dr. Westkamp in dessen Firma angestellt, was sich auf den ersten Blick durchaus positiv anhörte. Aber die Sache hatte einen Haken: Ralf musste einen beruflichen Lehrgang machen, um in der Firma, auch nach der Probezeit bleiben zu dürfen. Dieser Lehrgang dauerte 7 Monate und nahm soviel Zeit in Anspruch, dass nur wenig Freizeit blieb.

Während Dalli neben Jochen herging, dachte sie an Ethelbert, der ebenfalls vor einigen Tagen abgereist war. Zurück nach München, wo er in einem Internat zur Schule ging, da seine Eltern beruflich viel unterwegs waren und sich nicht um ihn kümmern konnten oder wollten. Ethelbert sollte, wenn alles gut ging, im nächsten Frühjahr sein Abitur ablegen. Auch er hatte nun weniger Zeit, mal ebenso auf dem Immenhof vorbeizukommen, zu schreiben oder auch nur anzurufen.
Dalli hoffte so sehr, dass sie Ethelbert noch in diesem Jahr wiedersehen durfte, aber das würde wohl schwer möglich sein.

Zurück auf dem Immenhof wurde Dalli gleich wieder zum Arbeiten eingeteilt, was ihr große Freude bereitete. Alles war besser als das doofe lernen. Mit den Pferden kannte sie sich gut aus und vieles was darüber hinausging, wie Physik oder Chemie würde sie in ihrem späteren Leben ja doch nicht brauchen können. Dalli lernte nur soviel, wie unerlässlich nötig war, um nicht sitzenbleiben zu müssen. Sie machte sich keinen großen Kopf darüber, weil ihr die Pferde wichtiger als die Schulnoten waren.

An diesem Tag erhielt Dalli Unterstützung im Pferdestall, von ihrem alten Kumpel Mans. Er wohnte in der Nähe und kam immer mal wieder, auch unangemeldet, auf dem Immenhof vorbei. Sei es, weil es soviel Arbeit gab oder weil ihm zuhause in der Schmiede als Einzelkind schnell langweilig war. Dalli vermochte es nicht festzustellen. Seite an Seite arbeitete sie mit Mans zusammen, bis Oma Jantzen zum Essen rief. Die Boxen waren frisch ausgemistet. Die Pferde konnten jederzeit geholt werden.
Solange das Wetter stabil war, blieben sie auf der Weide, auch nachts. Erst wenn es kalt wurde oder wenn es zu sehr stürmte, wurden sie in den Stall gebracht, wo sie es warm und sicher hatten.

Dalli fühlte sich auf dem Immenhof so wohl, wie ein Pferd auf der Weide. Sie kannte es nicht anders. An das Leben davor konnte sie sich nur vage erinnern, an die Flucht gar nicht. Nur an das, was sie aus Erzählungen wusste. Aber die Vergangenheit interessierte Dalli nicht. Sie blickte aber auch nicht übermäßig weit in die Zukunft, sondern lebte im Hier und im Jetzt, dachte maximal bis zum nächsten Tag voraus. Sie hatte alles, was sie brauchte: Ein Dach über dem Kopf, ein paar Mahlzeiten täglich, ihre Freunde, was wollte sie mehr. Und was ihr fehlte, nun daran konnte sie nichts ändern.

Nach dem Essen blieb Dalli noch ein wenig im Wohnzimmer bei Oma Jantzen, Jochen und Margot sitzen. Auch Hein, Jochens Freund hatte sich eingefunden. Dick hingegen ließ sich entschuldigen.
Oma Jantzen nahm wieder ihr Strickzeug zur Hand. Sie strickte gerne, viel und gut. Dalli hingegen zeigte in Handarbeiten eine miserable Leistung nach der anderen. Und schob die Schuld daran einfach ihren Eltern zu, die sie nie gekannt hatte. Angeblich war ihre Mutter auch nie besonders gut in dieser Fähigkeit gewesen. Heutzutage konnte man doch alles kaufen, was man früher mühsam mit den Händen angefertigt hatte, davon war Dalli überzeugt, auch wenn sie kaum offen darüber redete.

„Wird es nicht langsam Zeit für euch?“, wollte Oma Jantzen wissen.
„Zeit? Für was?“, erwiderte Jochen beinahe ein wenig zerstreut, da er an dem Tisch saß und einige Papiere vor sich liegen hatte.
„Für ein Kind oder vielleicht auch ein zweites.“
„Wir denken ab und zu schon daran.“, gab Margot zu.
„Vom Denken alleine kommen noch keine Kinder.“, feixte Dalli dazwischen.
„Na, wenn ich mir dich so anschaue, da finde es besser, keine Kinder zu haben. Man hätte dir öfter einmal die Kehrseite versohlen sollen.“, seufzte Jochen.
„Dafür ist es jetzt schon zu spät. Ich habe die Mädels einfach zu sehr verwöhnt.“
„Dick ist sehr vernünftig für ihr Alter.“, ergänzte Margot.
„Sie weiß auch genau, was sie später einmal machen möchte.“
„Hausfrau und Mutter sein, wie langweilig.“

„Brigitte, nun ist es genug! Entweder benimmst du dich oder du gehst auf dein Zimmer!“
Dalli senkte den Blick, murmelte etwas, dass wie „Entschuldigung.“ klang. Wenn sie einmal bei ihrem richtigen Namen Brigitte genannt wurde, war Feuer am Dach. Eigentlich hörte Dalli nicht darauf, ebensowenig wie kaum einer auf die Idee kam, Dick bei ihrem richtigen Namen Barbara zu nennen. Woher die Kosenamen, bei denen die Mädchen gerufen wurden, kamen, wusste niemand.

Dalli ließ ihren Blick durch das Wohnzimmer schweifen. Auf der Kommode standen einige Photos nebeneinander: Opa Jantzen, der allerdings lange vor Dallis Zeit gestorben war und Angela, der ältesten Schwester von Dalli und Dick. Angelas zweiter Todestag jährte sich im November. Dalli konnte sich an diesen Tag noch gut erinnern. Sie war gerade von der Schule nach Hause gekommen, da hatte man ihr mitgeteilt, dass Angela an den Folgen einer Fehlgeburt verblutet war.
Dalli fröstelte bei dem Gedanken daran und versuchte daher, an etwas schönes zu denken.

„Wo ist Dr. Pudlich? Er kommt doch sonst fast jeden Abend vorbei?“, wollte Jochen wissen.
„Vermutlich im Dorfkrug. Oder in einer anderen Kneipe. Ich weiß es nicht.“
„Möchtest du, dass ich dir statt ihm das Wollknäuel aufwickle bzw. dir dabei helfe?“
„Das wäre sehr nett. Doch eigentlich hätte ich diese Hilfe eher von Dalli erwartet.“
„Ich habe doch zwei linke Hände. Das würde nur schiefgehen.“
„Seltsam: Bei Reiten und beim Stallausmisten sind deine Hände in Ordnung. Das ist wohl eine neue Form der Wunderheilung.“, Jochen legte den Bleistift und die Papiere beiseite. „Nun hilf deiner Oma schon. Oder hast du etwas besseres zu tun?“
„Äh nein.“, stammelte Dalli, die sich irgendwie ertappt fühlte und wie ein kleines Kind, welches von seinem Vater getadelt worden war, vorkam. Jochen hätte, rein altersmäßig gesehen, durchaus Dicks und ihr Vater sein können.

So rückte Dalli hinüber und hielt das Wollknäuel fest, das Oma Jantzen sorgfältig aufwickelte. Es war eine mühsehlige Arbeit. Dalli gähnte, hätte sich gerne die Hand vor den Mund gehalten, aber das ging nicht. Jochen las in der Zeitung, Margot in einem spannenden Roman, den sie aus der Bücherei ausgeliehen hatte, wie eine Markierung auf dem Buchrücken bewies. Die Standuhr tickte laut.
Erst kurz vor 22.00 Uhr durfte Dalli das Wollknäuel beiseite legen und zu Bett gehen.

Am nächsten Morgen war alles anders als am Vortag. Dicks Laune schien sich zu bessern, nach dem ein Brief eingetroffen war, der unverkennbar Ralfs Handschrift trug. Eine der Mutterstuten brachte ein gesundes Fohlen zur Welt und Dalli durfte bei der Geburt dabei sein, was alles andere als selbstverständlich war, da eigentlich die Schule an erster Stelle stand oder stehen sollte. Doch das Fohlen kam so früh am Tag zur Welt, dass Dalli sogar noch einen Kaffee trinken und sich dann auf den Weg zur Schule machte, ohne dabei übermäßig viel Zeit zu verlieren oder zu spät zu kommen.

„Ist der Brief wirklich von Ralf?“
„Ja, du neugierige Nase. Doch ich werde ihn erst heute Nachmittag lesen können.“
„Ein dünner Brief. Da steht bestimmt nicht allzuviel drinnen.“, Dalli konnte es einfach nicht lassen, ihre Schwester zu necken. Seite an Seite gingen die beiden zur Schule, bei jedem Wind und Wetter. Einen Schulbus gab es zwar, aber der kostete Geld. Und die Pferdekutsche wurde, zumindest für die Fahrt zur Schule nicht genützt, da Oma Jantzen dies für überflüssigen Luxus hielt und meinte, man solle die Mädchen nicht zu sehr verwöhnen. Abhärtung sei das beste Mittel gegen allzuviel Verwöhnen.
„Mir macht das nichts aus.“, Dick errötete, obwohl es an diesem Tag warm war. „Ich sehne mich so nach Ralf.“
„Dich hat’s ganz schön erwischt, wie?“
„Du bist doch so jung und weisst nicht, wie das ist, wenn man sich verliebt. Oder?“
Dalli wollte gerade etwas darauf erwidern, doch sie waren bereits bei der Schule angelangt.

Erst am späten Nachmittag trafen sich Dalli und Dick wieder. Sie gingen in unterschiedliche Klassen und hatten daher andere Freunde und Freundinnen. Mans war zwei Klassen über Dick und drei Klassen über Dalli. Auch er sollte, genau wie Ethelbert, in diesem Schuljahr sein Abitur ablegen.
Dalli konnte damit nichts anfangen. Sie wollte eigentlich das Abitur nicht machen, doch was blieb ihr anderes übrig. Vorläufig genoss sie das Leben, soweit sich ihr die Möglichkeiten dazu anboten.

Beim Essen verkündete Oma Jantzen eine Neuigkeit, die Dalli für einen Moment sprachlos machte.
„Pankraz lädt euch am kommenden Wochenende nach Eltville auf sein Weingut ein. Er braucht Leute bei der Weinlese und da hat er an euch gedacht.“
„Das finde ich prima. Menschenskind.“, Dick schien sich darüber zu freuen. „Darf ich es Ralf erzählen oder vielmehr schreiben?“
„Von mir aus. Ich denke nicht, dass es so ein Geheimnis ist, dass ihr dort eingeladen seid.
Dalli ließ ihrer Freunde freien Lauf, ganz anders als die „feine Dame“, Dick.
„Benehmt euch anständig und macht eurer Oma keine Schande.“, meinte Jochen dazu nur.
„Oh ganz bestimmt. Ich werde mein bestes geben.“, versicherte Dick. „Für Dalli hingegen lege ich meine Hände nicht ins Feuer.“
„Wenn ihr wollt, helfe ich euch beim Kofferpacken. Besonders die Mitbringsel dürft ihr nicht vergessen.“

Dalli nahm das Angebot von Margot gerne an. In ihr sah sie weniger eine Mutter, sondern eher eine gute Freundin, wenngleich Margot einige Jahre älter und schon verheiratet war.
„Viel Zeit zum Spielen werdet ihr dort nicht haben.“
„Das ist mir schon klar.“, antwortete Dick. „Schließlich bin ich doch schon fast 17 und erwachsen.“
„Leider noch nicht. Volljährig ist man erst mit 21, das steht so im Gesetz.“
„Ich wäre schon gerne erwachsen, dann könnte ich endlich Ralf heiraten.“
„Die Zeit vergeht so schnell, du wirst schon sehen.“

Nach dem Essen setzte sich Dalli nur widerwillig an den Schreibtisch, um ihre Hausaufgaben zu machen. Dann beschäftigte sie sich mit den Ponys und erst zuletzt kam die Frage nach dem Kofferpacken auf. Bis zum Wochenende waren es nur noch wenige Tage, die schnell verflogen.
Bereits am Freitag zu Mittag, nach der Schule, reisten Dalli und Dick ab. Aus Kostengründen mit der Bahn, da alles andere zu teuer war. Vom Auto stoppen rieten Oma Jantzen und Jochen ab.

Dalli wusste natürlich, wer Pankraz war: Margots Vater, ein Weingutsbesitzer. Der viel Geld hatte oder zumindest vorgab, viel Geld zu haben. Sonst hätte er damals den Immenhof nicht als Hochzeitsgeschenk für seine Tochter Margot kaufen können. Dalli ging mit dem viele Jahre älteren Mann um, als ob er ihr Opa wäre, gab schlagfertige Antworten und dergleichen mehr. Dennoch erwies sie ihm den Respekt, der dem alten Mann zustand.

In Eltville wurden Dalli und Dick von Pankraz persönlich abgeholt. Er führte die Mädchen hinüber zu seinem Wagen, der auf dem Parkplatz stand und meinte, zu Fuß wäre der Weg zu weit.
„Wir sind jung und können durchaus zu Fuß gehen.“, bot Dick an.
„Ihr würdet euch nur verlaufen. Nur Mut, vertraut mir. Ich tue euch nichts böses.“
Dick, als die ältere der beiden durfte auf dem Beifahrersitz Platz nehmen, während Dalli sich mit dem Platz auf der Rückbank zufrieden geben musste. Neugierig blickte sich das Mädchen um.

Weinberge, überall. Gehörten die alle etwa Pankraz? Dalli klappte der Mund nach unten.
„Mach deinen Mund zu, sonst kommt noch eine Fliege hinein. Oder hast du etwa Hunger?“
„Oh, wir haben schon auf dem Immenhof zu Mittag gegessen und einen Imbiss unterwegs.“
„Dann ist ja gut. Bis zum Abendessen gibt es nämlich nichts mehr, nur Wasser und Brot.“
„Musst du mich so erschrecken?“, Dick fasste sich an ihr Herz.
„Ihr seid doch zum Arbeiten gekommen und nicht dazu, auf der faulen Haut zu liegen.“
„Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.“, Dalli beobachtete, wie Dick sich zu ihr umdrehte.
„Ich kann durchaus etwas arbeiten. Frag doch Margot oder Jochen, wenn du mir nicht glaubst.“
„So wir sind gleich da. Lasst eure Koffer nur im Wagen, die werden schon untergebracht.“

Eine Frau trat aus einer der Türen, ging auf den Wagen zu. Dalli spitzte die Ohren, gab gut acht, als Pakraz nun die Vorstellung übernahm. Dalli knickste, wie sie es von Oma Jantzen gelernt hatte.
„Zwei reizende junge Damen. Darf ich da überhaupt noch „du“ sagen?“
Dalli erlaubte es nur zu gerne. Dick schloss sich ihr an.
„Dann könnt ihr mich auch duzen. Ich bin Erika, die Köchin hier. Bei mir verhungert ihr nicht. Heute Abend gibt es etwas ganz besonders. Aber nun lauft. Herr Hallgarten wartet schon auf euch.“
Zuletzt geändert von Andrea1984 am Sa 08.Jun.2019 23:18, insgesamt 1-mal geändert.
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Ankunft in Eltville

Beitrag von Andrea1984 »

„Wir haben Oma Jantzen versprochen, dass wir uns bei ihr melden, sobald wir heil und sicher in Eltville angekommen sind.“, Dick trat von einem Fuß auf den anderen, als ob sie auf Toilette müsste und nicht dürfte.
„Telephonisch meinst du? Da muss ich erst Herrn Hallgarten fragen, ob das möglich ist.“
„Wir …“; begann Dick, aber Dalli unterbrach sie.
„Warum redest du immer von „wir“? Du hast es Oma Jantzen versprochen, weil sie mit dir darüber geredet hat. Mich nimmt sie ja offenbar nicht für voll, sonst hätte sie mich auch eingeweiht. Also: Wenn du es tun sollst, dann mach’s doch einfach. Wo ist das Problem?“
„Du bist hier nicht zuhause.“, Dick seufzte leise. Dalli konnte es trotzdem hören.
Unauffällig wie möglich ließ sie den Blick umherschweifen, damit ihr nur ja kein Detail entging.

Das Haus war groß, sehr groß sogar. Beinahe schon eine Villa. Dalli kannte sich zu wenig aus, um den Unterschied zwischen einem Haus und einer Villa zu kennen. Fast in jedem der drei Stockwerke stand einer der grüngestrichenen Fensterläden weit offen. Irgendwo roch es entweder nach Schokolade oder nach Kaffee, da war sich Dalli nicht ganz sicher. Vor dem Eingang standen einige Obstbäume mit überreifen Früchten, die offenbar darauf warteten geerntet und gegessen oder zu Marmelade verarbeitet zu werden.
„Kommt herein. Herr Hallgarten hat es erlaubt. Ich zeige euch den Weg.“, meinte die Köchin freundlich, zumindest klang es für Dallis Ohren so, öffnete die Türe, aus der sie vorhin gekommen war. „Das Haus ist groß, da kann man sich schnell verlaufen. Mir ist es am Anfang oft so ergangen, dass ich die einzelnen Räume miteinander verwechselt habe, obwohl sie doch seit Jahrzehnten ihre Funktionen nicht gewechselt haben.“

Erika beschleunigte ihr Tempo, Dick eilte ihr hinterher, durch einen langen Korridor, dann eine Treppe hinauf, wieder einen langen Korridor entlang. Dalli verstand nur Bahnhof. Warum hatten es die beiden auf einmal so eilig? Lag es daran, dass sie Pankraz nicht länger warten lassen wollten?
Endlich blieb Erika stehen. Dick hielt sich die Seiten, als ob sie Schmerzen hätte. Dalli atmete schnell.
„Bitte sehr, tritt nur ein. Das ist eines der Arbeitszimmer, wo sich ein Telephon befindet. Es steht auf dem dunkelbraunen Schreibtisch, direkt der Türe gegenüber. Die Nummer weißt du?“
„Selbstverständlich.“, Dick kramte einen Zettel aus ihrer Handtasche, die über dem rechten Unterarm trug. „Dann will ich hoffen, dass ich Oma Jantzen nicht gerade während ihres Mittagsschlafes störe.“
Während Dick das versprochene Telephonat führte, stand Dalli daneben und hörte zu oder tat zumindest so als ob. Sie langweilte sich, wollte endlich hinaus in die Weinberge gehen.

„Ja uns geht es gut. Wirklich.“, versicherte Dick. „Der Zug ist gut angekommen. Bei euch ist auch alles in Ordnung. Das freut mich. Mach dir keine Sorgen, Oma. Wir sehen uns ja bald wieder. Liebe Grüße an Jochen, Margot, Hein und Mans. Ralf und Ethelbert würde ich auch gerne grüßen lassen, aber die sind zu weit weg.“
Dick legte den Hörer auf die Gabel zurück. Ihr Gesicht hatte eine rötliche Färbung angenommen.
„Das Gespräch ist bestimmt sehr teuer gewesen.“
„Herr Hallgarten wird es schon verschmerzen. Er hat ja genug Geld.“
„Trotzdem habe ich irgendwie ein schlechtes Gewissen, einfach so ein Telephonat zu führen.“
„Was bleibt dir anderes übrig?“, antwortete Erika sachlich. „Ein Telegramm aufzugeben würde zu lange dauern. Und billiger ist es keineswegs, seit die Post die Gebühren wieder einmal erhöht hat.“

Eine Viertelstunde später hielten sich Dalli und Dick gemeinsam mit Pankraz in einem der Weinberge auf.
„Nehmt einfach die Trauben und legt sie dann in die Schubkarre hier. Wenn diese voll ist, bringt ihr sie hinüber zu dem Lastwagen, der am oberen Ende des Weinberges steht.“
„Gut, dass wird gemacht.“
„Dürfen wir auch ein paar Trauben naschen?“, wollte Dalli begierig wissen. Bei dem Anblick der saftigen Früchte lief ihr das Wasser im Mund zusammen.
„Nur zu. Es sind ja reichlich vorhanden, wie ihr sehen könnt.“
„Doch wenn Dalli alle Trauben nascht, bleibt ja für die Weiterverarbeitung nichts mehr übrig.“, wandte Dick ein, beinahe etwas besorgt.
„Es sind genügend Rebstöcke vorhanden. Fast alle Weinberge sind schon abgeerntet. Jetzt kommt dieser hier an die Reihe. Eigentlich hätte ich dafür bereits zwei Erntehelfer aus der hiesigen Gegend verpflichtet, aber sie haben mir beide abgesagt. Zuerst habe ich nicht gewusst, was ich tun soll. Aber dann habe ich mit Ethelbert ausführlich telephoniert und er hat, irgendwann im Laufe des Gesprächs gemeint, die Arbeit hier wäre doch auch etwas für euch.“
„Da er schon recht. Ich muss mich bei ihm bedanken, wenn ich ihn das nächste Mal sehe.“
„Das sagst du doch nur aus reiner Höflichkeit.“, stichelte Dalli.
„Und wenn es so wäre. Ein bisschen mehr davon könnte dir auch nicht schaden.“
„Ich lasse euch dann mal alleine, da ich im Büro etwas zu tun habe. Das Einstecken der Trauben in die Tasche würde ich euch nicht raten, davon werden die Früchte nur zerquetscht, was doch schade wäre. Bill, der Fahrer des Lastwagens hat ein Auge auf euch. Macht mir bloß keine Schande.“

Dick arbeitete sorgfältig, nahm jede Traube herunter, prüfte sie und gab sie erst dann in die Schubkarre. Dalli konnte es nicht lassen, ab und an eine Traube zu naschen. Mal schmeckte eine Traube süß, dann wieder etwas herb. Nach langer Arbeit war die Schubkarre voll. Seite an Seite schoben Dalli und Dick sie den Weinberg hinauf, wo schon Bill mit dem Lastwagen wartete.
Wie schon bei Erika, meinte auch Bill man könne ihn ruhig duzen, er sei ja noch nicht so alt. Außerdem sei das „du“ hier einfach üblich. Dalli nahm das Angebot gerne an. Sie dutzte ja auch fast jeden, mit Ausnahme der Lehrer in der Schule und des Pastors im Dorf. Dick hingegen sah zuerst ein wenig skeptisch drein, fügte sich jedoch, weil sie, so vermutete es Dalli, keinen Ärger haben wollte.

„Ihr seid ja ganz schön fleißig gewesen. Pankraz wird eine wahre Freuden an euch haben. Morgen ist nur noch der andere Weinberg dran, dann ist die Weinlese beendet. Wenn ihr wollt, könnt ihr bei der Weinverarbeitung zusehen oder vielleicht auch selbst mithelfen, je nach dem, was an Arbeit anliegt.“
Vorsichtig nahm Bill ein paar der Weintrauben aus der Schubkarre, hielt sie prüfend in der Hand.
„Alles in Ordnung. So, nun packt mit an, damit die Trauben auch sicher unten im Tal ankommen.“
„Warum müssen die Trauben mit der Hand geerntet werden?“, wollte Dalli wissen, als sie zwischen Bill und Dick im Lastwagen saß. „Onkel Pankraz hat doch viel Geld, so dass er sich bestimmt eine Maschine leisten kann, mit der das Ernten schneller geht.“
„So etwas fragt man doch nicht.“, meinte Dick, wandte sich dann an Bill. „Du musst meine Schwester entschuldigen. Sie ist ab und an etwas vorlaut.“
„Oh, das kenne ich gut. Ich habe selbst drei Schwestern und weiß daher, wie das ist.“
Für den Rest der Fahrt sprach Dalli nichts mit Dick, starrte nach vorne aus dem Fenster.

Auch beim Abladen der Trauben durften Dalli und Dick mithelfen. So hatten es Pankraz und Oma Jantzen vereinbart, wie Dalli von Dick erfuhr. Allmählich ging die Sonne unter, tauchte den Himmel in ein goldenes Licht. Dalli, die nur eine kurzärmelige Bluse trug, fröstelte. Hoffentlich gab das keine Erkältung. Wenn die Sonne unterging, war es eben nicht mehr so warm wie noch im Hochsommer.
„Sehen wir uns beim Abendessen?“
„Ich fürchte nicht.“, antwortete Bill auf Dicks Frage hin, wischte sich seine Hände an der schmutzigen Jeanshose ab. „Pankraz speist mit den Gästen, also euch im Speisezimmer, während das Personal in der Küche bleibt.“
„Das finde ich aber schade.“
„Was soll man tun. Ich habe mich daran gewöhnt.“, Bill zuckte mit den Schultern. Dann ging er, bei der Küchentüre, wie Dalli vermutete, ins Haus.

„Ich wusste gar nicht, dass Onkel Pankraz solche Standesdünkel hat.“, murmelte Dalli.
„Sei still. Das geht uns kaum etwas an. Wir sind doch auch nur Gäste hier oder hast du das vergessen? Er wird schon wissen, warum er sich Bill und Erika und wer weiß wievielen anderen Leuten gegenüber noch so verhält. Vielleicht weil er es selbst nicht anders kennt.“
„Wo sind wir untergebracht?“, wechselte Dalli das Thema.
„Das weiß ich nicht. Doch wir werden es schon erfahren.“

Wie durch Zauberhand öffnete sich die Haustüre. Pankraz stand davor.
„Da seid ihr ja. Ist alles gut gegangen? Ich führe euch jetzt zu eurem Zimmer, das sich im zweiten Stock befindet. Dort habt ihr eine gute Aussicht auf die Weinberge, ihr werdet schon sehen.“
„Wo ist das Speisezimmer?“
„Im ersten Stock. Geht einfach nur dem Geruch nach.“, scherzte Pankraz, der an diesem Tag guter Laune war. „Die Türe wird weit offen stehen, ihr könnt also auch sehen, was euch erwartet.“
„Wir waschen uns nur noch schnell die Hände.“, versicherte Dick.
„In einer halben Stunde gibt es Abendessen. Was mögt ihr trinken?“
„Ein Glas Wasser bitte.“
Dalli entschied sich für einen Traubensaft. Wo sie doch schon hier war, so konnte sie ihn auch gleich versuchen. Wasser trank sie doch zuhause jeden Tag. Irgendwann schmeckte es ihr nicht mehr.
„Ist gut, ich gebe Erika Bescheid. Deinen Traubensaft werde ich dir auch mit Wasser gespritzt servieren lassen. Ohnedies wäre er zu süß und würde dir schwer im Magen liegen.“
Dalli stammelte etwas, dass nach „Danke, das wäre nicht nötig gewesen.“, klang.
Gehorsam trottete sie hinter Dick die Treppe nach oben, in das Gästezimmer. Auch hier waren die Möbel, wie im Arbeitszimmer, dunkel. Schwere Vorhänge ließen beinahe kein Licht herein. Jemand hatte das Gepäck gebracht und es auf einen der kleinen Seitentische gestellt.
„Hier gefällt es mir recht gut.“, Dalli zog ihre Schuhe aus und ließ sich auf das Bett fallen.
„Komm, albere nicht herum. Du bist manchmal einfach unmöglich.“
„Dafür habe ich ja dich, damit du mir die Hammelbeine langziehst.“, gab Dalli Kontra. Im Laufe der Jahre hatte sie schnell gelernt, wann sie Dick widersprechen durfte und wann sie einlenken musste.
„Meinst du nicht auch, dass wir uns umkleiden sollen, bevor wir zu Tisch gehen? Unsere Klamotten sind ganz verschwitzt und staubig.“
„Wenn du willst, dann kleide ich mich um. Wie gut, dass ich eine andere Bluse und eine zweite Hose mitgenommen habe.“
„Es ist nicht für mich. Wie oft muss ich dir das noch erklären. Man setzt sich nicht einfach in dreckigen Klamotten zu Tisch. Das solltest du doch eigentlich wissen. Oma sagt es dir immer wieder.“
„Sie ist aber nicht da.“, Dalli öffnete den Koffer, nahm frische Kleidung heraus.
„So und nun hänge die gebrauchte Kleidung über die Lehne des Stuhls hier. Das ist doch ganz einfach.“
„Was würde aus mir werden, wenn ich dich nicht hätte.“
„Ewig kann ich mich nicht um dich kümmern, das ist dir doch hoffentlich klar.“, sagte Dick, die vor einem Spiegel stand und damit beschäftigt war, ihre kurzen Locken zu bürsten.
„Darüber mache ich mir jetzt noch keine Gedanken. Wer weiß schon, was morgen sein wird.“

Auf Bitten von Dick kämmte sich auch Dalli die Haare, was bei den dichten, langen Locken gar nicht so einfach war, da sich einzelnen Strähnen immer wieder im Kamm verhakten.
„Vielleicht solltest du doch die Bürste nehmen.“, schlug Dick vor.
„Da hängen alle deine Haare dran. Das ist doch ekelig.“
„Die Bürste kannst du ja putzen, in dem du einfach das Toilettenpapier nimmst und damit die Haare entfernst.“
„Glaubst du denn, mich ekelt es vor gar nichts?“, Dalli schüttelte sich wie ein Pony im Regen.
„Stell dich nicht so an, das ist doch ganz einfach. Ich mach es dir vor.“

Dalli sah zu und dachte sich ihren Teil. Warum war Dick bisweilen so altmodisch? Dalli kam nicht dazu, sich weiter mit diesem Thema zu befassen, da ein lauter Gong zu hören war.
„Das ist das Zeichen: Wir sollen zu Tisch gehen. Pankraz hat mir das vorhin so erklärt.“
Dalli rollte die Augen, was soviel bedeutete wie: „Warum reden alle Erwachsenen nur mit dir und nicht mit mir? Ich bin doch auch da.“
Dick schien diesen Blick nicht zu verstehen oder darauf nicht eingehen zu wollen.

„Warte, bis ich den Raum verlassen habe.“
„Wieso das?“
„Na, weil ich doch älter als du bin. Die ältere Person geht immer voraus, sei es beim Betreten eines Raumes oder beim Verlassen.“
„Das ist eine Sitte, die sicher noch aus dem Mittelalter stammt.“
„Und wenn, ich halte mich daran, so wie es uns Oma beigebracht hat.“
„Dann gratuliere ich Ralf schon jetzt.“
„Wieso?“, wunderte sich Dick, als sie bereits auf dem Flur stand und Dalli heraustrat.
„Weil er eine vollkommene Hausfrau und Mutter bekommt, die alle Sitten tadellos beherrscht.“
„Mach dich nur lustig über mich.“
„Heute bist du wieder schlecht gelaunt. Was ist los? Liegt es an mir? An mich und meine fehlenden Manieren müsstest du dich eigentlich schon gewöhnt haben?“
„Das ist es nicht oder eigentlich nicht nur. Vielleicht erzähle ich es dir später. Bei Tisch redet man nicht darüber. So und jetzt benimm dich. Sonst kannst du zum Bahnhof gehen und mit dem Nachtzug zurückfahren, ist dir das klar?“

Bei Tisch ließ sich Dalli nach außen hin nichts anmerken, wie sehr sie unter Dicks Worten litt. Hatte Dick das Recht darauf, sie immer wieder zu ermahnen und maßzuregeln, obwohl oder gerade weil sie kaum älter war? In erster Linie waren doch die Eltern für die Erziehung zuständig. Gab es keine, dann oblag diese Pflicht wohl den Großeltern, in diesem Fall genauer nur Oma, da Opa gestorben war.
Der Traubensaft schmeckt lecker, wie Pankraz es versprochen hatte. Dalli trank ihn nur langsam, weil sie nicht wusste, ob sie darum bitten durfte, dass ihr Glas ein weiteres Mal gefüllt werden sollte.
Dick nippte an ihrem Wasser, probierte von dem Essen nur ein paar Höflichkeitsbissen.
„Was ist mit dir? Schmeckt es dir nicht? Erika hat sich große Mühe gegeben.“
„Es ist in Ordnung. Wirklich. Wenn ihr mich bitte entschuldigen würdet.“, Dick atmete tief ein.
„Selbstverständlich. Soll ich das Essen zurückstellen lassen? Vielleicht hast du ja später Hunger?“
„Wenn Dalli will, kann sie meine Portion haben.“, Dick legte das Besteck und die Serviette beiseite.
„Nun ja, es ist deine Entscheidung, da möchte ich dir nichts dreinreden.“, Pankraz hob sein Glas, in dem sich, wie beinahe selbstverständlich, Wein befand. Ein Rotwein, das konnte Dalli erkennen.
„Ich erlaube dir gerne, dass du dich zurückziehst. Aber zuvor möchte dir und deiner Schwester für die großzügige Hilfe danken. Auf euch.“
„Das ist doch selbstverständlich. Ich helfe gerne, wo ich kann.“, Dick machte Anstalten den Tisch zu verlassen. Pankraz erhob sich leicht. „Hab eine Gute Nacht. Ich gehe auf mein Zimmer äh das Gästezimmer.“
„Gute Nacht.“, antwortete Pankraz, stellte das Glas wieder auf den Tisch zurück, wartete bis Dick das Speisezimmer verlassen hatte. „Iss nur Kind, sonst wird die Suppe noch kalt.“
Dalli ließ sich das nicht zweimal sagen. So eine gute Suppe gab es nämlich nicht alle Tage.

„Verstehst du, was deine Schwester hat?“
„Das weiß ich auch nicht: Wenn die Leute erwachsen sind, dann werden sie komisch.“
„Ich bin auch erwachsen, genau wie Dick.“
„Das ist doch was ganz anderes. Ich glaube, Dick kann sich manchmal selbst nicht leiden.“
Dalli plauderte ungezwungen mit Pankraz, als ob sie ihr Lebtag lang nichts anderes getan hatte. Sie brachte sogar den Vorschlag auf das Tapet, nach dem Essen eine Partie Mensch-ärgere-dich-nicht zu spielen. Oder besaß Pankraz das Spiel etwa nicht?
„Ja, das können wir machen. Allerdings nur eine Partie, sonst wird es zu spät für dich.“, versicherte Pankraz beinahe nachdrücklich, während Erika die Suppenteller abräumte und eine Küchenhilfe den nächsten Gang, nämlich Fleisch mit Kartoffeln und Gemüse brachte.
„Das Gemüse stammt aus meinem eigenen Garten.“
„Ich habe da gar nicht so genau hingesehen.“
„Morgen ist ja auch noch ein Tag. Du hast ja reichlich Zeit, dir alles anzusehen. Es eilt ja nicht.“

Dalli bedankte sich bei Pankraz für das gute Essen.
„Oh, der Dank gebührt nicht mir, sondern Erika. Ich werde es ihr gerne ausrichten.“
„Hast du denn keine Frau?“, wollte Dalli neugierig wissen. Sie hatte es, damals, bei Jochens und Margots Hochzeit seltsam gefunden, dass zwar viele Gäste dabei gewesen waren, aber die Mutter der Braut offensichtlich gefehlt hatte. Oder Dalli hatte die betreffende Dame einfach nicht erkannt.
„Das ist eigentlich eine sehr private Frage.“
„Wir sind doch unter uns. Oder hast du Angst, dass ich es Dick weitererzähle?“
Pankraz klapperte mit dem Besteck. Dalli wusste, von Oma Jantzen her, was diese Geste zu bedeuten hatte. Eine derart private Frage war hier tabu.
„Ich möchte mich entschuldigen.“, stammelte Dalli, kramte ihre Manieren heraus.
„Friss und sei ruhig.“, brummelte Pankraz in seinen Schnauzbart. „Du bist nicht die erste, welche mir diese Frage stellt. Aber bisher hat niemand eine Antwort darauf erhalten. Wenn du noch etwas Gemüse oder Kartoffeln oder Fleisch haben möchtest, dann bediene einfach die Klingel hier, die vor uns auf dem Tisch steht. Erika wird dann kommen und dir noch etwas bringen. Du brauchst mit dem Essen nicht sparen.“

Dalli genoss das gute Essen, als ob sie seit drei Tagen nichts mehr bekommen hätte.
„Wie ist das mit dem Traubensaft? Mein Glas ist fast leer.“
„Da kannst du dir gerne selbst etwas einschenken. Die Karaffen mit Wasser und Traubensaft stehen direkt neben dir auf dem Beistelltisch. Allerdings möchte ich dich warnen: Der Traubensaft hat eine durchschlagende Wirkung.“
Dalli lachte, bedankte sich für das Angebot und schenkte sich das leere Glas noch einmal voll. Was konnte ihr schon geschehen? Der Traubensaft schmeckte einfach zu lecker. Diesmal etwas herb, da sie fast zuviel von der Frucht und zu wenig von dem Wasser erwischt hatte.

„Was gibt es neues in Malente?“, wollte Pankraz wissen. „Margot ruft nur selten bei mir an.“
„Sie hat einfach zuviel Arbeit. Bis vor wenigen Wochen ist ja das Ponyhotel noch geöffnet gewesen, da haben Margot, Dick und ich ordentlich anpacken müssen. Da bleibt nur wenig Zeit, um mal in Ruhe ein Stündchen oder zwei miteinander zu plaudern. Die Gäste haben uns fast die Türen eingerannt, das kannst du dir gar nicht vorstellen.“, plapperte Dalli munter drauflos. Sie genoss es, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und nicht immer nur im Schatten von Dick oder Oma Jantzen zu stehen.
„Wenn ihr wollt, dann komme ich auch mal wieder bei euch vorbei.“
„An einem Bett soll es nicht scheitern. Im Winter stehen fast alle Zimmer leer.“, Dalli tunkte das Fleisch in die Soße, spießte es auf die Gabel, schluckte den Bissen hastig hinunter. „Und ich muss wieder in die Schule gehen. Das mag ich gar nicht. Aber Oma sagt immerzu , es muss nun mal sein.“
Zuletzt geändert von Andrea1984 am Sa 08.Jun.2019 23:14, insgesamt 1-mal geändert.
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Erst die Arbeit, dann das Vergnügen

Beitrag von Andrea1984 »

„Geht’s ihr gut?“, erkundigte sich Pankraz, wobei Dalli nicht genau feststellen konnte, ob er es aus Höflichkeit oder aus wahrem Interesse fragte. „Ich habe sie schon länger nicht mehr gesehen.“
„An ihr liegt das nicht.“, antwortete Dalli, die direkte Frage nicht beantwortend. „Ich hab dich im Sommer ganz doll vermisst. Wo warst du?“
„Beruflich unterwegs. Ich habe viel zu tun und daher die Verwaltung auf dem Gut, für die Dauer meiner Abwesenheit, an Erika übertragen.“
„Oma hat auch immer viel zu tun.“
„Das stimmt, aber sie verdient kein Geld dabei oder nicht nur sie alleine.“
Dalli zögerte. Durfte sie darüber reden, was mit den Einnahmen, welche durch die Gäste ins Ponyhotel kamen, geschah? Oder gehörte sich das eher nicht? In diesem Moment wünscht sich Dalli ihre Schwester herbei, die hätte ihr bestimmt aus dieser Zwickmühle geholfen.
„Oma geht’s prima. Fast so gut wie den Ponys auf der Weide.“
„Das höre ich gerne.“, Pankraz legte das Besteck beiseite. Dalli wusste, was das bedeutete: Die Mahlzeit war beendet. Außer es gab noch einen Nachtisch, worauf Dalli eigentlich hoffte.

Pankraz stand auf: „Lass uns nach nebenan gehen. Hier ist es zu steif, um gemütlich spielen zu können.“
Im Hinausgehen schaffte es Dalli einen Blick zu den Bildern, die an der Wand hingen zu werfen. Jeder der Bilder zeigte Obstsorten, allerdings in unterschiedlichen Farben, Formen und Größen. Das erste Bild zeigte eine Pflaume, das zweite stellte zwei Äpfel dar, das dritte drei Birnen. Auf dem vierten Bild waren vier Orangen zu sehen. Es sah aus, als wären die Bilder mit der Hand gestickt worden. Dalli nahm sich vor, bei passender Gelegenheit, Pankraz danach zu fragen, wer diese Bilder gestickt hatte.

Doch an diesem Abend hatte Dalli keine Chance. Sie musste sie sich auf das Spiel konzentrieren, dass sie selbst vorgeschlagen hatte. Pankraz spielte gut. Er würde sie wohl nicht so einfach wie damals vor gut einem Jahr auf dem Immenhof, einfach so gewinnen lassen. Dalli gab ihr bestes, aber sie verlor.
„Machen wir noch eine zweite Partie?“
„Nein. Für heute ist es genug. Du sollst jetzt ins Bett gehen, es ist schon spät. Und du willst doch morgen bei der Weinlese ausgeruht sein.“
„Also gut.“, Dalli fügte sich, obwohl es ihr schwerfiel. „Gute Nacht.“
Sie beugte sich vor und gab Pankraz einen Kuss auf die Wange.
„Es ist schon lange her, dass mich eine junge Dame so nett geküsst hat.“
„Wie jetzt? Bin ich ein Kind oder eine junge Dame?“, Dalli schmunzelte.
„Nicht mehr Fisch und noch nicht Fleisch. Ein Backfisch eben.“, behielt Pankraz das letzte Wort.

Leise wie ein Indianer schlich Dalli nach oben, um Dick, die vermutlich schon schlief, nicht aufzuwecken. An diesem Abend vergaß Dalli darauf, sich die Zähne zu putzen. Wer sollte ihr daraus einen Strick drehen? Dann würde sie eben morgen die Zähne umso gründlicher reinigen.
Beinahe lautlos kleidete sich Dalli um, stieg in das hohe Bett und zog die Bettdecke ganz fest nach oben. Ein Fenster, durch das ein Windstoß hereindrang, stand offen. Dalli hatte sich im Laufe der Jahre daran gewöhnt, bei jeder Witterung das Fenster geöffnet zu lassen. Infolgedessen war sie, genau wie Dick, die in diesem Moment leise schnarchte, abgehärtet, dass sie kaum noch krank wurde.

Am nächsten Morgen war Dick immer noch „unpässlich“, wie sie es nannte. Dalli stellte keine weiteren Fragen hierzu, wunderte sich aber doch: „Onkel Pankraz rechnet fest damit, dass wir beide arbeiten.“
„Ich kann nicht. Es tut mir leid.“, noch etwas verschlafen rieb sich Dick die dunklen Locken.
„Was soll ich Onkel Pankraz sagen?“
„Gar nichts. Das kläre ich selbst mit ihm. Ausnahmsweise lasse ich dir sogar den Vortritt im Bad.“

Dalli nahm das Angebot gerne an, erledigte ihre Morgentoilette und war nach dem Frühstück in den Weinbergen unterwegs. Alleine oder zumindest solange bis entweder Bill oder Erika kommen und die geernteten Weintrauben mitnehmen wollte. Der Himmel war bewölkt. Es sah nach Regen aus. Dalli schickte ein Stoßgebet nach oben, es möge trocken bleiben, bis die Ernte vorbei war. Gegen Mittag wurden die Wolken dichter. Gerade als Dalli die Weintrauben auf den Lastwagen kippte, prasselten die ersten Regentropfen nieder.
„Da haben wir großes Glück gehabt.“
„Das kannst du laut sagen.“, Bill redete nur wenig, weil er, so vermutete es Dalli, sich auf das Fahren konzentrieren musste. Oder hatte er andere Dinge zu tun, als sich mit ihr zu unterhalten?
Dalli machte sich keine großen Gedanken darüber, es würde schon alles recht werden, irgendwie.

Auch beim Mittagessen fehlte Dick. Dalli wunderte sich darüber, stellte jedoch keine Fragen.
„Ich fordere dich zu einer weiteren Partie heraus. Weil ich doch gestern verloren habe.“
„Das Angebot ehrt mich, aber ich kann es leider nicht annehmen.“
„Wieso das?“, Dalli spürte, wie ihre Lippen zitterten. „Habe ich was falsches gesagt?“
„Oh nein. Ganz im Gegenteil. Das Brettspiel lenkt mich von meinen beruflichen Sorgen ab.“
„Na also, dann können wir doch eine Partei spielen. Mit Dick ist nichts anzufangen.“
„Ich habe noch einen beruflichen Termin, der ca. eine Stunde lang dauern wird. Bis dahin musst du dich irgendwie selbst beschäftigen. Hast du dir etwas zum Lesen oder zum Handarbeiten mitgebracht?“
„Wie kommst du darauf? Ich bin doch zum Arbeiten und nicht zum Erholen hier.“, antwortete Dalli entrüstet. Am liebsten hätte sie Pankraz die Zunge herausgestreckt, aber das gehörte sich nicht.
„Bei diesem Wetter kannst du doch nichts arbeiten. Und die Ernte ist bereits eingeholt. Ich mach dir einen Vorschlag: Was hältst du davon, dich in die Bibliothek zurückzuziehen und dort ein wenig in den alten Büchern zu stöbern. Vielleicht findest du ja das eine oder das andere, dass dir gefällt.“

Dalli freute sich sehr darüber und gab ihrer Freude zwar zurückhaltend Ausdruck, wie es sich für eine junge Dame gehörte, aber ihre Augen strahlten.
„Ich komme dann, wenn der Termin vorbei ist und hole dich ab.“
„Was ist mit Dick?“
„Sie schläft. Ja schon wieder. Lass sie schlafen. Mehr kannst du ja doch nicht tun.“
„Zu dumm nur, dass Dick ausgerechnet jetzt „unpässlich“ geworden ist, was auch immer sie damit meint.“
„Man kann es sich leider nicht aussuchen, wann man krank wird und wie. Ihr habt es gut, also deine Schwester und du. Wenn ihr krank seid, könnt ihr euch ins Bett legen und jemand kümmert sich um euch.“
„Das kannst du doch auch?“
„Leider nicht. Ich bin mein eigener Chef und muss rund um die Uhr arbeiten. Auch an den Tagen, an denen andere frei haben.“
„Die Ponys brauchen auch jemanden, der sie versorgt.“
„Aber nicht rund um die Uhr, das ist doch richtig so?“
„Ja, das stimmt. Und wenn etwas schwierig ist, so trägt entweder Jochen oder Oma Jantzen die Verantwortung.“
„Was meinst du damit?“
„Oh, wenn es zum Beispiel bei der Geburt eines Fohlens zu Komplikationen kommt, dann darf ich zwar zugucken, aber selbst nichts tun. Das übernimmt dann meistens Jochen. Er päppelt die Stute oder das Fohlen oder beide auf, so dass sie sich schnell wieder erholt.“
„Und wenn etwas schief geht?“
„Das kommt leider auch ab und zu vor. Eine Stute verfohlt oder ein Tier stirbt auf der Weide.“
„Vermisst du das Tier?“, wollte Pankraz wissen.
„Wenn ich es lange genug gekannt habe, schon. Aber Oma hat mal gesagt, es sei der Lauf der Welt. Das alte müsse Platz machen für das neue. Sie hat schon recht. Es werden zwar viele Tiere verkauft oder verschenkt, aber auch immer wieder neue geboren, so dass der Stall nie leersteht.“
„Es ist nett mit dir zu plaudern, aber ….“, Pankraz wies auf die Standuhr, in der Mitte des Raumes. Dalli nickte. Sie war zwar blond, aber nicht ganz dumm, wie sie sich ab und zu stellte.

Da Pankraz nicht zur Verfügung stand, ließ sich Dalli von Erika den Weg zur Bibliothek zeigen. Dort angekommen, schlenderte Dalli erst eine Weile unschlüssig auf und ab, blickte auf die vielen Bücher, die in den Regalen standen. Werke von Goethe, Shakespeare und Schiller. Dalli wusste, wer die Herren waren, hatte jedoch noch nie etwas von ihnen gelesen.
„Hier gibt es keine Jugendbücher. Nur Bücher für Erwachsene. Onkel Pankraz ist doch auch mal ein Kind gewesen, aber das ist lange her. Er hat bestimmt seine alten Kinderbücher weggeworfen.“
Eine Reihe Lexika, aus dem 19. Jahrhundert. Dalli nahm eines davon in die Hand. Es fühlte sich rauh an. Die Seiten waren in einer alten Schrift, welche Dalli nicht lesen konnte, verfasst. Sie zuckte mit den Schultern, blätterte noch eine Weile in dem Lexikon, stellte es dann wieder zurück in das Regal.

„Was ist wohl aus den Kinderbüchern geworden, die Margot mal gelesen haben muss? Oder hat sie keine Zeit zum Lesen gehabt? Ich hätte doch Onkel Pankraz danach fragen sollen.“
Auf der einen Seite der Regale hatte Dalli kein Glück. Erst auf der anderen Seite wurde sie fündig und das in gleich mehrfacher Hinsicht. Zwar waren die Bücher, die dort standen, auch in der alten Schrift geschrieben und daher nur schwer zu lesen. Aber Dalli ließ sich nicht entmutigen. Schon bald konnte sie die ersten Zeilen eines Mädchenbuches entziffern. Dalli sah sich nach einer Sitzgelegenheit um. Im Stehen oder im Gehen zu lesen war zwar möglich, aber auf Dauer doch sehr unbequem.
Wieder war das Glück auf Dallis Seite. Sie fand einen Ohrensessel und machte es sich darin gemütlich. Bald schon war sie so sehr in der Schicksal von Ilse Macket vertieft, so dass sie Zeit und Raum vergaß. Und erst, als sie jemand an der Schulter rüttelte, erschrocken aufblickte.
„Aha, du hast also die alten Bücher entdeckt. Das Buch da hat Margot einmal gelesen. Und vor ihr, noch ihre ältere Schwester.“
Dalli hielt im Lesen inne. Sie fühlte sich irgendwie ertappt: „Schade, dass du so früh gekommen bist.“
„Früh ist gut.“, lachte Pankraz. „Es sind fast zwei Stunden, statt der geplanten einen Stunde um.“
„Was soll ich denn jetzt machen? Ich hätte doch zu gerne gewusst, was Ilse so alles im Pensionat erlebt, aber ich möchte gerne mit dir eine Partie Mensch-Ärgere-Dich-Nicht spielen.“
„Man kann nun mal nicht alles im Leben haben. Lass uns spielen. Das Buch läuft dir nicht weg.“
Auf einem Beistelltisch lag ein leeres Blatt Papier, von welchem Pankraz einen Streifen abriss.
„So, den kannst du als Lesezeichen verwenden.“
„Danke, das mach ich doch gerne. Ich hätte sonst einfach eine Buchseite umgebogen.“
„Das ist keine gute Idee. Dann würde das Buch mit der Zeit nicht mehr so schön aussehen.“

Dalli erbat die Erlaubnis, das Buch für die Dauer ihres Aufenthalts hier, ausleihen zu dürfen. Mit diesem in der Hand, folgte sie Pankraz hinüber in den Salon, in welchem sie bereits gestern Abend gesessen hatte. Die Stühle dort waren deutlich bequemer als die harten im Speisezimmer.
Dalli legte das Buch beiseite, stellte die Figuren auf das Brett.
„Darf ich beginnen?“
„Warum?“, wollte Pankraz wissen. „Alter vor Schönheit.“
„Na weil ich doch gestern verloren habe und wie. Ich habe nicht mal die Hälfte aller Figuren ins Ziel gebracht.“
„Machen wir es doch so: Jeder von uns würfelt einmal. Wer die höhere Augenzahl würfelt, fängt an.“
Dalli war mit dem Vorschlag einverstanden. Pankraz würfelte als erster. Das Ergebnis lautete auf die Zahl: Drei. Nun war Dalli an der Reihe. Sie schob den Würfel so fest, dass er fast den Tisch hinuntergerollt wäre.
„Mist. Nur eine Zwei. Gut, dann bist du dran.“

Eine Weile verlief das Spiel schweigend. Dalli musste sich konzentrieren. Pankraz schien über etwas nachzudenken, da er immer wieder die Stirn in Falten zog. Dalli stellte keine Fragen. Plötzlich hielt sie inne.
„Was ist? Du bist dran.“
„Dick wäre vielleicht auch froh, wenn sie hier mitspielen könnte. Soll ich sie holen?“
„Meinst du wirklich, dass deine Schwester das Spiel mag? Sie ist doch schon erwachsen.“
„Trotzdem: Es wäre nicht fair, Dick auszuschließen.“
„Arbeiten kann sie nicht, aber spielen schon. Was ist das für eine Logik. Also gut. Ich warte auf dich.“

Dalli lief rasch nach oben, um mit Dick zu reden. Aber diese winkte ab.
„Ich hätte dich auch gerne dabei gehabt. Einfach so. Außerdem ist das unhöflich gegenüber Onkel Pankraz, wenn du dich ständig zurückziehst.“
„Gut, du hast mich ertappt. Ich komme mit dir. Allerdings sehe ich euch nur zu. Das Spiel ist mir wirklich zu kindisch.“
„Menschenskind, das freut mich.“, Dalli hopste herum, solange bis sie von Dick festgehalten wurde.
„Ich werde etwas wie dein Maskottchen sein. Aber nun komm: Wir wollen Onkel Pankraz nicht so lange warten lassen.“

Ob es daran lag oder einfach, dass Dalli inzwischen etwas Übung hatte? Gute Frage, sie wusste es nicht, aber sie gewann die Partie mit Leichtigkeit.
„Du hast sie absichtlich gewinnen lassen.“, meinte Dick.
„Ist ja gar nicht wahr. Ich habe eben schlecht gespielt. Am Abend geht’s weiter. Ihr müsst mich entschuldigen. Die Geschäfte warten nicht.“
„Was sollen oder vielmehr, was dürfen wir tun?“
„Vielleicht Erika zur Hand gehen? Sie wird es euch schon sagen, ob sie Hilfe braucht oder nicht.“

Der Vorschlag war zwar gut gemeint, ging jedoch daneben. Erika meinte, sie käme auch alleine zurecht und es gehöre sich nicht für den Hausherren und dessen Gäste in der Küche zu arbeiten.
Dalli und Dick plauderten noch eine Weile mit Erika, die gerade dabei war, das Geschirr zu spülen. Und es war eine Menge Geschirr, wie Dalli zählen konnte. Sie hätte gerne geholfen. Aber wenn ihre Hilfe nicht erwünscht war, na schön. Aufdrängen wollte sie sich nicht und betteln auch nicht.
Dann zogen sich die Mädchen in das Gästezimmer zurück, um darauf zu warten, bis es Zeit zum Abendessen war. Der Regen war stärker geworden, trommelte heftig gegen das Fenster.
„Zu dumm nur, dass wir hier nichts tun dürfen.“, jammerte Dalli.
„Langweilst du dich etwa? Das ist ja ganz etwas neues. Daheim reißt du dich doch auch nicht gerade darum, die Hausarbeit zu machen.“
Dalli zog ihre Schuhe aus, warf sie achtlos zur Seite, hopste auf das Bett und streckte sich dort aus.
„Das ist doch was anderes. Außerdem möchte ich hier gerne etwas helfen, so wie es uns Oma beigebracht hat.“
„Onkel Pankraz hat dafür Personal. Vermutlich ist es immer schon so gewesen. Er kann es sich leisten.“, meinte Dick, die auch ihre Schuhe auszog, aber es sich nicht auf dem Bett, sondern auf der breiten Fensterbank bequem machte.

„Ethelbert hat bestimmt auch Personal. Oder was meinst du?“
„Ich weiß es nicht. Und wenn es so ist: Man redet nicht darüber. Ethelbert hat sich in den letzten Jahren prächtig rausgemacht.“
„Wie ein Pferd. Erst ein verwöhntes Fohlen und nun ein richtig doller Hengst.“
Dick lachte: „Der Vergleich gefällt mir. Wo hast du nur diese Idee her?“
„Oh, die ist mir einfach so eingefallen.
„Lass das bloß nicht Ethelbert selbst hören.“
„Keine Sorge. Du kannst dich auf mich verlassen. Er ist doch bestimmt weit weg.Also darf ich frei reden, wie mir der Schnabel gewachsen ist.“
„Das Maul - um in der Tiersprache zu bleiben. Pferde haben doch keinen Schnabel.“
Jetzt musste auch Dalli lachen. Für einen kurzen Augenblick fühlte sie sich wie früher, als sie gemeinsam mit Dick über alles und über jeden hatte lachen können. Aber in den vergangenen Tagen und Wochen war Dick immer stiller und ernster geworden. Als ob man als fast Erwachsene nicht mehr lachen durfte oder zumindest nicht frei heraus, wie in diesem Augenblick.

Der Augenblick ging schnell vorüber. Zumindest kam es Dalli so vor. Nach einer Weile zog sich über Dicks Gesicht wieder ein ernster, ja geradezu strenger Blick. Sie starrte aus dem Fenster, als ob sie dort in der Ferne etwas sehen würde. Dalli nahm das Buch zur Hand und las weiter. Sie war kaum eine Seite weit gekommen, als Dick vor ihr stand.
„Ich habe gefragt, ob ich es mir ausleihen darf.“, stammelte Dalli, die sich ertappt fühlte.
„Schon gut. Mir soll’s recht sein. Vielleicht leihe ich mir auch ein Buch aus, wenn es Onkel Pankraz erlaubt.“
„Es sind aber fast keine Jugendbücher da, nur so große, schwere Lexika und Werke von Goethe.“
„Die mag ich gerne.“
„Kannst du die alte Schrift lesen? Ich habe meine Mühe damit.“
Dick versicherte, es sei für sie kein Problem.
„Darf ich mal?“
Dalli nickte. Dick nahm ihr das Buch aus der Hand und las einige Zeilen vor.
„Prima. So und nun bin ich wieder dran mit lesen.“
„Wir können das Buch ja auch gemeinsam lesen.“
„Nee, das ist mir zu doof. Ich bin doch schon viel weiter als du, zumindest bei diesem Buch.“

Dick sah auf die Uhr und ging dann ins Badezimmer. Dalli wunderte sich darüber. Dick war manchmal etwas seltsam. Erst nach einer halben Stunde kam sie wieder zurück.
„Geht’s dir gut? Oder soll ich Onkel Pankraz Bescheid geben?“
„Mit mir ist alles in Ordnung. Wirklich.“, Dick atmete tief ein und aus, ein und aus.
„Du siehst blass aus. Sonst hast du doch immer eine gesunde Farbe.“
„Möchtest du wirklich wissen, was mit mir los ist?“
„Ja, irgendwie schon. Schließlich bist du meine Schwester und ich habe doch sonst niemanden.“
„Also schön; dann höre gut zu ….“

An diesem Tag erfuhr Dalli etwas, dass sie eigentlich gar nicht erfahren wollte. Man sprach nicht darüber, zumindest nicht in der Öffentlichkeit, was auch den Unterricht in der Schule einschloss. Und schon gar nicht vor fremden Personen.
„Aha, so ist das also. Wenn ich eine Frage habe, wende ich mich an dich.“
Dalli schwor alle heiligen Eide, niemandem, etwas zu verraten. In diesem Moment kam sie sich nicht mehr so kindisch wie sonst, sondern beinahe ein wenig erwachsen vor. Zumindest war es ein Schritt in diese Richtung.
„Du hast ja noch etwas Zeit, bis es bei dir soweit ist. Das glaube ich zumindest, wenn ich mir dich so ansehe.“, meinte Dick halb ernsthaft, halb mit den Augen zwinkernd.
Dalli versicherte, es gehe ihr gut und sie merke von den Anzeichen eigentlich noch nichts.
Plötzlich klopfte es an der Türe. Dalli nickte in Dicks Richtung hinüber. „Sag du etwas.“
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Überraschender Besuch

Beitrag von Andrea1984 »

Auf das freundliche „Herein.“ - von Dick reagiert zunächst niemand. Erst beim zweiten Mal kam eine Reaktion. Die Türe wurde geöffnet. Erika stand davor.
„Der gnädige Herr schickt mich. Er wartet im Salon auf euch beide.“
„Ist gut, danke.“, Dick machte eine wegwerfende Handbewegung. „Wir finden den Weg schon.“
Dalli wartete, bis Erika das Zimmer wieder verlassen hatte.
„Warum hast du sie nicht gebeten, zu bleiben oder uns den Weg zu zeigen?“
„Wir sind keine kleinen Kinder und finden uns durchaus hier zurecht.“, antwortete Dick ruhig.

Dalli kannte zwar viele Räume in diesem großen Haus, aber der Salon war ihr neu. Sie wusste weder, wie er aussah, noch wo er zu finden war. Wusste Dick den Weg wirklich oder bluffte sie nur?
Erst nach einer Weile fanden die Mädchen die richtige Türe. Diesmal war es Dick, die anklopfte und auf die Erlaubnis wartete, eintreten zu dürfen. Dalli klopfte das Herz bis zum Hals. Hatte sie etwas angestellt? Musste sie etwa schon früher abreisen? Oder durfte sie doch, wie geplant, bis Sonntag da bleiben? War etwas bei der Weinlese schiefgegangen? Hatte sich ein Kunde beschwert?

„Kommt nur herein. Macht es euch gemütlich. Wer möchte in dem bequemen Sessel und wer auf dem Sofa sitzen?“
Dalli nickte hinüber zu Dick, überließ ihr die Entscheidung.
„Ich wähle das Sofa.“
„Gut, dann bleibt für deine Schwester der Sessel übrig. Ihr seid fast ein wenig zu früh dran.“
„Zu früh?“, wunderte sich Dick.
„Man sollte glauben, hier drinnen, gibt es ein Echo.“, schmunzelte Pankraz. „Mach dir keine Sorgen, es ist alles in Ordnung.“
„Auch bei der Weinlese?“
„Ja, gerade bei der Weinlese. Allerdings wird es über ein Jahr dauern, eher den Wein reif genug ist, dass man ihn trinken oder verkochen kann. Ihr kennt das vielleicht auch, dass eure Oma ab und zu ein wenig Rotwein in eine Sauce gibt?“
„Neulich hat es ein Wildfleisch mit einer dicken Soße gegeben, die etwas säuerlich geschmeckt hat. Ich glaube, da ist ein Schuss Rotwein dabei gewesen.“
„Eigentlich wäre das Wildfleisch für die Gäste bestimmt gewesen.“, ergänzte Dalli. „Aber die sind dann doch früher abgereist, als geplant und deshalb ist noch etwas übrig geblieben. So haben wir es bekommen. Mal was anderes, als die ewigen Klöße, Kartoffeln und Bohnen.“
„Dalli!“, rief Dick entrüstet aus.
„Wo sie recht hat, hat sie recht. Zumindest teilweise. Ein wenig Abwechslung auf dem Speiseplan hat noch keinem geschadet.“
„Aber das sagt man doch nicht so laut.“
„Mir schmeckt’s hier natürlich auch.“, beeilte sich Dalli zu sagen, um ihren Tritt ins Fettnäpfchen wieder auszubügeln. „Gibt es denn schon Abendessen?“
„Nein, dafür ist es noch zu früh. Ich habe euch aus einem anderen Grund rufen lassen.“, Pankraz warf einen Blick auf die alte Standuhr, die sich in einer der Ecken befand. Der kleine Zeiger rückte nahe auf die Zwölf, während der große Zeiger auf der Vier stand. Ein heller Ton erklang, dann ein dunkler.

Von irgendwo her erklangen Schritte, die immer näher kamen. Jemand riss die Türe auf.
„Hallo Onkel Pankraz. Wir sind schon da. Mädels, was macht ihr hier?“
„Na das ist vielleicht eine Überraschung. Mit dir habe ich überhaupt nicht gerechnet. Ich dachte, du bist in München oder bei deinen Eltern.“
Dalli sprang auf, lief auf Ethelbert zu und flog ihm um den Hals.
„Schön, dass du bist. Wen meinst du mit „wir“?“
„Ralf ist auch mitgekommen, aber er kleidet sich noch um. Wir sind vom Regen in die Traufe gekommen.“
„Kein Wunder, wenn ihr bei diesem Wetter mit dem Motorroller unterwegs seid.“
„Ich bin ein harter Kerl und habe schon ganz andere Sachen durchgestanden.“, Ethelbert reckte das Kinn nach oben und die Brust nach vorne. Dalli boxte spielerisch dagegen.

Erst nach ein paar Minuten traf auch Ralf ein. Dalli begrüßte ihn etwas zurückhaltender, als sie es bei Ethelbert getan hatte. Ralf war doch um vieles älter als sie und eine Respektsperson. Bei Ethelbert dachte sich Dalli nichts schlimmes dabei, ihn stürmisch zu begrüßen oder ihm einen leichten Klaps zu geben. Er durfte das ja bei ihr auch. Zudem waren sie, entfernt aber doch, verwandt. Wen sollte es da schon stören, wenn es etwas unformeller zuging. Nicht mal Dick konnte etwas dagegen sagen.

Pankraz bot allen einen frischen Kakao an und meinte, das Abendessen gäbe es erst später. Schon bald saßen alle gemütlich im Salon beisammen. Dalli beanspruchte nach wie vor den Sessel für sich, während Dick neben Ralf auf dem Sofa saß und Händchen hielt. Ethelbert musste sich mit dem freien Platz auf der breiten Fensterbank begnügen, da Pankraz bereits den zweiten Sessel besetzt hatte.
Eine Weile wurde nur über allgemeines geredet: Vor allem das Wetter und die Weinlese. Ethelbert führte das große Wort, während Ralf nur wenig redete. Dick fragte nach, erzählte aber wenig.
„Kein Wunder, wo du dich doch um die Weinlese gedrückt hast.“, neckte Dalli.
„Es ist mir fast ein wenig peinlich, aber was ist mir anderes übriggeblieben.“, Dick starrte in ihre halbvolle Kakaotasse.
„Du hast es wenigstens versucht. Vielleicht wird’s ja beim nächsten Mal besser.“
„Als ob es ein nächstes Mal geben wird. Bis zur neuen Weinlese vergeht ein Jahr. Da kann viel passieren.“
Dalli wusste, warum Dick heute schlecht gelaunt war, aber sie schwieg, um ihre Schwester nicht vor allen anderen zu blamieren. Manchmal war es besser, den Mund zu halten und einfach zuzuhören.

„Ich werde gut bezahlt, keine Frage. Aber trotzdem ist meine Arbeit irgendwie langweilig, da ich nichts selbständig malen darf, sondern nur das, was Dr. Westkamp mir befiehlt.“, berichtete Ralf.
„Da musst du durch. Es werden bestimmt bessere Zeiten kommen. Und eines Tages, wenn alles gut geht, wirst du vielleicht dein eigener Herr sein.“
„Das stellst du dir so einfach vor, Dick.“, Ralf lächelte. „Irgendwie hast du schon recht.“
„Was für ein Glück, dass du an diesem Tag frei bekommen hast.“
„Ich habe immer am Wochenende frei. Das ist für mich nichts besonders. Wäre ich heute nicht hier gewesen, so hätte ich meine Eltern oder meine Schwester besucht.“
„Du hast eine Schwester?“, Dick hob eine Augenbraue.“Warum hast du mir nie von ihr erzählt?“
„Du hast mich ja auch nie gefragt, oder?“, Ralf rührte in seiner Kakaotasse.
„Hmm ja, das habe ich irgendwie vergessen. Es hat irgendwie nie gepasst.“
„Ich bin neidisch.“, mischte sich Ethelbert in das Gespräch ein. „Ich hätte gerne eine Schwester gehabt.“
„Nur nicht.“, riefen Dalli und Dick wie aus einem Mund. Im nächsten Augenblick sahen sie sich an und brachen in schallendes Gelächter aus.
„Ihr seid euch einig, wie ein altes Ehepaar.“, sagte Ralf. „Mit meiner Schwester habe ich mich früher eigentlich recht gut verstanden, bis zum Beginn der Pubertät. Dann ist der Kontakt einige Jahre nicht so erfreulich gewesen, erst vor 3 oder 4 Jahren sind wir uns nähergekommen.“
„Ist deine Schwester älter oder jünger? Vielleicht seid ihr altersmäßig einfach zu nahe beieinander, dass es schnell einmal zu Streitigkeiten kommen kann.“, vermutete Pankraz.
„Was verstehst du davon?“, neckte Ethelbert.
„Mehr als du ahnst. Ich habe nämlich auch eine Schwester, wie dir vielleicht bekannt ist.“
„Ach ja, richtig. Das vergesse ich immer, dass meine Mutter zugleich deine ältere Schwester ist.“

Dalli schaute verwirrt von Ethelbert zu Pankraz und wieder zurück. Gut, jetzt wusste sie also, wie die beiden verwandt waren. Wieso gab es dann, von ihrer Seite her, zwar zu Ethelbert eine Verwandtschaft, aber keine zu Pankraz?
Frei von der Leber weg, äußerte Dalli ihre Gedanken laut, wie sie es von zuhause aus gewöhnt war.
„Wenn ihr unbedingt wollt, dann erkläre ich es euch. Allerdings ist das ein wenig kompliziert.“
„Nur zu. Wir haben ja Zeit. Oder ist die ganze Thematik so umfangreich, dass sich niemand auskennt?“, kam die Frage von Dick. „Ich möchte es nämlich auch gerne mal erfahren.“
„Dazu brauche ich etwas: Nämlich diese kleine, schwarze Mappe hier, aus dem Regal.“
Dalli reagierte schnell, zog die Mappe heraus und drückte sie Pankraz in die Hand: „Bitte sehr.“
„Wie weit soll ich mit dem Erklären zurückgehen?“
„So lange, bis ein gemeinsamer Vorfahre oder eine gemeinsame Vorfahrin auftaucht.“
Pankraz blätterte so lange in der Mappe, bis er die entsprechende Stelle gefunden hatte.

Dalli blickte auf die vielen Namen und Daten, die ihr, bis auf wenige Personen, gänzlich unbekannt waren. Wie sollte sie da nur herausfinden, wer nun wer war und wer zu welcher Linie gehörte?
„Das ist ja schlimmer als die Matheaufgaben in der Schule.“
„Ach was, das ist doch ganz einfach. Hier, bei dem Blatt auf der linken Seite geht’s los. Gib gut acht.“
Dalli sah sich die entsprechende Stelle an. „Henriette. Aha, das ist also Oma Jantzen.“
„Sehr gut. Sieh nur, hier ist Opa Jantzen. So kann man doch sagen, oder?“
„Ja, der Mann von Oma war Opa, auch wenn ich ihn nie gekannt habe. Und wie geht’s dann weiter?“
Gespannt beugte sich Dalli nach vorne, um alles genauer sehen zu können. Im Nacken spürte sie Ethelberts weichen Atem. Auch Dick und Ralf waren inzwischen aufgestanden und zu Pankraz hinübergangen, um alles besser erkennen zu können. Pankraz räusperte sich kurz: „Es geht los.“

„Ich muss noch schnell auf Toilette.“, meinte Dick.
„Na gut, dann warten wir eben so lange. Auf ein paar Minuten mehr oder weniger kommt’s nicht an.“
Dalli verdrehte die Augen nach oben. Musste das sein? Ausgerechnet jetzt verließ Dick den Salon.
„Ich sollte dich über’s Knie legen.“, sagte Pankraz zu Ethelbert. „Einfach so, kreuzt du hier auf, ohne Erika oder mir Bescheid zu sagen. Mach das ja nie wieder.“
„Ich darf das, das hast du selbst einmal gesagt.“
„Gut, ich gebe mich geschlagen. Was soll nur aus dir werden, wenn du nicht mal anständig lernst? Nimm dir ein Beispiel an Ralf. Er hat fleißig gelernt und gearbeitet und verdient nun recht gut.“
„Ich brauche nicht arbeiten gehen.“, Ethelbert machte eine wegwerfende Handbewegung.
„Wer sagt das? Deine Eltern?“
„Die haben es doch auch nicht nötig, körperliche Arbeit zu machen. Sie verdienen auch so ihr Geld.“
„Einiges davon haben sie nicht verdient, sondern geerbt. Genauer deine Mutter: Sie hat, damals, vor 20 Jahren bei ihrer Hochzeit mit deinem Vater, eine üppige Mitgift mit in die Ehe gebracht.“
„Die du auf Mark und Pfennig genau ausgezahlt hast, stimmt’s?“

„Das verstehe ich nicht? Warum? Ich dachte, deine Schwester ist älter?“, hakte Dalli ein.
„Sie ist hier aufgewachsen, wie ich und hat später nach München geheiratet. Wer nach der Heirat wegzieht, muss, von dem der bleibt, ausgezahlt werden. Das steht so in einem alten Erbfolgevertrag.“
„Aha, jetzt bin ich etwas klüger.“, Dallis Augen strahlten von einem Ohr zum anderen.
„Meine Schwester hat relativ spät geheiratet. Ich weiß nicht warum. Sie hätte es ja auch früher schon tun können, aber kein Verehrer ist ihr gut genug gewesen. Erst Julius Gravenhorst hat es geschafft, ihr Herz zu erobern. Frag mich allerdings nicht wie. Und irgendwann hat sie dann einfach „Ja“ gesagt.“
„Ethelbert ist dann, etwas mehr als 2 Jahre nach der Hochzeit seiner Eltern, geboren worden.“, ergänzte Ralf. „Seine Eltern und meine Eltern sind Nachbarn oder vielmehr gewesen. Meine Eltern haben einige Jahre in München gelebt und sind dann später nach Lübeck übersiedelt.“
„Warum sagst du immer „deine Eltern“?“, diesmal war die Reihe an Pankraz sich zu wundern.
„Eigentlich müsste ich sagen: Meine Mutter und mein Stiefvater. Aber das spricht sich nicht so leicht. Außerdem habe ich, genau wie meine Schwester, meinen richtigen Vater kaum gekannt.“
„Er ist im Krieg gefallen?“, vermutete Dalli. „Wie meiner auch, zumindest sagt das Oma Jantzen.“
„Nicht direkt.“, Ralf ballte die Hände zu Fäusten, öffnete sie dann wieder. „Er hat schon an der Front gekämpft, das stimmt. Doch das ist kompliziert. Was hast du in der Schule über den Krieg gelernt?“
„Wenig. Der Lehrer redet wenig und wenn, dann sagt er immer nur: „Es ist eine Schande für das Deutsche Reich, dass es nicht länger bestanden hat. Der Führer hat vieles versprochen.““
„Also: Mein Vater ist im Jahr 1943 auf Fronturlaub gekommen. Und hätte eigentlich schon wieder abreisen müssen, aber da eine Bombe das Stadtviertel erwischt, wo das Haus meiner Eltern gestanden ist. Viele Leute sind dabei schwer verletzt worden oder gestorben. Mein Vater ist zunächst am Leben geblieben, aber dann, einige Zeit später, an einer inneren Blutung gestorben. Man hat nichts mehr für ihn tun können.“
„Oh, das tut mir leid. Auch wenn schon lange her ist.“, Dalli ging hinüber zur Ralf, legte eine Hand auf seinen Arm.
„Meine Mutter hat meine Schwester und mich zu Freunden oder zu Verwandten gebracht, solange bis der Krieg zu Ende war. 1946 hat sie einen ehemaligen Soldaten geheiratet, dessen Frau im Krieg an Typhus gestorben ist.“
„Wieso hat deine Mutter noch einmal geheiratet? Sie hätte bestimmt eine Witwenrente bekommen?“
„Das geht dich gar nichts an!“, verwies Ralf streng. Dalli zog den Kopf zwischen die Schultern. „Meine Mutter wird schon wissen, warum sie es getan hat. Sie hat ja nicht nur an sich, sondern auch an meine Schwester und an mich denken müssen. Was hättest du getan, wärst du an ihrer Stelle gewesen?“
„Ich weiß es nicht.“, Dalli gab zu, dass sie sich darüber noch nie Gedanken gemacht hatte.
„Eben. Und nun genug davon. Mein Stiefvater, zu dem ich Vater sagen darf, ist gut zu mir. Und zu meiner Schwester auch. Er hat mir auch die Möglichkeit gegeben, ein Studium an der Kunstakademie zu beginnen. Meine Mutter arbeitet auch und unterstützt als Schneiderin die Familie.“

Dick kam zurück. Dalli war gespannt, was Pankraz zu erzählen hatte. Allerdings konnte sie sich nicht jeden Namen merken.
„Besteht die Möglichkeit, dass ich mir die Informationen selbst abschreibe?“
„Nein, das wäre nicht fair. Ich habe monatelang an dieser Arbeit gesessen. Aber du kannst dir die Unterlagen jederzeit anschauen, das verspreche ich dir.“
Dalli schlug in die dargebotene Hand ein: „Menschenskind, das finde ich prima, Onkel Pankraz.“
Ja, sie nannte ihn auch weiterhin so, auch wenn er nicht mit ihr verwandt war. Wenn sie jemanden mochte, so machte Dalli dabei keinen Unterschied. Sie konnte auch Ralf gut leiden, besonders nach dem er ihr so etwas privates wie den frühen Tod seines richtigen Vaters anvertraut hatte.

Das „Plauderstündchen“, wie Dalli das Beisammensein insgeheim nannte, verlief schnell, fast zu schnell. Nach dem Abendessen hatte Dalli auf eine Fortsetzung gehofft, aber diese kam nicht zu stande. Wieder wurden die Mädchen früh ins Bett geschickt, während die Jungs noch aufbleiben durften.
Dalli moserte, nur unter vier Augen, aber Dick meinte, es sei nur recht. Immerhin seien die Jungs schon erwachsen, da dürften sie das schon. Aus dem Gesprächsverlauf beim Abendessen hörte Dalli, dass Ethelbert hier so etwas wie eine Dauereinladung hatte, sprich er durfte einfach mal so vorbeikommen, ohne sich dafür anzumelden oder extra eingeladen worden zu sein. Weiters erfuhr sie, dass Ralf eigentlich nicht hatte mitkommen wollen, weil es soviel Arbeit gäbe. Doch Ethelbert meinte, es sei ja schön und gut, aber ein wenig Urlaub zwischendurch müsse auch einmal möglich sein.

Erst am nächsten Morgen, nach dem Frühstück kam Dalli dazu, sich ausgiebig am Gespräch zu beteiligen. An Ethelberts Seite schlenderte sie durch den Garten, der allerdings bei diesem Regenwetter keinen schönen Anblick bot.
„Möchtest du, dass ich dir einen Schirm anbiete?“
„Danke. Für mich tut’s die Kapuze auch. Ich bin nicht so verweichlicht wie Dick.“
„Vorsicht. Onkel Pankraz beobachtet uns vom Salon aus.“
„Meinst du?“, Dalli blickte sich nach allen Seiten um.
„Ich glaube es zumindest. Vielleicht hätten wir doch Dick und Ralf mitnehmen sollen, dann würden wir hier nicht so auffallen.“
„Sie genießen es wohl, einfach mal ein wenig Zeit für sich zu haben.“, riet Dalli. „Ralf arbeitet einfach zu weit weg.“
„Was soll da erst ich sagen?“, rief Ethelbert beinahe entrüstet aus. „München ist nicht gerade um die nächste Ecke.“
„Aber es gibt doch soviele Möglichkeiten zu verreisen: Mit dem Motorroller, der Bahn, dem Auto.“
„Ich habe noch keinen Führerschein. Und ich will ihn auch nicht machen. Dafür gibt es doch Personal.“
„Ethelbert, wir leben nicht mehr im 19. Jahrhundert.“, erwiderte Dalli schockiert.
„Was soll ich tun?“, Ethelbert hob und senkte die Schultern. „Meine Eltern haben mich dazu erzogen.“
Dalli biss sich auf die Lippen. Jedesmal wenn jemand von den Eltern sprach, gab es ihr einen Stich, obwohl oder gerade weil sie ihre leiblichen Eltern nie kennengelernt hatte.
„Verflixt, das hätte ich nicht sagen sollen. Entschuldige bitte.“
„Schon gut. Im Laufe der Jahre habe ich mich daran gewöhnt. Was man nicht kennt, vermisst man auch nicht.“

Ethelbert blieb stehen, lehnte sich an einen der Bäume, schnaufte wie ein Pferd.
„Was tust du da?“
„Ich atme die frische Luft ein. Frische Luft ist gesund, das sagt Onkel Pankraz immer. Er muss es ja wissen. Außerdem habe ich einen Stein im Schuh und halte mich lieber am Baum, als an dir fest.“
„Wenn dir das gehen zuviel wird, wir können auch gerne umkehren. Der Regen wird stärker. Außerdem zieht Nebel auf, oder bilde ich mir das nur ein?“
„Also gut, dann kehren wir eben um. Ich möchte mir nichts schlimmes nachsagen lassen.“
„Wie? Etwas schlimmes? Wir gehen spazieren, wir unterhalten uns. Das ist doch in Ordnung.“
„Die Leute reden hier viel. Mehr noch, als du es dir vorstellen kannst.“, Ethelbert zog den linken Schuh aus, enfernte den Stein, schlüpfte dann wieder in den Schuh.
„Was gehen mich die Leute an?“
„Ich bin, wie du ja schon weißt, öfter hier. Und kenne daher fast jeden hier. Mein guter Ruf wäre in Gefahr, wenn ich etwas verbotenes ausführe.“
„Von der Seite aus habe ich das noch nie betrachtet.“, Dalli nahm sich vor, bei ihrer Rückkehr auf den Immenhof, Oma Jantzen oder Jochen nach dem guten Ruf der Familie Jantzen zu fragen.
„Was wohl Dick und Ralf jetzt in diesem Augenblick unternehmen?“
„Das weiß ich nicht.“, gab Ethelbert offen zu. „Vermutlich jammert Dick, wie sehr sie Ralf vermisst hat. Und er wird sie trösten, dass alles nicht so schlimm sei, aber er habe keine andere Wahl.“
„Hast du mich vermisst?“, stellte Dalli die Frage, die ihr schon eine Weile im Kopf herumging.

Ethelbert antwortete nicht, wandte den Blick ab, hinüber Richtung Haupthaus.
„Was murmelst du in deinen nicht vorhandenen Bart?“
„Oh, es ist nur. Ich habe gerade an etwas anderes gedacht.“
„Meine Frage ist noch unbeantwortet.“, Dalli konnte hartnäckig sein und sie wusste es.
„Später. Ich habe jetzt keine Zeit. Ich muss noch packen. Ralf und ich müssen heute noch aufbrechen, wenn wir nicht zu spät nach Lübeck kommen wollen. Von dort aus fahre ich dann mit dem Zug weiter.“
„Gut, dass sehe ich ein.“. Dalli wechselte das Thema. Offenbar hatte sie Ethelbert verletzt oder in Verlegenheit gebracht? Doch warum redete er nicht offen darüber, was ihn zu bedrücken schien?
Zuletzt geändert von Andrea1984 am Sa 08.Jun.2019 23:15, insgesamt 2-mal geändert.
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Plauderstündchen

Beitrag von Andrea1984 »

„Wie geht es Schneewittchen?“, wollte Ethelbert nach einer Weile wissen.
„Gut, ganz gut. Sie wird im nächsten Jahr eingeritten. Jochen hat schon mit ihr ein wenig geübt.“
„Das freut mich sehr.“, antwortete Ethelbert immer noch ein wenig ausweichend, als ob er an etwas anderes denken würde. „Ob sie mich noch wiedererkennt, wenn ich das nächste Mal auf den Immenhof komme?“
„Ganz bestimmt. Pferde haben ein gutes Gedächtnis. Sie wissen genau, wer sie mag.“
„Blessie auch?“
Dalli schmunzelte: „Ich werd ihn einfach fragen, ob er sich noch an den großen Jungen erinnert, der vor zwei Jahren auf ihm gesessen ist und dem er Zucker aus der Hand gefressen hat.“
„Ist Blessie eigentlich ein Hengst oder ein Wallach?“
„Ein Wallach. Für die Zucht haben wir andere Ponys, die besser dafür geeignet sind. Blessie hat manchmal einen ganz schönen Dickkopf. Nicht jeder kommt daher mit ihm zurecht.“
„Ich hab es auch erst nach ein paar Tagen geschafft.“

Dalli erzählte noch ein wenig mehr über die Ponys, verriet, dass im nächsten Jahr viel Nachwuchs erwartet werde, aber leider auch: Nicht alle Ponys durften auf dem Immenhof bleiben.
„Das ist nun mal der Lauf der Dinge: Der eine kommt, der andere geht.“
„Wann sehen wir uns wieder?“, Dalli biss sich auf die Lippen. Hoffentlich hatte sie jetzt nichts falsches gesagt.
„Vielleicht in diesem Jahr noch. Wenn alles gut geht, am zweiten Weihnachtsfeiertag. Den Heiligen Abend verbringe ich mit meinen Eltern.“, Ethelbert schnitt eine Grimasse. „Das wird aufregend.“
„Weil dein Vater nur über Geschäfte redet?“, vermutete Dalli, die absolut keine Ahnung hatte.
„Schön wär’s. Oft kommen auch einige wichtige Leute, von denen ich mir weder die Namen, noch die Gesichter merken kann. Die Erwachsenen sitzen dann im Salon, rauchen und trinken und reden über den neuesten Tratsch. Keiner kümmert sich um mich.“
„Jetzt übertreibst du aber ein wenig.“
„Nein, es ist wirklich so. Leider. Im Laufe der Jahre habe ich mich daran gewöhnt.“
„Du rauchst doch auch. Das hat mir Jochen einmal erzählt.“
„Ich habe es ausprobiert, doch die Zigarette hat mir gar nicht geschmeckt.“

„Was machst du da? Wohin bringst du mich?“
„Hinüber zu dem Schuppen. Da kann uns niemand sehen und es ist trocken und sicher.“
„Aber?“
„Nur keine Panik. Bis zum Mittagessen ist noch ein wenig Zeit. Ich habe ja eine Uhr dabei.“
Ethelbert öffnete die Türe: „Bitte sehr, gestatten gnädiges Fräulein.“

Dalli machte einen Knicks und trat ein. Es dauerte eine Weile, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten.
„Da muss irgendwo ein Lichtschalter sein. Auf der linken Seite glaube ich.“
Dalli tastete über die Wand. Was war das? Ein Spinnweben? Oder ein Holzklotz?
„Es ist einfach zu finster hier drinnen.“
„Nicht mehr lange.“, Dalli hörte, wie Ethelbert den Lichtschalter fand und das Licht anknipste.
„Hier ist es richtig gemütlich.“
„Findest du?“
„Ja wirklich.“, Dalli ließ ihren Blick quer durch den Raum schweifen. Im Gegensatz zum Herrenhaus, wo alles penibel angeordnet war, ja selbst die Blumentöpfe in Reih und Glied standen, herrschte hier das Chaos. Ausrangierte Blumentöpfe mischten sich mit alten, ausrangierten Bänken. In einer Ecke lag eine Fahrradpumpe. Ob diese wohl noch funktionstüchtig war? Neben der Fahrradpumpe befand sich ein Stapel Gartenstühle. Ethelbert nahm den obersten Stuhl herunter, stellte ihn auf den Fußboden.

„Huch, das ist ja alles voller Staub.“, Dalli hustete.
Ethelbert kramte ein Taschentuch aus der Tasche seines Jackets, wischte damit den Stuhl sauber.
„Achtung, dass du dir keinen Holzsplitter einfängst. Davon gibt’s hier leider einfach zuviele.“
„Worauf sitzt du? Der andere Stuhl, der jetzt oben auf dem Stapel liegt, hat ein großes Loch in der Mitte.“
„Ich werde schon etwas passendes finden.“
„Zur Not kannst du dich ja auf meinen Schoß setzen.“, bot Dalli an, mit einem kleinen Hintergedanken, von dem Ethelbert hoffentlich nichts ahnte.
„Ein Kavalier nimmt niemals auf dem Schoß einer Dame Platz.“, antwortete Ethelbert, wobei seine Stimme einen deutlich nasalen Klang einschlug, die sie sonst eigentlich nicht hatte.
Immer noch trommelte der Regen gegen die Wand. Dalli schlang die Arme um den Körper, um sich zu wärmen. Ethelbert ging auf und ab, blickte hinter eine Kiste, rüttelte an einem Vorhängeschloss, welches sich vor einem dunkelbraunen Schrank befand und seufzte dann.

„In den Schrank sollen angeblich Vorräte sein. Aber da komme ich nicht ran.“
„Wer weiß, wie lange der Schrank schon hier steht.“, gab Dalli zu bedenken.
„Ach da ist ja ein altes Kissen. Keine Ahnung, wie das hier her kommt. Es stinkt zwar ein wenig nach Mottenkugeln, doch es erfüllt wohl seine Zweck.“, Ethelbert klopfte das Kissen mit einer Hand aus.
„Wenn du den Blumentopf auf den Boden stellst, dann ist hier auf der Bank sogar noch ein Platz frei.“
„Menschenskind, das ist ja prima. Das mach ich doch glatt. So nun haben wir es bequem. Womit kann ich dir aufwarten?“
„Ein Glas Champagner wäre mir recht.“, meinte Dalli schlagfertig.
„Bedauere, gnädiges Fräulein, der ist leider schon aus. Ihr werdet euch wohl mit einem Glas Wasser begnügen müssen.“
„Wasser kommt vom Himmel, das ist eigentlich ganz einfach. Einen Becher oder ein Glas sehe ich hier allerdings in diesem Gerümpel nicht.“
„Zur Not tut es ja auch eine Tasse. Oder trinken gnädiges Fräulein nicht daraus?“

„Doch doch.“, versicherte Dalli. Ihr gefiel es, mit dieser Anrede tituliert zu werden. Ethelbert war nun einmal ein Kavalier der alten Schule oder wollte zumindest einmal einer werden.
„Wenn gnädiges Fräulein gestatten, dann suche ich nach einer Tasse oder einer kleinen Vase oder etwas in der Richtung.“, schon bückte sich Ethelbert, fing an, unter der Bank danach zu kramen.
Dalli lockerte den Griff der Arme um ihren Körper, sprang auf und machte ein paar Kniebeugen.
„Ist dir etwa kalt? Hier gibt es leider keine Heizung.“
„Soll ich dir beim Suchen helfen? Dann wird mir bestimmt warm.“
„Nee, lass mal. Das ist nichts für eine feine Dame.“
„Ich bin keine feine Dame und will auch keine sein. Damit hat es ja noch Zeit.“
„Vielleicht ist da irgendwo eine Decke oder ein altes Handtuch. Damit kannst du dich zudecken.“

Dalli sank auf den Stuhl zurück. Die Kniebeugen hatten ihre Wirkung getan. Ethelbert hatte seine Suche unter der Bank abgeschlossen, ging hinüber zu der Ecke, wo die aufgestapelten Stühle an der Wand lehnten. Unter dem letzten Stuhl lag eine kleine Kiste mit etwas Heu drinnen.
„Im Heu liegen, das wäre doch was.“
„Ich mag es auch gerne. Aber das Heu auf dem Immenhof ist für die Ponys bestimmt. Damit darf man nicht spielen.“, Dalli berichtete, wie sie einmal das mühsam geerntete Heu als Versteck beim Versteckenspielen genützt und dabei einen der aufgestapelten Heuballen zerstört hatte.
„Was ist dann passiert?“
„Möchtest du das wirklich wissen? Na schön, dann erzähle ich es dir. Aber du musst mir versprechen, dass du es niemandem erzählst. Nicht mal Ralf.“
„Also schön.“ Ethelbert hob eine Hand zum Schwur. „Ich bin gespannt.“
„Jochen hat mich allerdings dabei erwischt und mir eine ordentliche Strafpredigt gehalten.“
„Das kann ja noch nicht alles gewesen sein?“
„Woher weißt du das?“, Dalli hob eine Augenbraue. „Ich habe dann das Heu wieder aufstapeln müssen. Ganz alleine, ohne fremde Hilfe. Der Ballen ist dann ganz schön groß geworden.“
„Davon sind bestimmt viele Ponys satt geworden.“
„Ja, beinahe die ganze Herde.“, Dalli grinste von einem Ohr zum anderen.

„Du hast es gut.“
„Wieso?“, nun war es an Dalli sich zu wundern.
„Bevor ich das erste Mal auf den Immenhof gekommen bin, habe ich nie mit anderen Kindern gespielt.“
„Warum? Im Internat sind doch auch andere Kinder?“
„Das schon. Aber immer ist ein Erzieher um uns rum, der sagt, dass wir nun schon groß sind und nicht mehr spielen sollen. Und an die Zeit davor kann ich mich fast kaum noch erinnern.“
„Moment mal: Willst du damit sagen, du bist seit über 10 Jahren im Internat?“
„Genau, das ist es. Meine Eltern sind immer schwer beschäftigt und haben mich daher ins Internat gegeben. Am Anfang, als ich noch ganz klein gewesen bin, habe ich nur in den Ferien nach Hause fahren dürfen. Inzwischen ist das alles ein wenig lockerer geworden. Wenn ich will, kann ich jedes Wochenende nach Hause fahren. Aber meine Elern sind fast immer auf Reisen.“
„Wer kümmert sich dann um das Haus?“, Dalli wusste aus den zahlreichen Briefen, die sie auch schon früher mit Ethelbert gewechselt hatte, dass er in einem großen Haus wohnte.
„Es sind Dienstboten da, die halten alles in Schuss.“
„Das kann ich mir gar nicht vorstellen.“
„Ihr habt doch auch ein Dienstmädchen auf dem Immenhof?“
„Trine, ja das stimmt. Aber die tut fast nichts. Die Hälfte der Zeit sitzt sie bloß da und starrt Löcher in die Luft. “Da arbeitet ja Hein noch mehr als sie, allerdings im Garten und bei den Pferden.“
„Hein ist Jochens Freund, kann man das so sagen?“
„Ja und nein. Ganz genau weiß ich das auch nicht. Solange ich mich erinnern kann, ist Jochen eines Tages in Malente aufgekreuzt. Abgemagert und zerlumpt. Angela und Dick und ich haben ihn angestarrt, wie das achte Weltwunder. Oma hat ihm dann das Forsthaus zur Pacht angeboten. Ich habe mich darüber gewundert, weil Jochen nicht so ausgesehen hat, als ob er viel Geld hätte.“
„Was ist aus dem Forsthaus jetzt geworden?“
„Es ist ja nach wie vor im Familienbesitz, allerdings wohnt im Augenblick niemand drin. Im Sommer haben einige der Gäste da gewohnt, als der Immenhof für ein paar Tage überbelegt gewesen ist.“
„Onkel Pankraz kommt bestimmt auch mal wieder. Er hat es mir versprochen.“
„Darauf freue ich mich schon jetzt.“, Dalli klatschte in die Hände.
Nun war die Reihe an Ethelbert zu husten.
„Und auf mich nicht?“
„Doch ja klar. Aber mit dir kann ich nicht so schön Mensch-Ärgere-Dich-Nicht spielen.“
„Ich bin schon groß. Brettspiele sind nur etwas für Kinder. Zumindest behauptet das der Erzieher im Internat. Manchmal gehe ich an den Gemeinschaftsräumen vorbei, wo die Jungs der ersten und zweiten Klassen sind und denke mir: „Könnte ich doch auch so klein und sorglos sein?““
„Im Internat sind nur Jungs? Keine Mädchen.“
„Keine Mädchen. Da herrschen strenge Sitten.“, Ethelbert blickte auf die Uhr. „Wir haben Zeit.“
„Uff, dann bin ich beruhigt. Kram du mal ein wenig weiter, ich mach derweilen ein Nickerchen.“
„Das könnte dir so passen.“, Dalli spürte, wie Ethelbert sie bei der Hand nahm und hochzog. „Komm, wir suchen jetzt gemeinsam weiter. Vielleicht finden wir ja doch noch etwas passendes.“

Leider blieb die Suche ohne Erfolg. Ethelbert öffnete die Türe, die er vorhin fast ganz zugezogen hatte:„Es regnet nicht mehr. Oder zumindest nicht so stark. Lass uns wieder zurück ins Haupthaus gehen, bevor Onkel Pankraz noch einen Suchtrupp nach uns ausschickt.“
„Gute Idee, das machen wir. Ich habe Hunger. Hoffentlich gibt es bald etwas gutes zu essen.“

Nach dem Mittagessen brachen Ethelbert und Ralf schon auf, da sie eine weite Fahrt vor sich hatten. Dalli und Dick standen vor der Eingangstüre, winkten den Jungs so lange nach, bis sie diese nicht mehr sehen konnten.
„Für uns wird es auch langsam Zeit, nicht wahr?“
„Ja.“, Dick rieb sich die Augen. „Wenn du willst, helfe ich dir beim Packen.“
„Hast du geweint?“
„Nein, es ist nur … mir ist eine Mücke ins Auge geflogen.“
„Hier gibt es doch gar keine Mücken.“
„Musst du immer das letzte Wort haben?“, seufzte Dick. „Ich habe Ethelbert und dich beobachtet.“
„Was ist schon dabei? Ein harmloser Spaziergang, weiter nichts. Und dann haben wir im Schuppen Zuflucht vor dem Regen gesucht.“
Dalli scharrte mit einem Fuß im Kies, wie ein Pony, dass um ein Stückchen Zucker bettelte. Musste sie sich jetzt auch noch Dick gegenüber rechtfertigen?
„Onkel Pankraz hat auch alles gesehen.“
„Es ist auch sein Haus und sein Garten.“, Dalli verstand nicht, weshalb sich Dick so aufregte.
„Ich sollte mich da eigentlich nicht einmischen.“
„Na also. Ist das Thema dann erledigt? Packen kann ich auch alleine. Wann muss ich fertig sein?“

Eine halbe Stunde später reisten Dalli und Dick aus Eltville ab, erreichten pünktlich ihren Zug und trafen am frühen Abend in Malente ein. Es war gerade noch hell, aber die Dämmerung kündigte sich schon an.
„Jochen, wie nett, dass du uns abholst. Das wäre doch nicht nötig gewesen.“
„Ich kann euch um diese Tageszeit nicht alleine herumlaufen lassen. Stellt euch mal vor, ein Dieb käme und würde euch ausrauben oder etwas viel schlimmeres mit euch anstellen.“
Dick fröstelte, zog ihre warme Jacke eng an den Körper.
„Nur keine Panik. In diesem Dorf ist schon seit vielen Jahren nichts dergleichen geschehen.“
„Dann bin ich beruhigt. Mach das bitte ja nie wieder. Mein Blutdruck ist heute schon himmelhoch.“
„Nanu. Du bist doch noch so jung. Ich verstehe nicht, warum du dann jammerst. Oma hat auch hin und wieder einen hohen Blutdruck, aber das ist in ihrem Alter nichts ungewöhnliches mehr.“
„Kein Wunder, wo sie sich Sorgen um alles und jeden macht.“, quakte Dalli vorlaut dazwischen.
„Das ist nun mal der Lauf der Dinge.“, meinte Jochen, ruhig wie es seine Art war. „Ein bisschen mehr Verantwortung würde auch dir nicht schaden, Dalli. Nimm dir ein Beispiel an Dick.“
Dalli verdrehte die Augen. Musste denn das sein? Wieso fühlten sich alle für sie verantwortlich?
Also ob sie nicht alt genug wäre und selbst auf sich acht geben konnte? Dalli verstand manchmal die Welt nicht mehr. Im Umgang mit den Ponys bewies sie doch, dass sie Verantwortung tragen konnte. Warum zweifelten die Erwachsenen immer an ihr, behandelten sie wie ein kleines Kind?
Der Abend auf dem Immenhof ging ruhig und beschaulich zu Ende. Dalli wurde früh zu Bett geschickt, mit der Begründung, dass am nächsten Tag Schule sei. Dalli meuterte, wie es ihre Art war, musste aber dann klein beigeben. Was blieb ihr auch anderes übrig. Dick zog sich ebenfalls früh zurück. Dalli vermutete, dass sie einen langen Brief an Ralf schrieb oder noch ein wenig für die Schule lernte.

Die nächsten Tage und Wochen vergingen wie im Flug. Dalli jedenfalls kam es so vor, wenngleich sie noch nie in einem Flugzeug gesessen hatte. Aber diese Redensart kannte sie natürlich. Oma Jantzen hatte sie ihr einmal erklärt. Ende Oktober fiel der erste Schnee, aber er blieb nicht liegen. Erst Mitte November schneite es. So sehr, dass Jochen und Hein jeden Morgen, noch während die Mädchen und Margot und Oma Jantzen beim Frühstück saßen, bereits mit dem Schneeschaufeln begannen. Zwischen Haupthaus und Stall blieb nur ein schmaler Trampelpfad. Ein dicker Ast eines Apfelbaumes brach unter der Last des Schnees zusammen. Dalli beobachtete, wie Jochen den Ast vom Schnee befreite und, noch am gleichen Tag, im Kamin verfeuerte. Das Holz knisterte und verbreitete bald eine wohlige Wärme. Dalli hielt es allerdings nicht lange in der Stube. Es gab doch soviel zu tun: Die Ponys mussten versorgt werden. Nach einiger Zeit beruhigte sich das Wetter wieder. Der Schnee blieb liegen, doch es kam kein neuer dazu. Dalli wollte am liebsten, gleich nach der Schule hinunter zum See laufen, um sich mit ihren Freundinnen zu treffen. Oma Jantzen erlaubte es, aber erst nachdem die Schularbeiten gemacht worden waren und zwar ordentlich. Dalli versuchte, ihr bestes zu geben.
Die Noten im Zeugnis, das vor den Weihnachtsferien überreicht wurde, konnten sich sehen lassen. Dick hatte natürlich auch ein Zeugnis erhalten, allerdings mit deutlich besseren Noten.

Am zweiten Weihnachtsfeiertag kamen Ethelbert und Ralf zu Besuch. Sie hatten einen Stapel Geschenke mitgebracht und erhielten auch welche. Mit Tee und Keksen versorgt saßen Dalli, Dick, Ethelbert, Ralf, Margot, Jochen, Hein und Oma Jantzen im Wohnzimmer. Trine hatte den Kamin eingeheizt und sich dabei beinahe die Finger verbrannt.
„Hier ist es gemütlich.“, Ethelbert lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
„Das glaube ich dir gerne.“
„Sprich nicht immer mit vollem Mund. Du willst doch ein Kavalier sein oder etwa nicht?“
„Doch ja, aber jetzt habe ich Ferien.“, antwortete Ethelbert auf Jochens Ansage.
Dalli lachte, prustete in ihren Tee, der noch viel zu heiß war, als dass man ihn trinken konnte.
„Oh diese ungezogenen Kinder.“, seufzte Oma Jantzen, die, wie so oft, an einer Strickarbeit saß.
„Lass man Oma. Die Kinder sind schon in Ordnung. Sie haben sich in den vergangenen Wochen so artig betragen, dass sie ab und zu mal über die Strenge schlagen können. Fast wie junge Fohlen.“
Dalli lachte wieder und steckte damit auch Dick, Ethelbert und Margot an.

„Schade, dass Mans heute nicht hier sein kann.“, meinte Dick nach einer Weile.
„Wieso das? Er hat doch versprochen, dass er vorbeikommt. Oder gibt es in der Schmiede soviel Arbeit?“
„Darf ich bei der Schmiede anrufen und fragen, was geschehen ist?“, bat Dick.
Es gab zwar ein Telephon auf dem Immenhof, aber das wurde nur genutzt, wenn es wirklich wichtig war. Dalli wusste das genau und nahm an, dass es Dick ebenso erginge.
„Ich werde morgen einkaufen gehen. Vielleicht sehe ich dabei Mans Mutter und kann dann Neuigkeiten mit ihr austauschen. Versprechen kann ich allerdings nichts.“
„Das wäre prima, Oma.“, Dick nahm sich noch einen Keks, aß ihn jedoch nicht selbst, sondern fütterte Ralf damit.
„Mund auf.“, hörte Dalli, sah jedoch niemanden. Gehorsam öffnete sie den Mund. Der Keks schmeckte ein wenig bitter. Daran war sie selbst schuld, sie hätte diesen nicht so lange im Ofen lassen sollen.
Das Füttern ging weiter. Als nächstes war Jochen dran, der Margot auf diese Weise versorgte.
„Wer füttert mich?“, wollte Oma Jantzen wissen.
„Hein, würdest du das bitte übernehmen?“
„Mach ich doch gerne, Käpt’n.“, grinste Hein, wie es seine Art war.

Dalli wunderte sich immer wieder darüber, dass Hein Jochen mit Käpt’n anredete und Ausdrücke der Seemansprache anstatt der Alltagssprache verwendete. Doch sie stellte keine Fragen.
„Möchte noch jemand etwas Tee? Die Kanne ist fast leer.“
Dalli hob die Hand, wie in der Schule. Auch Dick schloss sich mit dieser Geste an.
„Danke, ich habe noch.“, lehnte Ethelbert höflich ab. „Was ist mit dir, Ralf?“
„Eine zweite Tasse Tee hat noch keinem geschadet. Heute gönne ich mir diesen Luxus.“
„Dalli würdest du in die Küche gehen und noch etwas Tee aufbrühen?“, bat Oma Jantzen.
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Weihnachtsfrieden

Beitrag von Andrea1984 »

„Ein Köhm wäre mir lieber.“, meinte Hein, der zwar eine Tasse Tee vor sich stehen, aber bisher keinen Schluck daraus getrunken hatte.
„Den haben wir nicht.“, wiegelte Oma Jantzen ab. „Nicht, dass du wieder einschläfst, wie im Sommer.“
Dalli lachte, während sie aufstand, um den Auftrag, welchen ihr Oma Jantzen gegeben hatte, auszuführen. In der Küche war es kühl, deutlich kühler als im Wohnzimmer. Dalli fröstelte und beeilte sich daher, den Tee so rasch wie möglich aufzubrühen. Vorsichtig trug das Mädchen die Teekanne, stellte sie behutsam auf einem der Beistelltisch ab. Dann füllte Dalli die leeren Tassen mit Tee.
Aus dem Radio erklang leise Musik. Dalli konnte die Klänge zuerst nicht zuordnen, nahm daher an, dass es sich um einen Kennmelode, welche im Radio stets zur vollen Stunde ertönte, handelte.
„Das ist doch die 5. Symphonie von Beethoven!“, rief Ethelbert aus.
„Woher weißt du das?“
„Ich habe etwas in der Schule darüber gelernt. Beethovens ruhige Stücke schätze ich sehr.“
„Mir sind die Melodien von Mozart lieber, so heiter und schwungvoll. Beethoven hat etwas düsteres, schwerfälligeres an sich. Überdies kann man zu den Melodien von Beethoven nicht tanzen.“

Während des Einschenkens des Tees bei Ralf und Dick, lauschte Dalli sowohl der Musik, als auch der Diskussion von Dick und Ethelbert, die auf einer sachlichen Ebene geführt wurde. An diesem Tag trug Ethelbert anstatt der sportlichen Reitkleidung einen dunkelblauen oder schwarzen Anzug über dem weißen Hemd und einer dunklen Krawatte dazu. Seine Haare waren feucht, als ob er sie entweder gestern oder heute frisch gewaschen hätte. Dalli hätte Ethelbert am liebsten für seine schöne Aufmachung gelobt. Aber: Gehörte sich das vor allen Leuten? Und: Was sagte man in diesem Fall?

Nachdem die 5. Symphonie verklungen war, stand Jochen auf, ging hinüber und drehte das Radio wieder ab: „Wir sind doch nicht zum Radio hören hier, oder?“
„Was wollt ihr unternehmen, Jungs? Ihr seid unsere Gäste, also dürft ihr heute bestimmen.“
„Ich würde gerne nach Schneewittchen sehen, aber dafür bin ich viel zu fein angezogen.“, meinte Ethelbert. „Sie ist doch im Stall, oder?“
„Das weiß ich nicht.“, antwortete Jochen. „Ich habe zwar heute in der Früh nach den Ponys gesehen und da ist alles in Ordnung gewesen. Die Ponys entscheiden selbst, ob sie nach draußen gehen wollen oder nicht. Einige, besonders die jüngeren toben gerne im Schnee herum, während die älteren doch lieber im warmen Stall bleiben, weil der besser für ihre alten Knochen ist.“
„Dann siehst du eben morgen nach ihr?“, schlug Dalli vor. Sie neigte dazu, alles, was nicht unmittelbar wichtig war, auf den nächsten Tag zu verschieben. Dazu gehörten die unliebsamen Hausaufgaben.
„Glaubst du wirklich, dass Ralf und Ethelbert mal eben so über Nacht hier bleiben können?“
„Platz ist doch genug, in einem der Gästezimmer. Und wenn die Jungs keinen Pyjama mithaben, dann kann ihnen halt Jochen einen ausleihen.“
Nun war es Ethelbert, der in schallendes Gelächter ausbrach. Dalli begriff zuerst nicht, warum. Erst nach einer Weile dämmerte es ihr. Sie blickte Ethelbert genauer an und stellte fest, dass er, seit der vorigen Begegnung im September, ein gutes Stück gewachsen war.
„Jetzt muss ich zu dir hinaufschauen, mein Junge.“, meinte Jochen, der inzwischen wieder Platz genommen hatte und seine Pfeife stopfte. „Du hast dich prima herausgemacht in den letzten Jahren.“
Dalli kam es vor, als würde Ethelbert, diesmal voller Stolz um ein paar Zentimeter mehr wachsen.
„Mach dir keine Sorgen, wir haben alles nötige dabei.“, ergriff nun Ralf das Wort. „Dr. Westkamp hat mir frei gegeben, bis zum neuen Jahr, weil er im Winter weniger Aufträge hat.“
„Eigentlich müsste ich mich mit dir freuen, aber …“
„Nun was ist, Dicki? Jetzt ist doch dein Wunsch in Erfüllung gegangen, dass du mich ein paar Tage bei dir hast.“
Ralf beugte sich zu Dick, strich ihr eine Träne von der Wange.
„Wenn du nichts arbeitest, verdienst du doch auch nichts. Das ist dann irgendwie doof.“
„Ich bekomme mein Gehalt ja trotzdem oder gerade deshalb weiter, weil ich sozusagen Urlaub habe.“
„Oh, das ist natürlich etwas anderes.“
„Wir können hier nicht ewig rumsitzen. Ich brauche Bewegung.“
„Zappel doch nicht so herum, Dalli. Du bist kein kleines Kind mehr. Abgesehen davon ist es jetzt schon finster draußen. Du würdest dich nur verlaufen, selbst auf dem Weg vom Haus zum Stall.“
„Morgen ist ja auch noch ein Tag.“, ergänzte Jochen ruhig, wie es eben seine Art war.
„Wenn du dich unbedingt noch bewegen willst, dann kannst du ja Hannes beim Ausmisten helfen. Die Stallarbeit schafft er nicht alleine.“
Dalli blickte an sich herunter: Das hellblaue Kleid mit der großen Schleife auf dem Rücken war für die Stallarbeit absolut nicht geeignet. An den Feiertagen legte Oma Jantzen stets großen Wert darauf, dass die Mädchen ihre besten Kleider trugen und sich, nicht mehr als nötig, schmutzig machten.
„Ich werde mit Hannes reden, ob er Hilfe braucht.“, mit diesen Worten verließ Jochen das Wohnzimmer.
„Was gibt es neues bei dir? Wie geht es deiner Familie?“, wollte Dick von Ralf wissen.
„Ganz gut. Meine Schwester hat sich verlobt und will im nächsten Frühjahr heiraten. Vater hat schon, als Familienoberhaupt, seinen Segen dazu gegeben. Es ist nicht gerade einfach für meine Schwester gewesen, einen Mann zu finden.“
„Wieso das? Ist sie etwa anspruchsvoll, was das Aussehen oder den Charakter betrifft?“
„Nein, das nicht. Aber es sind viele Männer, die altersmäßig zu ihr gepasst hatten, als Soldaten im Krieg gewesen und entweder verwundet worden oder gar nicht mehr heimgekommen.“
„Ach so ist das. Wenn es sich ergibt, würde ich deine Familie gerne mal persönlich kennenlernen.“
„Ich werde mit meinen Eltern darüber reden. Allerdings sehe ich sie erst im nächsten Jahr wieder.“
„Das finde ich prima von dir. Dafür würde ich dir einen Kuss geben.“
„Tu das. Ein harmloser Kuss auf die Wange ist doch eine nette Geste, mehr nicht.“
„Oma Jantzen sieht uns doch dabei zu. Was mag sie sich nur denken?“

„Auf mich braucht ihr keine Rücksicht zu nehmen, Kinder. Ich habe doch gesehen, dass ihr euch liebt. Wenn es euch unangenehm sein soll, dann gucken wir eben mal kurz weg.“
„Nur zu: Worauf wartet ihr noch?“, rief Dalli, vorlaut wie es ihre Art war.
„Das lassen wir uns doch nicht zweimal sagen.“, Ralf wandte sich Dick zu, erst zögernd, dann forscher. Langsam berührten sich ihre Lippen. Beim Zusehen bekam Dalli Stielaugen.
„Ob es einmal jemanden geben wird, der mich auch so intensiv küsst? Dick legt ihre Hände zu Ralfs Hals. Vorsichtig, als ob sie Angst hat, ihn dabei zu verletzen.“
Dalli unterdrückte mühsam ein Seufzen. Wozu denn ins Kino gehen, wenn sie ein glückliches Paar direkt vor der Nase auch zu Hause hatte?

Jochen kam wieder zurück, versicherte, den Ponys gehe es gut, besonders Schneewittchen. Hannes habe die Ponys und auch die Großpferde für heute alleine versorgt, das schaffe er gerade noch.
„Morgen helfen wir ihm aber dabei. Es kann doch nicht sein, dass wir nur herumsitzen und faulenzen.“
Ralf zog Dick näher zu sich heran, legte ihr einen Arm um die Schultern.
„Dafür seid ihr doch da: Gäste, wie die Feriengäste im Sommer auch. Außerdem gibt es im Winter weniger Arbeit. Ihr könnt euch also ruhig entspannen.“, sagte nun Margot, die an diesem Tag bisher nur wenig geredet hatte.
„Wir sind doch Erwachsen und können arbeiten wie die Großen.“
„Ralf ist volljährig, das stimmt, aber du, Ethelbert, bist es leider noch lange nicht.“
„Wenn ich dann endlich einmal groß bin, dann …“
„Ja was dann..“, neckte Jochen. „Bis dahin hast du noch einige Jahre Zeit, um zu überlegen, was du aus deinem Leben machen möchtest.“
„Oh, das brauche ich nicht. Eines Tages werde ich das Gut meiner Eltern übernehmen, eines fernen Tages hoffe ich.“
„Bis dahin wird viel Wasser den Rhein hinunterfließen.“, ergänzte Margot.
„Jetzt sitzen wir immer noch herum. Ich will endlich wieder was tun.“, Dalli zappelte herum, wie ein Goldfisch auf dem Trocknen.
„Gut, dann kannst du dich um den Abwasch kümmern. Ein großer Berg an Geschirr wartet in der Küche auf dich.“, bestimmte Oma Jantzen. „Oder möchtest du mir lieber beim Aufwickeln der Wolle helfen?“
Dalli verzog das Gesicht, als ob sie Zahnschmerzen hätte.
„Das mit dem Entspannen gilt auch für dich Oma.“, ergriff nun Jochen wieder das Wort.
„Ich entspanne mich nun einmal am besten, wenn ich Wolle aufwickeln kann.“, konterte Oma Jantzen. „Da Dr. Pudlich heute nicht hier sein kann, weil er Bereitschaftsdienst hat, so brauche ich einen anderen Freiwilligen dafür.“
„Was machst du nur mit der vielen, aufgewickelten Wolle? Das wollte ich schon immer mal wissen.“
„Ach alles mögliche: Mal einen Pullover, dann ein Paar Socken, was gerade gebraucht wird. Die Wolle wegzuwerfen, das wäre doch schade.
Ethelbert öffnete den Mund, wollte offenbar etwas sagen, aber kein Ton kam heraus.
Jochen warf Ethelbert einen Blick zu, aus dem Dalli nicht schlau wurde.
„Was ist nun mit dem Abwasch?“
„Ist ja gut, ich gehe schon.“, Dalli stand auf, um ein Tablett zu holen, mit welchem sie die nunmehr leere Teekanne, die leeren Teetassen, die Teelöffel und die Zuckerdose in die Küche tragen konnte.
Beim Abwaschen wurde Dalli schnell wieder warm. Sie empfand es, beinahe als Lob, von Oma Jantzen im Haushalt und bei den Tieren gebraucht zu werden. Alles war besser, als das ständige Lernen für die Schule. Nachdem Dalli mit dem Abwaschen fertig war, wollte sie wieder ins Wohnzimmer gehen, um schnell noch die Nachrichten oder den Wetterbericht anhören zu dürfen.
„Der Wetterbericht sagt gutes Wetter für morgen voraus.“, berichtete Ethelbert mit leuchtenden Augen. „Wir können also reiten gehen oder spazieren gehen oder was auch immer in der Natur tun.“
„Ich weiß etwas, ich weiß etwas.“, Dalli würde am liebsten wie ein kleines Kind durchs Zimmer hopsen, doch sie beherrschte sich, da sie als erwachsen wahrgenommen werden wollte.
„Na was denn? Hat es etwas mit den Pferden zu tun?“
„Ganz bestimmt. Wir können doch mit dem Schlitten in Ruhe durch die Landschaft fahren.“
„Alle zusammen einem Schlitten? Oder jeder für sich?“
„Soviele Schlitten haben wir nicht, da wird es wohl einer für alle vier oder fünf tun.“, ergänzte Jochen.
„Wieso fünf?“, wollte Dalli wissen.
„Ich kann euch Mädels doch nicht alleine mit den Jungs losziehen lassen. Da könnte wer-weiß-was passieren.“
„Außerdem muss einer die Pferde lenken, das ist nur etwas für ‚nen starken Mann.“, prahlte Ethelbert.
„Gib nicht so an. Aber im Grunde hast du schon recht. Einige Ponys sind das Fahren vor dem Schlitten noch nicht gewöhnt und würden daher schnell durchgehen. Deshalb muss immer ein Erwachsener dabei sein, damit euch und auch den Ponys nichts geschieht. Das seht ihr doch ein?“
Dalli nickte: Ja, sie hatte verstanden. Und war felsenfest davon überzeugt, dass ihr nichts geschehen konnte, solange die Ponys, die ja gut dressiert waren, im Schritt oder in einem leichten Trab gingen.

Am nächsten Morgen, gleich nach dem Frühstück, spannten Dalli und Dick die Ponys ein, während Ethelbert, Ralf und Jochen den Schlitten vorbereiteten. Die Ponys stampften mit den Hufen, als ob sie endlich loslaufen wollten und es gar nicht mehr abwarten konnten, endlich wieder ins Gelände gehen zu dürfen. An diesem Tag kam die Sonne nur zeitweise hinter den dichten Wolken hervor. Es war so kalt, dass Dalli ihren Atem deutlich in der Luft sehen konnte. Immer wieder hauchte sie in ihre Hände, um die Finger warmzuhalten. Handschuhe trug sie zwar, aber die waren vom vielen Tragen sehr durchlässig geworden. Ihre langen Locken fielen, unter der blauen Mütze auf die Schultern herab, während Dicks kurze Locken sich problemlos unter einer braunen Mütze, die gut zu den gleichfarbigen Handschuhen passte, verbergen ließen. Auch die Jungs trugen Mützen und Handschuhe. Ethelbert in grün, Ralf in rot. Dalli hingegen bevorzugte blaue Handschuhe und eine blaue Mütze, da blau nun einmal ihre Lieblingsfarbe war und überdies gut zu ihren blauen Augen passte.

„Worauf warten wir noch?“, wollte Dalli wissen.
„Auf Margot. Sie möchte auch mitfahren, hat aber zuvor noch Oma in der Küche geholfen. „
„Ach so, dann bin ich beruhigt. Wir können doch Oma und Hein und Hannes auch mitnehmen.“
„Das hält doch der Schlitten nicht aus.“, antwortete Jochen entrüstet. „Da kommt Margot schon. So nun nehmt eure Plätze ein. Wer möchte vorne neben mir und wer auf der Rückbank sitzen?“

Eine Weile wurde diskutiert. Dalli wollte am liebsten vorne sitzen, weil sie dort alles am besten sehen konnte. Ethelbert argumentierte, er habe als Gast auf dem Immenhof Anspruch darauf, den Platz in der ersten Reihe einzunehmen. Dick entgegnete, sie sei klein und könnte nichts sehen, wenn ständig jemand großer vor ihr säße. Ralf hingegen meinte, er bekäme in der freien Natur immer genug Inspiration für neue Zeichnungen. Er mochte lieber hinten sitzen, damit das Gewicht gleichmäßig auf dem Schitten verteilt wurde. Schließlich einigte man sich darauf, dass Jochen zwar den Schlitten lenkte, wie es abgemacht war, allerdings von der Rückbank und nicht von der ersten Reihe aus.
Auch Ethelbert und Ralf saßen hinten, während die Mädels, wozu Dalli auch Margot zählte, vorne sitzen durften. Selbstverständlich in dicke Decken eingewickelt. Dalli schnupperte. Es roch nach frischem Heu. Offenbar hatte eines der Ponys sich in der Nacht oder in der Früh im Heu gewälzt.
Jochen gab das Signal zum Abfahren, in dem er leise mit der Zunge schnalzte. Vorsichtig nahm er die Zügel auf. Schon setzten sich die Ponys in Bewegung. Dalli blickte aufmerksam umher, um sich nur ja nichts entgehen zu lassen. Wie ruhig alles wirkte. Die Bäume, der Bach, der unter einer dichten Schneedecke lag, das Eichhörnchen, welches gerade einen Baum hinaufkletterte.
Dalli hatte das alles schon oft gesehen, doch sie war noch nie so glücklich wie heute gewesen. In diesem Augenblick kam ihr zu Bewusstsein, wie gut es sie es auf dem Land hatte. Plötzlich blieben die Ponys stehen. Der frische Geruch nach Harz und Tannennadeln mischte sich mit einem speziellen Apfel.
„Oh, das ist wieder typisch, Blessie. Wir wollen doch schneller fahren und dann muss er ausgerechnet jetzt etwas fallen lassen.“, jammerte Ethelbert.
„Von schneller fahren ist nie die Rede gewesen. Wir haben es ja nicht eilig. Oma Jantzens gemütliches Sofa steht auch in einer Stunde noch da.“
„Diese Ruhe, einfach herrlich.“, schwärmte Ralf. „In der Stadt ist es immer so hektisch, so laut. Motoren dröhnen, Glocken klingeln und wenn es mal wirklich für einen Augenblick zumindest ruhig ist, dann rast die Feuerwehr mit 120 Sachen vorbei, weil sie dringend einen Brand löschen muss.“
„Das Leben in der Stadt wäre nichts für mich.“, nuschelte Dick in ihren warmen Schal, den sie sich bis zum Mund hinaufgezogen hatte, um sich vor der Kälte zu schutzen. „Hier ist es doch viel schöner.“
„Blessie, würdest du bitte dein Gesäß in Bewegung setzen.“, verlegte sich Ethelbert aufs Bitten.
Als ob das Pony ihn verstehen konnte, verfiel es in einen leichten Schritt.
„Brav, dafür hast du dir nachher auch ein Stück Zucker verdient.“
„Ein Stück Brot wäre besser: Zucker ist doch schlecht für die Zähne.“, meinte Margot besorgt.
„Ach was: Blessie frisst doch beinahe alles.“
„Nicht, sonst wird er noch zu dick.“, Dick schob den Schal von ihrem Gesicht herunter.
„Wie der Herr, so das G’scherr.“, setzte Dalli eines drauf.
„Was willst du damit sagen?“, ein neutraler Tonfall von Ethelbert.
„Schneewittchen ist nicht dick, sie steht nur gut im Futter.“, zog sich Dalli aus der Affäre.
„Seid doch mal bitte für einen Augenblick still.“, Jochens Stimme eindeutig. „Ich kann mich nicht auf das Lenken konzentrieren, wenn ihr die ganze Zeit durcheinander redet.“
„Ist ja schon gut.“, lenkte Dalli ein. „Manchmal gehen eben die Pferde mit mir durch.“
„Hoffentlich kann man diese Redensart heute nicht allzu wörtlich nehmen.“, ergänzte Ethelbert.
„Nur keine Sorge, ich hab’s ja auch nicht so gemeint, Kinder. Nun beschleunigen wir mal das Tempo ein wenig: Blessie, Emil. Wie wäre’s mit einem leichten Trab? Ein Galopp ist mir zu schnell.“
Erst langsam, dann immer schneller setzten sich die Ponys in Bewegung. Nach einer Weile im schnellen Trab, parierten sie wieder zum Schritt durch. Dalli war stolz auf Jochen. Und wie gut die Ponys ihm gehorchten, dabei war er im Umgang mit ihnen noch nicht so gut geübt, wie im Umgang mit den Großpferden, die er vor einigen Jahren auf den Immenhof mitgebracht hatte.

Nach der Schlittenfahrt versorgen Dalli, Dick und Ethelbert die Ponys, während Margot in der Küche stand, um Oma Jantzen zu helfen. Ralf ging, gemeinsam mit Jochen auch nach drinnen.
„So, nun seid ihr fertig geputzt.“, Dick gab Blessie einen leichten Klaps auf die Kruppe. „Dass ihr euch nicht wieder so lange im Dreck wälzt, wie das letzte Mal.“
Blessie wieherte noch einmal kurz und lief dann auf die Weide, während Emil, ein kleiner weißer Wallach, in der Nähe des Zaunes stehen bleib und die Nase Richtung Boden steckte.
„Ein Pferd oder zumindest ein Pony müsste man sein.“, seufzte Ethelbert.
„Wieso das denn?“
„Ganz einfach: Da bekommt man alles, ohne sich großartig dafür anstrengen zu müssen: Futter, Wasser, Streicheleinheiten.“
„Oh, Blessie kann ganz schon viele Kunstücke. Ich hab ihm einige beigebracht.“, meinte Dalli.
„Und was bekommt er dafür?“
„Eine Streicheleinheit und vielleicht noch ein Leckerli, je nach dem, was gerade übrig ist.“
„Seht mal, wer da ist. Hallo, was machst du denn hier?“, Dick bückte sich, um die Katze Minka, die gerade aus dem Stall gelaufen kam, hochzuheben. „Wo hast du denn so lange gesteckt?“
Dalli hörte, wie Minka schnurrte und die Augen halb schloss.
„Jetzt streichle ich sie noch, aber sanft, damit sie nicht wieder aufwacht.“
„Eine Katze ist doch was feines. Sie fängt bestimmt ab und an mal eine Maus.“
„Fast täglich. Oma Jantzen ist nicht begeistert davon, auf der Fußmatte eine tote Maus zu finden.“
Dalli grinste bis über beide Ohren, während Ethelbert die Nase rümpfte.
„Und was macht ihr dann?“
„Minka loben und die Maus heimlich, wenn Minka es nicht mitbekommt, in die Tonne werfen.“
„Igitt, dabei vergeht mir doch fast der Appetit.“
„Naja, du hast ja gefragt.“, Dalli zuckte mit den Schultern. „Was machen wir jetzt?“

„Essen gehen. Oma schimpft bestimmt, wenn wir zu spät zum Essen kommen.“, antwortete Dick. „Lasst uns noch schnell die Hände waschen.“
„Ich habe einen Hunger wie sieben Wölfe. Bestimmt gibt es wieder Klöße.“, behielt Dalli das letzte Wort. An diesem Tag lag sie jedoch daneben. Fisch und Gemüse wurden aufgetragen.

Ralf bat darum, sich das Rezept des Fisches geben zu lassen. Seine Mutter koche gerne und probiere immer etwas neues dabei aus. Das Rezept kenne er noch nicht, doch es schmecke vorzüglich.
Oma Jantzen war tatsächlich am Vormittag einkaufen gewesen, allerdings hatte sie keine Spur von Mans Mutter gesehen, was in der Masse von vielen Spuren, die kreuz und quer durch das Dorf verliefen, auch kein Wunder sei.
„Mach dir mal keine Sorgen, Mans hat bestimmt daheim in der Schmiede viel zu tun.“
„Das hoffe ich auch, aber ich habe ein ungutes Gefühl.“, meinte Dick, während sie den Fisch zerteilte und von den Gräten befreite.
„Sieh doch nicht immer alles gar so schwarz. Wenn man in deine Jahre kommt …“, neckte Dalli. Ja, sie durfte sich diesen Tonfall ihrer Schwester gegenüber erlauben. „… wird man bequem.“
Zuletzt geändert von Andrea1984 am Sa 08.Jun.2019 23:15, insgesamt 4-mal geändert.
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Ein kleiner Ausflug

Beitrag von Andrea1984 »

Nach dem Essen wollte Dalli eigentlich zu den Pferden und den Ponys in den Stall gehen, merkte jedoch, dass sie ihre neue Reithose oben im Zimmer vergessen hatte. Auf dem Weg dorthin, hörte Dalli das Rascheln einer Zeitung. Vermutlich las Jochen darin, da Oma Jantzen immer flink auf den Beinen war und keine Zeit zum Zeitungslesen hatte.
„Was soll aus dem Forsthaus werden? Es steht nun schon seit über einem Jahr leer.“, Jochens Stimme eindeutig. Dalli blieb stehen. Das klang ja interessant, was es da zu hören gab.
„Die Pacht fällt weg. Schade, weil es eine gute Einnahmequelle gewesen ist.“
„Man müsste, das Forthaus neu verpachten. Vielleicht an Gäste aus der Stadt?“
„Dafür ist es nicht eingerichtet. Und für eine Renovierung fehlt uns das Geld.“, antwortete Oma Jantzen.
„Die Gäste würden bestimmt einen guten Preis bezahlen. Es wäre ja nur für ein paar Tage. Dann kommen wieder neue Gäste, die wieder etwas Geld in die Kassa bringen.“, diesmal war es Margots Stimme.
Dalli duckte sich nahe an der Wand entlang, um nicht gesehen zu werden. Sie konnte daher nur hören, was im Wohnzimmer vor sich ging.
Die Zeitung raschelte. Offenbar legte jemand sie weg.
„Ich weiß nicht recht. Schau dir doch mal das Forsthaus an. Für Hein und für dich hat es ja noch gereicht, weil ihr nicht viel gebraucht habt. Aber die Gäste wollen nur das teuerste und das beste haben. Strom und fließendes Wasser und wer weiß was noch alles. In jedem Zimmer ein Radio.“
„Das Forsthaus leer stehen lassen, ist auch keine Option, weil es dann schnell verfällt.“
„Ich sehe morgen nach dem Rechten.“
„Würdest du? Das wäre nett von dir, Jochen.“
Schritte klapperten. Jemand durchquerte das Wohnzimmer. Das Sofa knarrte. Wer auch immer gerade herumgewandert war, hatte sich nun wieder hingesetzt.
„Ich komme mit. Zu zweit können wir uns es vor dem Kamin gemütlich machen und einfach mal ein paar Stunden genießen. Hier ist doch immer etwas los. Entweder die Tiere brauchen dich oder die Mädels.“, meinte Margot. „Und im Sommer haben wir, wegen der vielen Gäste fast kaum eine ruhige Minute für uns gehabt.“
„Dick ist schon richtig verständig, fast wie eine junge Dame. Dalli hingegen.“, Oma Jantzen seufzte. „Ich habe sie einfach zu sehr verwöhnt.“
„Du hast ihnen ein Zuhause gegeben. So selbstverständlich ist das nicht gewesen.“, sagte Margot.
„Und die Mädels arbeiten hart. Sie wissen, dass die Milch nicht aus der Packung, sondern von der Kuh kommt. Viele Kinder haben heutzutage keine Ahnung mehr, wie es auf dem Land zugeht.“
„Wie wahr. Es kommt mir so vor, als sei es erst gestern gewesen, dass Angela, Dick und Dalli aus heiterem Himmel auf dem Immenhof angekommen sind, dabei ist das schon viele Jahre her.“
„Wenn wir einmal eine Tochter haben sollten, wäre es dir recht, wenn sie den Namen Angela bekommen würde?“
„Ich wollte dir gerade dasselbe vorschlagen. Auch wenn ich Angela nicht gekannt habe, so ist sie doch ein Teil deines Lebens, den ich akzeptieren muss.“
„Von „müssen“ kann nun wirklich keine Rede sein.“, antwortete Jochen ruhig. „Ich habe Angela auch geliebt, auf eine andere Weise als ich dich liebe.“
„Ich dachte, du hast mich nur des Geldes wegen geheiratet?“, Dalli konnte den neckischen Tonfall deutlich heraushören.
„Oh ein bisschen Mitgift hat noch keinem geschadet. Und wir können, deinem Vater sei dank, wieder auf dem Immenhof leben. Damit hätte ich überhaupt nicht gerechnet.“
„Wie wäre es, wenn ich mit Pappi bezüglich des Forsthauses rede? Vielleicht kann er uns helfen, wie wir das Problem am besten lösen können?“
„Er ist doch beruflich im Ausland?“, wunderte sich Oma Jantzen.
„Das stimmt, Doch er kommt, so Gott will, in ein paar Wochen wieder zurück. Seine Geschäfte müssen ja das ganze Jahr über laufen, im Winter, wie im Sommer. Wenn er nicht in Eltville ist, dann gibt Erika auf alles acht.“
„Die Pferde und die Ponys haben im Winter so etwas wie Schonzeit. Einige Stuten sind trächtig und sollen im kommenden Frühjahr niederkommen. Zwei der Stuten sind schon zu alt, um zugelassen zu werden und zwei weitere der Stuten, darunter Schneewittchen, noch zu jung.“

Dalli schlich sich leise davon, weil sie schon genug gehört hatte. Ja, es stimmte. Sowohl, das mit dem verwöhnt werden, als auch mit dem hart arbeiten. Dalli war sich durchaus im klaren darüber, dass andere Kinder es nur halb so gut wie Dick und sie hatten. Frische Luft gab es in den Großstädten nicht, da überall Fabriken aus dem Boden schossen und Autos mit den Abgasen einen fürchterlichen Gestank verbreiteten. Dalli schüttelte sich, wie ein Hund, der in den starken Regen gekommen war.
Schnell nahm sie ihre Reithose, kleidete sich um und huschte in den Stall, wo schon die Pferde und die Ponys warteten.
Nicht nur jene, sondern auch Hein war da. Er mistete gerade eine leerstehende Box aus.
Dalli fragte, ob sie etwas helfen dürfe. Hein nickte.
„Was liegt an?“
„Blessie muss geputzt werden. Er hat sich heute Vormittag mal wieder in seinem eigenen Mist gewälzt.“
„Na dann wollen wir sehen, ob wir dich wieder sauberbekommen. Das wäre doch gelacht.“
Dalli holte sich einen Striegel und eine Bürste, ging hinein in die Box, wo Blessie schon wartete.

Eine Weile war alles ruhig. Blessie malmte mit den Zähnen, als ob er etwas sagen wollte. Dalli redete leise mit dem Wallach, sprach mit ihm. Sie war überzeugt davon, dass er alles verstand. Auf dem Immenhof waren viele der Hengste, sobald sie das entsprechende Alter erreicht hatten, gelegt worden, um Rangstreitigkeiten zu vermeiden. Es gab jeweils bei den Großpferden und bei den Ponys nur einen Hengst, der für die Zucht zuständig war. Mehrere Hengste in einer Herde würden das gute Einvernehmen, dass zwischen den Tieren bestand, auf Dauer zerstören, da jeder der Boss sein wollte. Nur selten wurde ein Hengst als solcher geboren und auch verkauft. Viele der Käufer zogen Stuten oder Wallache vor, da jene sich leichter als die wilden Hengste dressieren ließen.

Während Dalli auch die anderen Ponys versorgte, die im Stall standen, lauschte sie, mehr aus Höflichkeit, als aus wahrem Interesse, den alten Geschichten, die Hein erzählte. Dalli war überzeugt davon, dass viele der Geschichten entweder übertrieben oder erlogen ware, wollte jedoch dem alten Herren die Freude am Erzählen nicht verderben. Außerdem: Wann gab es schon mal die Gelegenheit mit Hein alleine zu sein und in Ruhe zuzuhören? Oft wurden die Erzählung unterbrochen, weil es entweder für Dalli oder für Hein etwas im Stall oder im Haus zu tun gab oder es war zu spät und Dalli wurde zu Bett geschickt, obwohl sie viel lieber aufgeblieben wäre. Besonders abenteuerlich hörten sich die Geschichten meistens an, weil Hein etwas Köhm oder Portwein konsumiert hatte.

„Dalli? Hier steckst du. Ethelbert und Ralf wollen abreisen.“, Dick steckte den Kopf zur Türe hinein.
„Schon? Ich dachte, sie wollten noch einige Tage bleiben.“, Dalli legte die Mistgabel beiseite. „Kommst du auch mit Hein?“
„Ja, natürlich. Hier im Stall ist schon alles erledigt. Außerdem habe ich Lust auf einen guten Tropfen.“
Dalli empfand, als sie sich von Ethelbert verabschiedete, ein seltsames Ziehen in der Magengegend, als ob sie Schmetterlinge im Bauch hätte.
„Ich wäre gerne länger geblieben.“, meinte Ethelbert. „Aber Ralf besteht auf der Abreise.“
„Oh, das liegt nicht an mir, sondern an Dr. Westkamp. Er hat kurzfristig einige Aufträge bekommen, welche er an mich weiterleitet und die auch gut bezahlt werden. Von Luft und Liebe alleine, kann ich nicht leben, das weißt du doch ebenso.“
„Schreibst du mir?“, Dick sah Ralf mit flehenden Blicken an.
„Natürlich. Das verspreche ich dir. So und nun halt die Ohren steif. Wir sehen uns bestimmt wieder.“
„Warum bleibst du nicht alleine hier?“, wollte Dalli von Ethelbert wissen. „Du hast bestimmt genug Geld, um mit der Bahn von Hamburg nach München zu fahren und bist nicht von Ralf abhängig?“
„Wenn das so einfach wäre. Außerdem habe ich Ralf seit Monaten nicht mehr gesehen. Und möchte auch etwas Zeit mit ihm verbringen. In Lübeck ist überdies mehr los, als hier in Malente.“
„Wer wartet denn dort auf dich? Niemand. Ralf muss arbeiten.“, Dalli war den Tränen nahe. „Und deine Eltern auch. Hier bekommst du alles, was du willst: Gutes Essen, ein warmes Dach über dem Kopf und viele nette Ponys, die sich auf Streicheleinheiten von dir freuen. Ganz bestimmt.“
„Dalli. Was soll das? Das wird nur peinlich.“, Dicks Kopf war rot, wie eine reife Tomate.
„Irgendwie hat Dalli schon recht. Ich werde in den nächsten Tagen viel zu tun haben und wenig oder keine Zeit haben, mich um dich zu kümmern.“, sagte Ralf. „Dann ist es besser, wenn du hier bleibst.“

Das Ende vom Lied war, dass nur Ralf abreiste und Ethelbert auf dem Immenhof blieb, sogar bis zum Jahreswechsel, allerdings nach diesem gleich wieder zurück nach München fahren musste, um dort für das Abitur zu lernen, wie er es seinen Eltern versprochen hatte. Dalli freute sich sehr darüber, ließ sich jedoch ihre Freude nach außen hin nicht anmerken. Vielleicht ergab sich, wie schon in Eltville, eine Gelegenheit mit Ethelbert unter vier Augen zu plaudern, einfach nur so. Aber diesmal war das Schicksal gegen Dalli. Ethelbert half zwar überall brav mit, unter anderem beim Versorgen der Tiere und bei anderen Reperaturarbeiten, die im Haus und im Stall anfielen, vermied jedoch jedes vertrauliche Gespräch. Dalli verstand nur Bahnhof: Hatte sie Ethelbert etwa zu sehr bedrängt?
Erst kurz vor seiner Abreise konnte sie mit ihm darüber reden. Ethelbert meinte, er sei im Stress und könne sich ein paar Tage ausspannen eigentlich nicht leisten.
„Bist du mir böse, weil ich dich mit dem Vorschlag hier zu bleiben, überrumpelt habe?“
„Nein, wie kommst du darauf. Ganz im Gegenteil. Ich freue mich immer, hier sein zu dürfen.“
Dalli lächelte erleichtert und sah, wie Ethelbert diese Geste erwiederte.
„Wirst du mir schreiben? Oder hast du dafür keine Zeit?“
„Warum soll ich dir schreiben? Soviel passiert bei mir nicht.“
„Ralf schreibt ja auch mit Dick.“
„Das ist was anderes.“, Ethelbert ging hinüber zum Schrank, nahm zwei Hemden heraus, legte sie sorgfältig in den Koffer, welcher auf dem Bett ausgebreitet war. „Die beiden sind befreundet.“
„Mehr als das. Ich glaube, dass Dick Ralf wirklich liebt. Aber bei ihm bin ich mir nicht sicher.“
„Ralf hat nur wenige Freunde. Er schließt nicht so schnell Freundschaft. Wenn er jemanden mag, kannst du davon ausgehen, dass Ralf es auch wirklich so meint.“
„Mögen alleine ist zu wenig. Ich glaube, wenn er Dick das Herz brechen würde, sie käme nie darüber hinweg. Er ist nun mal ihre große Liebe.“
„Ich dachte, sie mag mich.“, Ethelbert schloss den Koffer zu, setzte sich auf das Bett.
„Wie einen Bruder, den sie nie gehabt hat. Kannste mir schon glauben, dazu kenne ich Dicki gut genug.“
„Ich habe auch mit ihr geschrieben. Allerdings bin ich ein wenig schreibfaul gewesen.“
„Na siehste. Was mit Dicki geht, geht dann mit mir auch. Oder was spricht dagegen?“
„Eigentlich nichts. Also gut: Ich werde dir schreiben. Erwarte dir jedoch nicht zuviel von mir.“

Erst nach zwei Wochen hielt Dalli den ersten Brief von Ethelbert in den Händen. Sie las und beantwortete ihn, so schnell sie konnte. Die Antwort seinerseits ließ jedoch auf sich warten. Dalli machte sich keine großen Sorgen, sie wusste ja, dass Ethelbert viel zu tun und daher wenig Zeit zum Schreiben hatte. Wiederum zwei Wochen später feierte Dalli ihren 16. Geburtstag. Sie bekam nur wenige Geschenke, wie es auf dem Immenhof seit jeher üblich war. Diesmal erhielt sie auch Handtücher und Bettwäsche, die als Teil der Aussteuer dienen sollten. Dalli machte sich darüber keine Gedanken. Aussteuer das klang nach tiefstem Mittelalter. Außerdem war sie noch jung und brauchte noch nicht ans Heiraten zu denken. Erst war doch sowieso Dick an der Reihe, da sie älter war.

Im Februar und im März kamen die ersten Fohlen des neuen Jahres zur Welt. Dalli war fast bei jeder Fohlengeburt dabei, außer wenn diese vormittags und an Werktagen stattfanden. Alle Fohlen waren gesund und munter. Bereits im Sommer würden sie, gemeinsam mit ihren Artgenossen, entweder auf dem Immenhof auf der Weide herumtoben oder bei einem neuen Besitzer. Ja auch die kleinsten Tiere mussten verkauft werden, sobald sie alt genug dazu waren. Ein Fohlen brachte einiges an Geld ein.

Ende April kamen Dalli und Dick von der Schule hungrig von der Schule heim. Aufgrund des warmen Wetters, war der Mittagstisch im Freien gedeckt worden. Es gab Kartoffeln mit Soße. Ein gewöhnliches Alltagsessen. Etwas machte Dalli stutzig. Warum rauchte Jochen heute nicht? Hatte er etwa mit dem Rauchen aufgehört? Oder war seine Pfeife kaputt gegangen?
„Was schreibt Ralf?“, wollte Dalli wissen.
„Nicht viel. Er ist einige Tage erkältet gewesen, befindet sich jedoch inzwischen auf dem Weg der Besserung.“
„Da kannst du ihm ja nicht mal einen Kuss geben, aus Sorge, dich mit der Erkältung anzustecken.“
„Wenn ich könnte, würde ich nach Lübeck fahren, um Ralf endlich wiederzusehen. Ich habe schon fast vergessen, wie er aussieht.“
„Du hast doch sein Bild auf dem Nachttisch stehen?“
„Das Bild ist ein halbes Jahr alt. In dieser Zeit verändert sich ein Mensch so schnell.“
„Dann schreib doch Ralf einfach, er soll dir ein aktuelles Bild oder Photo schicken. Oder wird das zu teuer?“
„Er hat auch ein Porträt von mir bei sich zu Hause. Eine handgefertigte Bleistiftzeichnung.“
„Na siehste, wie er dich gern hat. Bei seiner Schwester würde er das nicht machen.“
„Ethelbert schreibt dir ja auch?“
„Ja, aus reiner Höflichkeit. Mehr nicht.“, Dalli verbarg ihr Gesicht in der Serviette, um sich die Mundwinkel damit abzutupfen.

Am anderen Ende des Tisches plauderten Margot und Oma Jantzen miteinander. Allerdings so leise, dass Dalli kein Wort verstehen konnte, so sehr sie die Ohren auch spitzte.
Hannes und Hein nahmen ihr Mittagessen, wie immer, in der Küche ein. Es gehörte sich nicht für Angestellte, am gleichen Tisch wie die Chefs zu sitzen, soviel wusste Dalli bereits Bescheid. Sie fand es zwar ungerecht den Herren gegenüber, konnte es jedoch nicht ändern, so sehr sie es versuchte.
Trine räumte die Teller ab, brachte den Nachtisch: Erdbeereis mit Schlagsahne. Die Erdbeeren stammten aus dem Garten des Immenhofs, waren im letzten Jahr geerntet und den Winter über kühl gelagert worden, damit sie nicht verdarben. Ein Schmetterling flatterte dicht vor Oma Jantzens Nase herum. Irgendwo zwitscherte ein Vogel. Die Sonne stand hoch am Himmel.
Jochen erhob sich, klopfte an sein Wasserglas, das vor ihm auf dem Tisch stand: „Seid mal ruhig: Ich habe euch etwas Wichtiges zu sagen.“
Dall legte die Serviette beiseite, wandte den Blick Richtung ihres Schwagers. Auch das Geplauder von Oma Jantzen und Margot verstummte.
„Wir bekommen Nachwuchs.“
„Ja, ich bin im 3. Monat schwanger.“, verkündete Margot mit stolzgeschwellter Brust.
„Ich gratuliere euch. Demnach ist es Ende Oktober soweit, wenn ich richtig gerechnet habe.“
Dalli schloss sich der Gratulationen an, wenngleich sie es sich kaum vorstellen konnte. Margot sah doch noch rank und schlank aus, zumindest von der Ferne. Erst bei näherem Hinsehen konnte man eine leichte Wölbung unter dem geblümten Kleid erkennen.
„Weiß dein Vater es schon?“, wollte Dick wissen.
„Ich werde es ihm noch heute telegraphieren.“, antwortete Margot. „Das ist am schnellsten und am billigsten.“
„Wie ein Opa sieht Onkel Pankraz nun nicht gerade aus.“, scherzte Dalli.
„Wie soll den ein Opa deiner Meinung nach denn aussehen?“
„Alt, mit grauen Haaren und einem dichten weißen oder grauen Bart.“, erwiderte Dalli unbekümmert, wie es ihr Art war. Den strafenden Blick von Oma Jantzen nahm sie dafür gerne in Kauf.

„Am liebsten wäre ich an Margots Stelle.“, flüsterte Dick.
„Wieso das?“, gab Dalli ebenso leise zurück.
„Ich hätte auch gerne ein kleines Baby, dass ich verwöhnen kann.“
„Von Ralf?“
„Von wem auch sonst. Allerdings bin ich noch nicht volljährig und muss daher noch etwas warten, bis ich heiraten darf. Außerdem hat Ralf mich noch nicht gefragt, ob ich seine Frau werden will.“
„Warum probierst du es nicht schon vor der Ehe aus?“
„Dalli, wie kommst du auf solche Ideen? Keine anständige Frau tut so etwas. Und jetzt genug davon.“

„Ich werde im Sommer mitarbeiten, solange es mir gut geht.“, meinte Margot. „Reiten darf ich leider nicht mehr, dafür kann ich mich im Haus nützlich machen und Trine ein wenig zur Hand gehen.“
„Das ist eine gute Idee. So Kinder und nun esst, das Eis fängt langsam zu schmelzen an.“
Dalli ließ sich das nicht zweimal sagen. So einen Luxus gab es nur höchst selten im Jahr.
„Wo soll das Baby schlafen?“
„In der ersten Zeit bei uns im Schlafzimmer. Und dann wird es ein eigenes Zimmer brauchen.“, antwortete Jochen auf Dicks Frage hin, während er sein Eis löffelte.
„Habt ihr schon einen Namen?“, diesmal kam die Frage von Oma Jantzen.
„Wir wissen ja noch nicht mal, was es wird. Und wollen uns überraschen lassen. Spätestens bis zur Geburt werden wir den passenden Namen gefunden haben.“, lächelte Margot erfreut.

Zwei Tage später traf die Antwort auf Margots Telegramm ein. Pankraz äußerte in wenigen Worten seinen Freude darüber, Großvater zu werden. Und er wolle, selbstverständlich dem Baby etwas schenken. Mehr dazu schriebe er in einem Brief, der noch auf dem Postweg sei.
„Eine Wiege kann ich selbst herstellen.“, Jochen faltete das Telegramm zusammen.
„Die Babyausstattung stricke ich eigenhändig.“, ergänzte Margot, eine Hand auf ihren Bauch gelegt.
„Lass mich das machen. Du musst dich doch schonen.“, bot Oma Jantzen an.
„Das Baby wird dein Urenkelkind sein, sozusagen.“
„Ja, so kann man sagen.“, Oma Jantzen strahlte wie die aufgehende Sonne. „Was soll ich zuerst stricken? Ein Jäckchen oder ein Höschen? Oder ein paar kleine Söckchen?“
„Wie du willst. Das überlasse ich ganz deinen hervorragenden Fähigkeiten.“

Dalli wollte sich auch nützlich machen, doch was das Handarbeiten anging, hatte sie zwei linke Hände. Dick hingegen versprach, Oma Jantzen beim Stricken zu unterstützen und sei es auch nur beim Halten der Wolle. Noch am selben Tag erfuhr auch Dr. Pudlich die Neuigkeit.
„Endlich wird’s mal wieder ein kleines Baby hier auf dem Immenhof geben. Ich mag Babys gerne.“
„Dabei haben Sie nie welche gehabt.“, erwiderte Oma Jantzen, deren Stricknadeln bereits klapperten.
„Es sollte eben nicht sein. Ich kann trotzdem gut mit Babys und Kinder umgehen.“
Trine nahm die Neuigkeit gleichgültig auf, ebenso wie Hannes. Hein hingegen meinte: „Gratuliere zu dem guten Treffer, Captain. Alle Achtung.“
„Hein!“, entrüstete sich Oma Jantzen, während Dalli und Jochen sich vor Lachen bogen.
„Es ist eben seine Art, seine Freude zu zeigen.“, meinte Dick. „Er kann aus seiner Haut nicht heraus. Darf ich Ralf Bescheid sagen?“
Margot und Jochen wechselten einen Blick, nickten dann einstimmig.
„Er wird’s entweder jetzt erfahren, oder wenn er wieder einmal zu Besuch kommt.“, ergänzte Margot.
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Beitrag von Andrea1984 »

„Lieber Ralf,

vielen Dank für deinen vorigen Brief. Ich freue mich sehr darüber. Und sehne mich so nach dir …“

„Dalli, was soll das?“, rief Dick, die am Schreibtisch lehnte, halb entsetzt, halb entrüstet aus, griff zu der Haarbürste, die mitten auf dem Nachttisch lag. „Man liest doch nicht anderer Leute Briefe.“
„Ralf schreibt dir regelmäßig, du kannst dich also kaum beschweren.“, konterte Dalli.
„Außerdem steht das nicht im Text, was du da laut vorgelesen hast.“
„Ich weiß, ich will dich doch nur ein wenig auf den Arm nehmen.“
„Deshalb bist du bestimmt nicht einfach so in mein Zimmer hineingeplatzt, oder?“
„Die Ponys brauchen Bewegung und ich auch. Alleine ausreiten ist langweilig.“, Dalli setzte sich auf das Bett, baumelte mit den Beinen. „Da habe ich doch niemanden zum Reden.“
„Wenn du mich in Ruhe den Brief schreiben lässt, dann reite ich danach mit dir aus, versprochen.“

Dalli hüpfte vom Bett, nickte, zum Zeichen, dass sie verstanden hatte, verließ das Zimmer und ging nach nebenan. Seit einiger Zeit hatte das junge Mädchen endlich ein eigenes Zimmer, dass früher entweder eine Abstellkammer oder eine Dienstbotenkammer gewesen war, und musste es sich nicht mehr mit ihrer Schwester teilen. Nun konnte sie jederzeit ihre Kleidung verstreuen, die Katzen zu sich ins Bett holen und abends noch länger Radio hören, als erlaubt war, ohne dass sich Dick darüber beschwerte, weil sie ihre Ruhe haben wollte. Der Nachteil war nur: Dalli musste sich nun selbst um die Ordnung in ihrem Zimmer kümmern, obwohl ihr die Hausarbeit überhaupt keinen Spaß machte.

„Für das Arbeiten bin ich alt genug, aber für das Fortgehen, zum Beispiel in den Dorfkrug, noch zu jung.“, dachte Dalli, während sie die Ponys für den Ausritt sattelte und die Trensen in die Mäuler der Tiere schob. Nach Blessie kam Arabella, eine Schimmelstute, an die Reihe. Die Sonne schien zwar, doch es wehte ein leichtes Lüftchen aus der östlichen Richtung. Hier und da schoben sich einige Wolken zusammen. Das Thermometer zeigte bereits Plusgrade an, aber es war kühl für Mitte Mai, so dass Dalli vorsichtshalber über der Bluse eine leichte Reitjacke angezogen hatte.
„Stampf nicht so mit den Hufen, Blessie. Wir gehen ja gleich ins Gelände, sobald Madame fertig ist.“
Arabella wieherte schrill auf, was Dalli zum Lachen brachte.
„Du bist nicht gemeint, versprochen. Du bist doch das klügste Tier auf der ganzen Welt.“
Dalli redete oft mit den Ponys und den Pferden und war überzeugt davon, dass diese ihr zuhörten. Blessie und Arabella steckten die Köpfe zusammen, als ob sie sich miteinander unterhalten würden.

„Endlich bist du da. Ich wollte schon einen Steckbrief aufhängen.“
„Darf ich mir aussuchen, wohin unser Ritt geht?“
„Klar, warum nicht.“, Dalli war damit einverstanden. Hauptsache, sie kam ins Gelände.
„Ich muss zur Post, den Brief an Ralf aufgeben.“
„Aha, deshalb ist deine Reitjacke ausgebeutelt. Ich habe mich schon darüber gewundert.“, meinte Dalli, während sie in den Sattel stieg und die Zügel aufnahm. „Zeig mal was du kannst, Arabella.“
„Langsam, nichts übereilen. Erst ein paar Runden im Schritt und dann einen langsamen Trab.“
„Ich weiß: Das sagt Jochen auch immer. Die Ponys sollen sich nicht überanstrengen.“
Dalli ritt voraus, aus dem Hoftor hinaus, Dick hinterdrein, da das Hoftor zu schmal für zwei Ponys war.

Auf der Hauptstraße fuhren viele Autos, so dass Dalli, die gerne schneller geritten wäre, das Tempo drosselte. Hinter sich hörte sie das Schauben von Blessie. Dalli klopfte Arabella den Hals, um sie zu beruhigen: „Ist ja schon gut. Wir kommen gleich hinüber in den Forst, das ist es ruhiger.“
Dort wagte Dalli nach dem leichten Trab, einen kleinen Galopp, sprang sogar über eine herumliegende Baumwurzel. Und wartete dann, bis Dick ebenfalls den Sprung ausgeführt hatte.
„Wohin reiten wir jetzt? Gleich ins Dorf oder noch ein wenig in den Wald hinein, wo es kühler ist?“
„Erst ins Dorf.“, antwortete Dick in einem strengen Tonfall.
„Ist denn diese Brief an Ralf so wichtig?“
„Ja. Und nicht nur er. Ich habe auch noch andere Briefe dabei, die unbedingt heute aufgegeben werden müssen. Jochen hat sie mir zugesteckt. Es handelt sich um geschäftliche Briefe.“
„Apropos Geschäfte: Kann Margot denn im Sommer überhaupt beim Ponyhotel mitarbeiten?“
„Wieso nicht? Sie ist doch nur schwanger und nicht krank.“, meinte Dick.
„Ich bin schon so gespannt darauf, was es wird.“
„Was soll es schon werden: Ein Mädchen oder ein Junge. Für Zwillinge ist Margots Bauch zu klein.“
„Woher weißt du das?“, Dalli hielt kurz inne, wischte sich mit einer Hand den Schweiß von der Stirn.
„Ich habe eben aufgepasst, als das Thema in der Schule durchgenommen worden ist.“
„Aha, das erklärt alles. So, wird sind da. Ich gebe solange auf Blessie acht, während du dich um die Briefe kümmerst.“
Dalli blickte auf die Uhr? Diese war doch nicht etwa stehengeblieben?
„Blessie nicht. Das Gras da ist doch tabu. Mensch, du bekommst dann Durchfall oder etwas ähnliches, wenn du immer das fremde Gras naschst. Nimm dir ein Beispiel an Arabella, die tut das auch nicht.“
Dalli spürte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg. Was sollten die Leute von ihr denken?
„So, nun ist es gut. Madame kommt ja gleich wieder zurück.“
Vom Pferderücken aus konnte Dalli alles gut überblicken, darunter auch das Postamt selbst. An den Schaltern standen die Leute Schlange, ebenso vor den kleinen Räumen, in welchen sich Telephone befanden.
„Wie gut, dass wir auf dem Immenhof ein Telephon haben. Sonst müsste Jochen oder Dick jedesmal zur Post reiten, wenn ein wichtiger Anruf kommt oder jemand wichtiger angerufen werden soll.“
Dalli telephonierte nur selten, da sie niemanden hatte, mit dem sie hätte telephonieren können. Wenn Gäste anriefen, ging sie ans Telephon, plauderte ein wenig und wartete, bis die Gäste das Gespräch beendeten. Oft handelte es sich um Resevierungen für ein bestimmtes Zimmer oder ein Gast wollte unbedingt auf Blessie reiten und sich vergewissern, dass dieser ja frei war, wenn der Gast anreiste.

Nie wäre Dalli auf die Idee gekommen, Ethelbert anzurufen. Wenn sie ihm etwas mitzuteilen hatte, so tat sie es brieflich und wartete geduldig, bis eine Antwort eintraf. Egal, ob es sich um alltägliche Erlebnisse oder um Grüße zu Weihnachten handelte. Einen Brief schreiben war immer noch billiger, als ein Telephonat zu tätigen. Außerdem hatte Dalli Ethelberts Telephonnummer nicht.
„Mal angenommen, ich würde so ein Gespräch tätigen, ich wüsste nicht, was ich sagen soll. Außerdem ist Ethelbert gar nicht daheim, sondern im Internat, das hat er mir selbst erzählt. Aha, nun ist Dick am Schalter fertig und geht hinüber zu einem der kleinen Räume. Vermutlich will sie Ralf anrufen und Oma Jantzen soll davon nichts mitbekommen. Na mir ist es recht. So ein Telephonat soll ganz schön teuer sein, das hat mir Jochen einmal erzählt, zumindest wenn man das Gespräch beginnt. Wird man angerufen kostet es weniger oder gar nichts, wenn ich achtgegeben habe.“

„Das Porto wird jedesmal teurer.“, seufzte Dick, als sie wieder zurückkam.
„Nur das Porto? Ich habe dich beobachtet.“, stichelte Dalli.
„Ach das. Das ist gar nichts. Was würde Oma dazu sagen, wenn sie es wüsste?“
„Sie wird es nicht erfahren, von wem sollte sie auch.“, Dick stieg in den Sattel, nahm die Zügel auf. „Im Übrigen habe ich das Gespräch von meinem eigenen Geld bezahlt. Mach dir da also keine Sorgen.“
„Ich weiß etwas besseres, als stundenlang zu telephonieren.“, behielt Dalli das letzte Wort.
An diesem Tag fühlte sie sich irgendwie unwohl, ohne zunächst den Grund dafür benennen zu können. Hatte sie zu wenig gegessen oder zu wenig getrunken? Oder lag es an den warmem Temperaturen? In ihrem Magen kribbelte es, als ob sie Ameisen gefrühstückt hätte und sie fühlte sich schwindlig. Mühsam schleppte sie sich, während der Stallarbeit Schritt für Schritt vorwärts.

Erst am Abend, kurz vor dem Schlafengehen, löste sich alles von selbst. Dalli war nun klar, warum Dick damals bei der Weinlese in Eltville unpässlich gewesen war.
„Kommt das nun jedesmal wieder?“
„Ja, du wirst dich damit abfinden müssen. Außer du bist schwanger.“
„Na damit hat es noch ein wenig Zeit. Ich bin doch erst 16 Jahre alt.“
„Sag das nicht. Man kann durchaus in jungen Jahren schwanger werden.“
Dalli hörte geduldig zu, was sie tun alles tun musste, wenn „es“ wieder soweit war.
„Denk daran: Dieses Gespräch bleibt unter uns.“
„Du kannst dich auf mich verlassen.“, versicherte Dalli. Irgendwie war sie erleichtert und froh zugleich. Erleichtert, weil sie wusste, woran sie war und froh, weil sie dieses Gespräch mit Dick unter vier Augen auf der Toilette führen konnte, ohne dass jemand mithörte oder mitreden wollte.

„Wie gut, dass ich wenigstens Dick habe, mit der ich mich darüber unterhalten kann.“, dachte Dalli, einige Zeit später im Bett liegend und an die Zimmerdecke starrend. „Mit Angela darüber zu reden, das wäre nichts gewesen. Und mit Oma? Ich glaube kaum, dass man in der „feinen Gesellschaft“ dieses Thema anspricht, obwohl es doch zum Frausein dazu gehört, wie das Salz in der Suppe.“
Nur mühsam gewöhnte sich Dalli daran, biss die Zähne zusammen und legte ab und zu einen Ruhepause ein. Ob Dick mit Oma Jantzen vertraulich darüber redete?

In den nächsten Wochen fiel Dalli auf, dass Dick und Margot sehr vertraut miteinander umgingen, sich immer wieder zurückzogen. Vermutlich diskutierten sie über das neue Leben, das unter Margots Herzen heranwuchs. Dalli fühlte sich ausgeschlossen. Sie hätte auch gerne mitgeredet.
„Soviel jünger als Dick bin ich nun auch wieder nicht. Aber bitte. Die beiden werden schon wissen, was sie tun.“, murmelte Dalli, während sie auf der Weide damit beschäftigt war, die Pferdeäpfel aufzusammeln. „Ich habe ja noch Mans, mit dem ich über vieles reden kann. Er ist ein guter Kumpel, nicht mehr und nicht weniger. Soll Dick doch bleiben, wo der Pfeffer wächst, das ist mir egal.“
Aber in diesem Frühjahr hatte Mans wenig Zeit, weil er sich auf das Abitur vorbereite.

Ende Mai trafen bereits die ersten Feriengäste ein. Vorerst blieben sie nur über das Wochenende und reisten dann wieder ab. Dalli wunderte sich darüber, stellte jedoch keine Fragen. Sie half bei der Betreuung der Gäste mit, versorgte die Pferde und lernte für die Schule. Ein Brief von Ethelbert ließ auf sich warten. Dalli war ungeduldig, doch sie wusste, sie durfte Ethelbert nicht drängen, sonst würde er ihr womöglich gar nicht mehr schreiben oder zu Besuch kommen oder noch schlimmer beides.

Mitte Juni zogen die nächsten Gäste auf dem Immenhof ein. Es gab nun deutlich mehr Arbeit. Dalli war froh darüber. Endlich wurde sie gebraucht und nicht immer nur als Kind wahrgenommen. Die Arbeit machte ihr Freude. Ab und zu gaben ihr die Gäste ein Trinkgeld. Dalli sammelte es in ihrer Spardose. Was sollte sie auch mit soviel Geld anfangen? Sie hatte doch alles, was sie brauchte.
Vor lauter Arbeiten und Lernen blieb ihr sowieso keine Zeit, das Geld für ein Eis oder für einen Kinobesuch auszugeben. Die Gäste, die vorwiegend aus den Städten waren, brachten genügend Neuigkeiten mit, so dass ihnen der Stoff dazu nie ausging. Am meisten mochte es Dalli, wenn Familien mit Kindern kamen. Die Kinder waren, je nach Altersstufe, artig und willig oder wild und trotzig. Dalli gab sich Mühe, alle Kinder mit Respekt und nicht von oben herab zu behandeln. Die Kinder liefen ihr in Scharen hinterdrein, nannten sie „Tante“, obwohl sie es eigentlich nicht war. Zu Margots Kind, das im Herbst geboren werden sollte, würde sie sozusagen eine Art Tante sein.

Dalli beobachtete unauffällig, wie Margot trotz oder gerade wegen, der fortschreitenden Schwangerschaft mitarbeitete, als ob nichts gewesen wäre.
„Wenn es bei mir einmal so weit sein soll, kann ich mir daran ein Beispiel nehmen.“, dachte Dalli, die Tische für das Frühstück der Gäste eindeckend. Es war noch früh am Morgen. Viele der Gäste schliefen, besonders im Urlaub, etwas länger und ignorierten das Krähen des Hahnes.
Das nasse Gras kitzelte unter Dallis Füßen. Am Abend zuvor hatte es geregnet. Doch der heutige Tag versprach sonnig und mild zu werden. Einige der Gäste wollten ausreiten, während die anderen einfach nur die Ruhe auf dem Immenhof dem Lärm der Großstadt vorzogen. Wie bereits im Vorjahr hatte sich auch Herr Ottokar nebst Gattin angekündigt, jedoch noch keinen konkreten Besuchstermin genannt. Das wusste Dalli, weil sie ein Telephongespräch zwischen Herrn Ottokar und Jochen belauscht hatte. Sie stellte fest, dass ihr das Belauschen nicht mehr soviel Spass, wie früher, machte.
„Wenn doch nur wenigstens Fritzchen hier wäre. Mit ihm habe ich mich gut verstanden. Ich weiß nicht, wo er solange bleibt. Inzwischen haben wir Ende Juni, da müsste Fritzchen doch bald Ferien haben.“

Dalli zuckte zusammen, als plötzlich ein Schatten auf den ihren fiel. Schnell drehte sie sich um.
„Ach du bist es, Margot. Ist alles in Ordnung?“
„Ja, beinahe.“, Margot unterdrückte ein Gähnen. „Das Baby drückt auf meine Blase, so dass ich nicht mehr schlafen kann. Frische Luft tut mir gewiss gut, bevor die Gäste aufwachen.“
„Setz dich doch. Das viele Stehen ist ungesund.“
„Sieh an, sieh an.“, Margot schmunzelte, legte eine Hand auf ihre deutliche Wölbung. „Hat dir Oma Jantzen oder Dick diesen Tipp gegeben?“
„Oh, keineswegs.“, versicherte Dalli, rückte den Brotkorb zurecht und stellte den Salzstreuer daneben.
„Jochen schnarcht wie ein Bär. Normalerweise tut er das nur selten. Aber in den heißen Nächten ist es extrem mit ihm. Ich kann leider nicht in ein anderes Zimmer ausweichen, da alle Räume besetzt sind.“
„Tja …“, Dalli grinste bis über beide Ohren.
„Du meinst, ich bin selbst schuld, weil ich mir einen Mann ausgesucht habe, der schnarcht.“
Dalli schluckte. Jetzt nur nichts falsches sagen, um Margot, deren Nerven angespannt waren, nicht zu reizen. Geschickt wechselte die junge Frau daher das Thema.
„Die kleine Wiege, die in der Scheune steht, ist prima. Jochen arbeitet beinahe jeden Tag daran.“
„Bei seinem Arbeitstempo ist er im September noch nicht fertig damit.“, Margot nahm eine der Servietten, die auf dem Tisch vor ihr lagen, knetete sie zu einem Ball zusammen und wieder auseinander.
„Ich sehe nun bei den Sonnenschirmen nach dem Rechten. Wenn du willst, spanne ich einen auf und stelle ihn dir her, damit du von der Sonne nicht geblendet wirst.“
„Das wäre sehr nett von dir.“
„Brauchst du noch etwas? Vielleicht ein Glas Wasser oder dein Strickzeug oder die aktuelle Zeitung?“
„Ein Glas Wasser habe ich bereits vorhin getrunken, beim Stricken habe ich zwei linke Hände und die aktuelle Zeitung ist noch nicht da. Oder hast du den Briefträger schon gesehen oder gehört?“
Dalli verstand nicht, warum Margot, die sonst eher geduldig war, sich so launisch verhielt und schob alles auf die Schwangerschaft.
„Ich nehme es einfach hin, wie es ist. Ändern kann ich es ja doch nicht.“
Dalli holte den ersten Sonnenschirm, den sie finden konnte, spannte ihn auf und überprüfte dann, ob die Tische ordentlich gedeckt waren: „Brotkorb, Salzstreuer, Zuckerdose, Tassen, Teller, Besteck, Servietten, Gläser. Die Wurst trage ich erst später heraus, sonst wird sie in der Hitze noch schlecht.“
Bald trafen die ersten Gäste ein. Dalli holte die Wurst, den Kaffee, sowie Kakao und Milch für die Kinder. Damit war ihre Arbeit für’s erste getan und sie konnte sich nun wieder den Tieren widmen.

Für das Abräumen und das Spülen des Geschirrs war heute Dick zuständig. Dalli wusste es deshalb so genau, weil ein Plan der Küche hing, auf dem genau stand, wer für welchen Bereich zuständig war. An diesem Tag läutete das Telephon Sturm. Jochen nahm die Anrufe im Büro entgegen. Dalli durfte ihn vertreten, wenn er eine Pause brauchte. Das Ponyhotel war, zumindest im Juli, weitestgehend ausgebucht und im August zumindest halbvoll, wie ein Kalender, der direkt neben dem Dienstplan hing, zeigte. Wenn die einen Gäste in der Früh, oft erst nach dem Frühstück abreisten, blieb nur wenig Zeit, die Zimmer wieder auf Vordermann zu bringen, ehe die nächsten Gäste bereits gegen Mittag oder spätestens am Nachmittag auf dem Immenhof eintrafen, von Hein oder Jochen mit einer der Kutschen abgeholt. Zu Fuß gingen die Gäste nur selten hierher, wie Dalli feststellte.

An diesem Tag schlug das Wetter, entgegen der Ankündigung im Radio, um, so dass die Gäste im Haupthaus einquartiert und die Ponys und Pferde in den Stall gebracht werden mussten. Einige der Gäste nahmen es mit Fassung, andere murrten und die Kinder quengelten. Dalli holte das Brettspiel Mensch-Ärgere-Dich-Nicht heraus und bot den Kindern an, damit zu spielen. So war wenigstens dieses Problem gelöst. Ein älteres Ehepaar trotzte dem Wetter, zog sich warme Jacken an und ging spazieren, kam jedoch vorzeitig wieder zurück. Der Regen wurde stärke und stärker.
„Da hat es geblitzt!“, rief jemand. Dalli wusste, was das zu bedeuten hatte. Ein Gewitter war im Anrollen. Jetzt durfte nur nichts geschehen. Dalli sah als erstes bei Oma Jantzen, die Angst vor Gewittern hatte, nach dem Rechten.
„Ich bleibe solange auf dem Sofa liegen, bis das Gewitter vorbei ist.“
„Die Gäste warten unten auf mich.“
„Ja, geh ruhig. Ich komme schon zurecht. Mach dir keine Sorgen um mich.“
Dalli wollte rasch wissen, wie sie die Gäste bei Laune halten konnte. Ob es dafür eine Lösung gäbe?
Oma Jantzen schüttelte den Kopf, meinte Dalli könne sich an Jochen oder Hein wenden.

„Was hältst du davon, wenn Hein den Gästen ein wenig Seemannsgarn erzählt?“, fragte Dalli ihren Schwager, der im Arbeitszimmer saß und dort seine Pfeife rauchte.
„Das ist eine gute Idee. Ich sage Hein gleich Bescheid. Ist in der Küche alles in Ordnung?“
„Oh, das weiß ich nicht.“, gab Dalli offen zu, nahm sich vor, dort nach dem Rechten zu sehen.
Auf dem Weg zur Küche stieß Dalli beinahe mit Hein zusammen, der aus seiner Schlafkammer trat.
„Du hast mir gerade noch gefehlt.“
„Nanu. Wo drückt denn der Schuh? Will der Käpt'n in dem Sturm segeln gehen und ich soll ihm beistehen?“
„So etwas in der Art ja.“, meinte Dalli und kam damit Jochen zuvor, der doch eigentlich mit Hein reden sollte.
„Geht klar. Für den Käpt'n tu ich doch alles. Na dann werden wir mal sehen.“, brummelte Hein, ging ins Wohnzimmer hinüber, wo die Gäste vor einer Tasse Kaffee und etwas Gebäck saßen und warteten. Eine der Damen hatte ein Kreuzworträtsel vor sich liegen, eine der andere hielt ihren kleinen Hund auf dem Schoß, redete leise mit dem Tier, als ob sie es beruhigen oder trösten wollte.

Dalli wusste die Gäste versorgt und ging nun in die Küche, wo Dick das Geschirr spülte und Trine damit beschäftigt war, das Mittagessen vorzubereiten.
„Kann ich etwas helfen?“
„Danke, wir kommen schon zurecht.“, versicherte Dick, deren Hände bis zu den Ellbogen im Seifenschaum steckten und dabei waren, einen Teller zu reinigen. „Bist du schon bei Oma gewesen?“
„Ja, sie hat sich auf das Sofa gelegt. Du kennst sie doch.“
„Dann bin ich beruhigt.“, Dick atmete tief ein und aus. „Wo steckt Margot?“
„Gute Frage, das weiß ich nicht. Vermutlich bei den Gästen oder sie hat sich in ihr Schlafzimmer zurückgezogen, wenn ihr alles zuviel geworden ist.“
„Hannes ist im Stall bei den Ponys, das hat er mir vorhin selbst erzählt, wie er sich eine Tasse Kaffee geholt hat.“
„Braver Hannes. Er wird das schon schaffen.“
Vom Wohnzimmer her, erklang lautes Lachen. Dalli lachte auch und Dick schmunzelte.
Zuletzt geändert von Andrea1984 am Sa 08.Jun.2019 23:16, insgesamt 1-mal geändert.
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Sommer und Herbst

Beitrag von Andrea1984 »

„Dass es Hein nicht langweilig wird, immer dieselben Geschichten zu erzählen.“, meinte sie.
„Die Gäste bleiben nur wenige Tage und kennen daher Hein’s Erlebnisse noch nicht.“, Dalli hatte irgendwie das Gefühl den alten Seebären in Schutz zu nehmen. „Außerdem lenkt er mit dem Erzählen vom Gewitter ab. Zuhören beruhigt die Nerven.“
„Was du alles weißt.“, Dick nahm den fertig gespülten Teller aus der Spüle und trocknete ihn ab.
„Naja, ich vermute es zumindest. Hein hat doch sonst kaum etwas zu tun, so er erzählt er eben.“
„Im Stall kann er kaum noch mitarbeiten und im Garten auch nicht.“, mit diesen Worten schob sich Jochen durch die Türe herein. „Außerdem sind seine Erlebnisse harmlos. Oder seid ihr schon einmal auf die Idee gekommen, diese nachzumachen?“
„Natürlich nicht!“, antwortete Dick entrüstet, während sie den nächsten Teller abspülte. „Was denkst du von uns? Regnet es immer noch draußen?“
„Oja und wie. Außerdem bläst der Wind so laut, dass man kaum sein eigenes Wort versteht.“, Jochen rieb seine Handflächen aneinander. „Ist noch Kaffee da? Ich brauche dringend etwas warmes.“
„Neben dem Herd links steht eine Tasse, allerdings ist sie nur noch halbvoll.“
Jochen ging hinüber, nahm die Tasse in die Hände und trank einen kräftigen Schluck: „Das tut gut.“
„Vielleicht solltest du den Kamin einheizen, damit die Gäste nicht frieren müssen.“, bot Dick an, nahm den Teller, der noch ein wenig tropfte, aus Spüle und trocknete ihn ab.
„Ich werde mit Oma darüber reden, sie hat hier das Sagen. Holz müsste noch etwas da sein.“
„Wenn wir jetzt alles Holz verbrauchen, haben wir im Herbst und im Winter keines mehr.“
„Bis dahin können wir doch jederzeit neues abschlagen, der Forst gibt reichlich davon her.“, meinte Jochen in einem optimistischen Tonfall. „Wo ist Margot?“
„Ich glaube, bei Oma in deren Zimmer. Doch ich bin mir nicht ganz sicher.“, antwortete Dick. „So das Geschirr ist fertig. Trine, mach schneller. Die Gäste haben Hunger.“
„Jetzt habe ich mir schon zum dritten Mal in den Finger geschnitten.“, murmelte das Hausmädchen undeutlich, weil es sich eben jenen Finger, der leicht blutete, in den Mund gesteckt hatte. „Das Messer ist so scharf. Und die Kartorffeln sind viel zu groß.“
„Ich helf dir ja schon, dann geht es schneller.“, Dalli ließ den Worten sogleich Taten folgen.
„Wer soll das alles nur essen?“
„Die Gäste natürlich. Für uns bleiben „nur“ die Reste.“, Dick stellte einen großen Topf mit Wasser auf den Herd, gab eine Prise Salz hinein und drehte dann den Herd auf die vollste Stärke auf.
„Also ich kann mich nun wirklich nicht darüber beklagen, dass wir zu kurz kommen.“, Dalli sah, anders als Dick und Jochen, keinen Grund den Kopf hängen zu lassen. Das Frühstück und das Abendessen waren doch reichhaltig, das Mittagessen entfiel, da es wichtiger war, sich um die Gäste zu kümmern.
„Du bist ja noch so jung und verbrauchst die Energie, die du bei den Mahlzeiten aufnimmst, im nu.“
„Stimmt ja. Ich geh dann mal wieder zu den Gästen hinüber und schaue nach, ob alles in Ordnung ist.“
„Wir sind bis zum Ende des Sommers ausgebucht.“, verkündete Jochen mit stolzgeschwellter Brust. „Das alles haben wir nur euch zu verdanken.“
„Ach, das bisschen, was wir hier tun …“, wiegelte Dalli ab.
„Ihr betreut die Gäste, gebt ihnen alles, was sie brauchen und seid nett und höflich. Der Immenhof hat, zumindest in Hamburg und in Lübeck einen recht guten Ruf.“, ergänzte Jochen.
„Wie kommst du auf Lübeck?“, wollte Dalli neugierig wissen.
„Vermutlich wegen Ralf.“, meinte Dick, die gerade die Kartoffeln in den Topf legte. „Er arbeitet für Dr. Westkamp. Und dieser hat überall jede Menge Freunde und Bekannte, die nichts lieber tun, als mal einen Tag oder ein paar Tage auf dem Immenhof zu verbringen.“
„Ganz so einfach ist das nicht. Dr. Westkamp arbeitet hart und hat daher nur wenig Freizeit.“
„Aber wenn er sich mal freimachen kann, oder zumindest Ralf freigibt, dann steht einem Besuch auf dem Immenhof nichts mehr im Weg.“, Dick rührte mit einem Kochlöffel langsam im Topf.
„Ich freue mich auch, Ralf wiederzusehen, besonders nach dem das Missverständnis von damals endgültig geklärt worden ist.“
Dalli wurde rot, bis über beide Ohren. Ja, sie hatte damals eines der Werbeplakate verunstaltet, doch anstatt dafür eine Strafe zu erhalten, war sie glimpflich davon gekommen. Anders als Ralf, der ohne Grund von Jochen beschimpft worden war. Erst spät hatten sich die Wogen geglättet. Vor allem deshalb, weil Dalli in Ruhe mit Jochen über alles geredet und die Schuld alleine auf sich genommen hatte. Jochen hatte sich anschließend bei Ralf entschuldigt und dieser hatte die Entschuldigung angenommen.
„Was hast du heute noch vor?“, wollte Dick von Jochen wissen.
„Entweder um Oma oder um Margot kümmern, je nach dem, wer von den beiden, meine Hilfe jetzt nötiger hat.“, Jochen trank den Kaffee bis auf den letzten Tropfen aus. Dick nahm die fertig gekochen Kartoffeln aus dem Topf und begann sie zu schälen.
„Wir können noch ein wenig miteinander plaudern, alleine ist es mir hier langsweilig.“, meinte sie.
Dalli hörte dem Gespräch zwischen Dick und Jochen eine Weile zu. Dann wollte sie eigentlich ins Wohnzimmer gehen, um die Wünsche der Gäste zu erfüllen. Auf dem Weg dahin wurde sie vom Briefträger abgefangen, der ihr einen Brief in die Hand drückte.
„Von Ethelbert. Das finde ich prima.“, Dalli hätte den Brief am liebsten gleich gelesen, doch die Arbeit war wichtiger. Erst am späten Nachmittag, in einer kleinen Pause, kam Dalli dazu, in Ruhe die Neuigkeiten zu lesen. Sie zog sich in den Stall zurück, wo sie sich am wohlsten fühlte.
Das Gewitter war inzwischen abgezogen, doch es regnete nach wie vor. Der Regen trommelte in gleichmäßigen Abständen auf das Stalldach. Die meisten Pferde und Ponys dösten friedlich vor sich hin. Lediglich Blessie wiehrte auf, schlug mit den Hufen gegen die Boxenwand.
„Habt keine Angst, ich bin ja bei euch.“, Dalli sah zuerst bei den Tieren nach dem Rechten, ehe sie es sich auf einem alten, ausgeleierten Stuhl bequem machte, um den Brief zu öffnen. „Eure Futterkrippen sind gut gefüllt und ihr habt ein sicheres Dach über den Kopf. Macht euch also keine Sorgen.“

„Liebe Dalli!

Vielen Dank für deinen vorigen Brief. Ich freue mich sehr darüber. Entschuldige bitte, dass ich dir so lange nicht geschrieben habe. Doch das Lernen für das Abitur ist wichtiger. Ich komme nur selten dazu, etwas anderes zu unternehmen, so gerne ich das auch täte. Dabei ist das Wetter fast jeden Tag sonnig. Wenn ich aus dem Fenster blicke, sehe ich Hummeln, welche die Blüten der Pflanzen umschwirren. Ein Eichhörnchen hüpft von Ast zu Ast und eine Taube benutzt das Fensterbrett als ihre Freiluft-Toilette. Du siehst, was ich alles aufregendes im Internat erlebe.
Im Augenblick bin ich alleine, da mein Zimmergenosse an Grippe erkrankt ist und derzeit auf der Isolierstation liegen muss. Mir ist es recht, da mein Zimmergenosse normalerweise, wenn er gesund ist, wie ein Holzfäller sägt. Ich kann bei der Ruhe viel besser lernen.

Hin und wieder gehe ich gerne spazieren, um frische Luft zu tanken und mich von dem ganzen Stress etwas abzulenken. Das tut meiner Seele recht gut. Ich habe inzwischen auch schon ein wenig Farbe bekommen und bin nicht mehr ganz so blass wie noch im Winter, der diesmal sehr lange gedauert hat. Dafür ist der Frühling sehr kurz gewesen. Wie lange wohl der Sommer anhalten wird?

Selbst meine Eltern habe ich schon länger nicht mehr gesehen, obwohl sie doch ganz in der Nähe auf dem Land wohnen. Ich habe ihnen viel von dir erzählt oder vielmehr geschrieben und sie lassen dich, unbekannterweise, lieb grüßen. Vielleicht kann ich mit ihnen reden, dass sie dich einmal auf den Erlenhof einladen, damit du sie näher kennenlernen kannst. Was hältst du von dieser Idee?
Der Erlenhof ist auch ein Gutshof, wie der Immenhof, allerdings gibt es dort keine Pferde mehr, da sich der Aufwand nicht mehr lohnt. Apropos Pferde: Wie geht es Blessie? Ob er mich wohl vermisst ?

Herzliche Grüße an alle Bewohner des Immenhofs, ja auch die Ponys, die ich widerum ganz besonders vermisse.

Ethelbert München, den 15. 06. 1958“

Dalli atmete tief durch, legte den Brief beiseite.
„Ich bin mir nicht ganz klar darüber, ob Ethelbert mir aus Höflichkeit schreibt oder weil ihm doch etwas mehr an mir liegt. Mit wem soll ich darüber reden? Mit Dick vielleicht? Oma Jantzen ist zu alt, um die Probleme der heutigen Jugend verstehen zu können. Margot wäre die richtige Ansprechperson, doch ich darf sie nicht aufregen. Und wenn das Baby dann erst da ist, wird sie kaum Zeit für mich haben.“
Blessie wieherte abermals, stand jedoch still wie ein Denkmal.
Dalli ging hinüber, klopfte ihm beruhigend die Kruppe: „Was sagst du dazu? Du hast es gut. Du brauchst dich nicht mit Liebesdingen herumzuschlagen, weil du keine Freundin hast.“
Dalli redete oft mit den Tieren, glaubte, dass jene sie verstehen konnten.
„Einen Vorteil haben Pferde, gegenüber Menschen: Sie reden nicht zurück.“

Dalli blickte auf die Uhr. Es war schon spät und die Pause um. Also steckte Dalli den Brief in die Tasche, kehrte zu ihren Pflichten zurück, als ob nichts gewesen wäre. Sie hatte sich nun dazu entschieden, vorläufig mit niemandem darüber zu reden, sondern ihre Sorgen, die vielleicht gar keine waren, für sich zu behalten, um die anderen Personen, nicht unnötig zu belasten. Die Sorgen der Erwachsenen waren wichtiger, das verstand Dalli, ohne dass es ihr jemand lang und breit erklärte.

„Warum dauert das so lange, bis man erwachsen ist und alles tun darf, das man gerne möchte?“, meinte sie beiläufig am Abend, als die Gäste schon versorgt und schlafen gegangen waren.
„Genieße deine Jugend. Alt wirst du von ganz alleine.“, antwortete Jochen, streckte die Beine aus. „Ich habe vor vielen Jahren ähnlich wie du gedacht, ganz ähnlich. Doch dann ist vieles geschehen.“
„Der Krieg?“, mutmaßte Dick, die neben Dalli in einem der Liegestühle im Garten saß. Auch Jochen war dabei, ebenso Oma Jantzen. Margot schlief schon oder versuchte es zumindest, wie Dalli wusste.
„Wenn es nur der eine Krieg gewesen wäre.“, Jochen kramte seine Pfeife hervor, stopfte sie. „Es hat, wir ihr ja vielleicht in der Schule gelernt habt, zwei Weltkriege gegeben. Von beiden hat sich das Land bis heute nicht wirklich erholt.“
„Im Ersten Weltkrieg bist du doch noch ganz klein gewesen.“, Dalli zählte etwas an den Fingern ab.
„So klein nun auch wieder nicht.“, Jochen lachte so sehr, dass ihm beinahe die Pfeife aus dem Mund fiel. „Ich habe damals nur wenig davon mitbekommen, was wirklich geschehen ist. Gottseidank.“
„Was ist mit deinem Vater gewesen?“, wollte Dick wissen. „Er ist doch eingezogen worden?“
„Es gibt eine Altersgrenze. Wenn jemand über 50 Jahre alt ist, darf er keinen Dienst mehr machen. Mein Vater ist genau zwei Tage nach dem Stichtag geboren worden. Er hat Glück gehabt, aber …“
Dalli wartete gespannt, was Jochen nun weiter erzählen würde. Er sprach nur selten über die Vergangenheit.
Jochen nahm einen tiefen Zug. Der Pfeifenduft mischte sich mit dem von frischgemähtem Gras.
„Wollt ihr das wirklich wissen? Es ist allerdings keine schöne Geschichte.“
„Du kannst uns ja jeden Abend ein wenig erzählen. Wie ein Vater, der seinen Kindern eine Gute-Nacht-Geschichte vorliest.“, Dick schluckte, wischte sich eine Träne von der Wange.
Jochen dämpfte die Pfeife aus, ging hinüber zu Dick und nahm sie in die Arme.
„Wenn du so weitermachst, weine ich gleich mit.“, sagte Dalli, bemühte sich, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben.
Im nächsten Augenblick spürte das Mädchen, wie es von Jochen umarmt wurde.
„Danke, das tut gut. Das brauche ich.“
„Und was ist mit mir?“, wollte Oma Jantzen, die wie so oft ihr Strickzeug dabei hatte, wissen.
„Dafür ist Dr. Pudlich zuständig.“, erwiderte Jochen, schlenderte zu seinem Liegestuhl hinüber.
„Zu dumm, dass er heute Bereitschaft hat und daher leider nicht hier sein kann.“

„Wo war ich stehengeblieben?“
„Stehengeblieben ist gut. Du sitzt ja.“, erwiderte Dalli keck, wie es ihre Art war.
„Aus euch werde ich nicht schlau.“, gab Oma Jantzen zu, während sie die Stricknadeln klappern ließ. „Auf der einen Seite wollt ihr erwachsen und verantwortungsbewusst sein, auf der anderen Seite weint ihr um jemanden, den ihr nie gekannt habt.“
„Ich weiß auch nicht. Das müssen wohl die Hormone sein.“, Dick hob und senkte die Schultern.
„Bitte, bitte erzähl weiter, Jochen.“, Dalli legte den Kopf schief, blinzelte.
„Mein um zehn Jahre älterer Bruder Paul ist gleich am ersten Kriegstag eingezogen worden.“, ergriff Jochen wieder das Wort. „Oder vielmehr er hat sich freiwillig gemeldet, obwohl erst doch erst 17 Jahre alt gewesen ist. Doch damals hat niemand so genau hingesehen. Von der Größe und der Kraft her, hätte Paul locker für über 20 Jahre durchgehen können und niemand hätte etwas dagegen gesagt.“
„Was ist aus Paul geworden?“, Dalli und Dick stellten gleichzeitig die Frage. „Du hast nie von ihm erzählt?“
„Ihr habt mich auch nie danach gefragt, ob ich eine Familie habe oder nicht.“, antwortete Jochen höflich.
„Na dann erfahren wir es eben jetzt. Aufgehoben ist ja nicht aufgeschoben.“
„Es ist schon spät. Morgen erzähle ich euch mehr. Nun geht zu Bett, damit ihr ausgeschlafen seid.“

Dalli war neugierig, wie die Geschichte weiterging. Doch die Fortsetzung ließ auf sich warten. Am nächsten Abend gab es soviel zu tun, dass keine Zeit für ein trautes Plauderstündchen blieb. Erst am übernächsten Abend war es etwas ruhiger. Dalli nützte die Gelegenheit um einen Antwortbrief an Ethelbert zu schreiben. Dick ging alleine spazieren und Jochen kümmerte sich um Margot. Oma Janzen war von Dr. Pudlich zum Abendessen eingeladen worden. Da er nicht kochen konnte, wurde die Mahlzeit im Dorfkrug eingenommen. Dalli wäre dabei gewesen, doch sie musste daheim bleiben.

Im Juli hörte sie nichts neues von Ethelbert. Erst im August traf ein Telegramm ein: Ethelbert schrieb, er habe das Abitur bestanden und plane nun, ein Jahr auf Weltreise zu gehen. Das nötige Kleingeld habe er sich zusammengespart. Mehr dazu wolle er in einem ausführlichen Brief schreiben.
„Der weiß doch gar nicht, was es heißt, jeden Pfennig dreimal umdrehen zu müssen.“, für einen Augenblick empfand Dalli so etwas wie Neid gegenüber Ethelbert. Doch sie wusste auch, dass er nichts dafür konnte. Er war nun mal in diese Welt der „Reichen und Schönen“ hineingeboren worden.
„Dafür hat er seine Eltern, die alles für ihn tun oder er für sie. In dieser Hinsicht habe ich wirklich mehr Grund ihn zu beneiden.“
Im September gab es zwar nicht mehr soviel Arbeit mit den Gästen, da überall die Ferien zu Ende waren. Aber Margot näherte sich dem Ende ihrer Schwangerschaft und musste daher geschont werden. Die Babyausststattung war fertig, ebenso die Wiege. Dem Baby sollte es an nichts fehlen. Oft hörte Dalli, wie Dick ihrerseits Margot beneidete und von jener getröstet wurde, sie sei ja noch so jung. Mit einer eigenen Familie habe es durchaus noch Zeit. Man solle damit nur nichts übereilen.

Mitte Oktober blieben auch die letzten Gäste aus. Dafür wurde bald eine neuer Bewohner oder eine neue Bewohnerin auf dem Immenhof erwartet. Margot war noch reizbarer als sonst und ließ ihre Launen vor allem an Jochen, der doch „daran schuld“ hatte, aus. Jochen zuckte mit den Schultern, erfüllte alle Bitten, auch wenn sie noch so absurd waren und ließ sich nichts anmerken.
Ende Oktober, es war noch früh am Morgen wurde Dalli wach. Irgendwo klapperte eine Türe.
Schritte eilten.
„Bei Margot ist es soweit. Ruft die Hebamme.“, Jochens Stimme eindeutig.
„Bleib ruhig. Du kannst sowieso nichts tun. Ich kümmere mich um alles.“
Dalli rieb sich die Augen: „Vielleicht träume ich das alles nur. Oder ist es wirklich wahr?“
„Wenn es sein muss, dann hole ich das Baby selbst auf die Welt.“, Oma Jantzen hatte eine sehr laute Stimme, die mühelos durch alle Wände drang.
„Das würdest du wirklich tun? Wie kann ich das je wieder gut machen?“
„In dem du weder Margot noch mich unnnötig aufregst. Ich gehe jetzt zu Margot.“

„Dalli, was machst du hier? Geh wieder ins Bett zurück, es ist noch nicht an der Zeit.“
„Schimpf nicht mit mir, Jochen. Ich habe alles gehört.“, Dalli blickte zu Boden.
„Möchtest du einen warmen Kakao? Der beruhigt die Nerven.“
„Au ja, das ist eine gute Idee.“, Dalli erledigte ihre Morgentoilette, kleidete sich an und ging dann in die Küche, wo Trine bereits auf den Beinen war und gerade einen Eimer mit heißem Wasser füllte.
„Bring das nach oben. Die alte gnädige Frau ist bei der jungen gnädigen Frau und kann nicht weg.“
Dalli trug den Eimer nach oben, stellte ihn jedoch vor dem Schlafzimmer ab. Hineingehen war streng verboten. Dalli achtete die Privatsphäre der anderen und hatte auch ihre eigene, die akzeptiert wurde.
Die Türe wurde einen Spalt breit geöffnet. Jemand ergriff den Wassereimer, zog die Türe wieder zu.

„Was ist den los?“, Dick stand, noch im Nachthemd, barfuß auf dem Flur, rieb sich die Locken, welche wirr nach allen Seiten wegstanden. Dalli wisperte ihrer Schwester etwas ins Ohr.
„Ach das. Ich bin so gespannt, was es wird.“
„Wir dürfen da nicht rein. Komm, lass uns nach unten gehen.“
Es war ein Samstag und die Mädchen hatten schulfrei. Dalli wartete solange, bis Dick ebenfalls die Morgentoilette erledigt hatte und angekleidet war.

Jochen saß, mit einem Hemd und einer Hose bekleidet, am Küchentisch, die aufgeschlagene Tageszeitung vor sich.
„Na da seid ihr ja beide. Ihr klebt ja beisammen, wie die beiden Teile an einem Druckknopf. Tut sich schon etwas?“
„Wir wissen von nichts.“, meinte Dick. Trine füllte gerade den warmen Kakao in drei Tassen.
„Hoffentlich geht alles gut. Wenn ich da an Angela denke … Oh, entschuldige bitte.“
„Es wird schon alles recht werden. Und wenn nicht, dann hat es nicht sollen sein.“
„Ist jetzt der richtige Zeitpunkt, um die Fortsetzung der Geschichte von deinem Bruder zu erfahren?“, wechselte Dick elegant das Thema. „Oder geht sie etwa nicht gut aus?“
„Ihr habt die Geschichte nicht vergessen. Das freut mich sehr.“
Trine stellte die Kakaotassen auf den Tisch, ging dann wieder zum Herd zurück.

„Was habt ihr euch vom letzten Mal gemerkt?“, wollte Jochen wissen.
Dalli zählte alles auf, was sie noch wusste. Es war ja schon einen Weile her.
„Gut, gut. Also Paul ist gegangen, gemeinsam mit seinen Freunden. Freiwillig, das möchte ich betonen. „Für Kaiser, Gott und Vaterland.“, so hat es die Propaganda überall verkündet. Zunächst habe ich vom Krieg kaum etwas mitbekommen. Die Fronten sind alle sehr weit weg gewesen.“
Dalli lauschte gespannt, was Jochen erzählte, allerdings nur mit einem Ohr. Das andere hatte sie nach oben gedreht oder tat zumindest so als ob, um sich auch dort kein Detail entgehen zu lassen.

„Paul hat am Anfang oft geschrieben. Zwar nur wenige Zeilen, aber immerhin. Es hat oft tage- oder wochenlang gedauert, bis die Postkarte da gewesen ist.“
„Sind die Soldaten immer im Krieg gewesen? Hat es damals auch Urlaub gegeben?“
„Ja, das schon. Doch Paul hat gemeint, er braucht keinen Urlaub, der Krieg sei doch ohnedies bald vorbei. An Weihnachten sei man ja wieder zu Hause. Und dann ist alles ganz anderes gekommen.“
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Nachwuchs

Beitrag von Andrea1984 »

„Dalli, aufstehen, du bist dran mit dem Schnee räumen!“, rief Jochen vom Flur aus, klatschte in die Hände.
Dalli kam die Treppe herunter, zog sich dabei die Mütze tief in die Stirn: „Warum hört es nicht auf zu schneien? Es kommt mir vor, als hätte ich doch gerade erst draußen gearbeitet, kaum eine Pause gemacht und nun bin ich schon wieder dran.“
„Dick hat vorhin Schnee geschaufelt und sieht nun bei den Tieren nach dem Rechten.“, antwortete Jochen ruhig, streifte seine Handschuhe ab, reichte sie Dalli hinüber. „Du kannst sie ruhig anziehen.“
„Danke, das ist lieb von dir. Meine Hose ist etwas feucht. Ich fürchte, sie wird heute nicht trocken.“
„Es sind ja nur zwei Stunden zum Schnee räumen. Danach darfst du wieder nach drinnen gehen. Ich gebe dir mein Ehrenwort darauf. Wo sind Oma und Margot?“
„Oma hält sich gerade in der Küche auf und bespricht mit Trine den Speiseplan für die kommenden Tage.“, antwortete Dalli, während sie die Türe aufstieß und dabei einen Schwall kalter Luft hereinließ.
„Margot wird sich wohl um den Nachwuchs kümmern?“, vermutete Jochen.
„Vielleicht. Doch das weiß ich nicht genau, weil ich sie seit dem Frühstück nicht mehr gesehen habe.“

Dalli ging nach draußen, atmete tief ein. Für einen Augenblick spürte sie, wie die Frische gut tat. Im nächsten Moment fiel von der Dachrinne ein großer Klumpen Schnee herunter. Dalli hustete und pustete: „Was ist das für ein Mistwetter? Naja, Mitte Februar kann man kaum etwas anderes erwarten. Schnee ist ja schön und gut, aber diesmal gibt es fast zuviel davon. Die Tiere können kaum nach draußen und ich bin auch schon ganz kribbelig.“
Dalli zog sich die Handschuhe, welche sie vorhin lose gehalten hatte, über und griff nach der Schaufel, die auf den obersten Stufen stand. Der Himmel war dicht bewölkt, aber es schneite nicht.
Dalli hätte sich gerne Unterstützung bei der Arbeit gewünscht, doch es war genau eingeteilt, wer wann mit dem Schaufeln dran war, damit niemand bevorzugt oder benachteiligt wurde.

„Zu dumm nur, dass Hein ausgerechnet jetzt krank geworden ist.“, murmelte Dalli, während sie gleichmäßig Schnee räumte. „So müssen Dick und ich seine Arbeit mit übernehmen. Ich merke erst jetzt, was er immer alles tut. Eigentlich soll es doch im Winter ruhiger sein, wo keine Gäste hier sind.“
„Aber aber, das ist doch kein Grund ständig zu maulen, junge Dame.“, meinte Jochen, der alles vom offenen Wohnzimmerfenster aus beobachtete. „Als ich in deinem Alter gewesen bin, habe ich überall brav mitgearbeitet und bin dankbar dafür gewesen, dass man mich gebraucht hat.“
„Ich würde viel lieber in der Schule sitzen, anstatt tagein, tagaus Schnee zu schaufeln.“
„Nanu, du hast es doch sonst nicht so eilig damit, die Schulbank zu drücken.“, neckte Jochen.
Dalli hielt im Schaufeln inne, wischte sich mit einer Hand den Schweiß von der Stirn.
„Ein paar Tage schulfrei sind ja ganz in Ordnung. Zu dumm nur, dass es ausgerechnet nach den Weihnachtsferien derart zu schneien begonnen hat, dass wir auf dem Immenhof eingeschneit gewesen sind. Ich kann mich nicht erinnern, das jemals ein so strenger Winter gewesen ist.“
„Ich schon, allerdings ist das schon länger her und ich bin ja auch schon etwas älter als du.“
Dalli nahm ihre Arbeit wieder auf. Was Jochen sagte, klang durchaus plausibel. Er hatte im 2. Weltkrieg und auch danach viel mitgemacht, von dem sie nicht einmal gewusst hatte, dass so etwas möglich sein konnte. Gegen das aufregende Leben war jenes auf dem Immenhof wohl die reinste Erholung. Wenngleich es immer etwas zu tun gab, sei es im Stall, auf der Weide oder im Haushalt.
Dick kam herbeigelaufen. Sie rief etwas, dass Dalli zunächst, aufgrund des schwach, aber stetig blasenden Windes, zunächst nicht verstehen konnte.
„Alles in Ordnung.“, Dick stampfte den Schnee von den Füßen. „Ich bin jetzt im Stall fertig.“
„Das ist gut. Dann kannst du ja bei Oma oder bei Margot nach dem Rechten sehen.“, bestimmte Jochen.
„Mach ich doch gerne. Aber zuerst gönne ich mir entweder einen Tee oder einen Kaffee. Ich bin ganz durchgefroren. Noch besser wäre eine heiße Dusche oder ein heißes Bad.“
„Am liebsten würde ich jetzt mit Ethelbert tauschen.“, seufzte Dalli, blickte gen Himmel, wo die grauen Wolken sich langsam zusammenschoben.
„Wieso das?“, wunderte sich Dick.
„Er hat uns doch neulich eine Postkarte geschickt, die in Australien aufgegeben worden ist. Da müsste jetzt, wenn ich im Erdkundeunterricht gut aufgepasst habe, Sommer sein.“, antwortete Dalli.
„Das stellst du dir so einfach vor. Ethelbert arbeitet und du machst Urlaub.“
„Urlaub? Wie schreibt man das?“, gab Dalli zurück. „Eigentlich brauche ich den ja nicht. Mir geht es nur um das warme Klima, das ist alles.“
„Ich verstehe dich schon irgendwie. Doch jede Jahreszeit hat ihren Reiz. Im vorigen Jahr haben wir fast keinen Winter gehabt.“
„Aber dann ist er plötzlich Mitte November gekommen, buchstäblich aus heiterem Himmel.“
Erst später beim Abendessen traf Dalli wieder mit Margot, die sich des Nachwuchses wegen oft ins Schlafzimmer zurückzog, zusammen. Es gab nur spärliche Reste zu essen, da mit den Vorräten gespart werden musste. Niemand konnte sicher vorhersagen, wie lange der Winter noch dauern würde. Er konnte morgen schon vorbei sein oder noch bis zum März, vielleicht sogar bis zum April verlaufen. Nur selten gab es trockene Tage. An einem solchen, kurz nach Neujahr, war Jochen ins Dorf geritten und hatte dort alles notwendige eingekauft. Nun brauchten die Bewohner des Immenhofs weder hungern, noch frieren.

„Wo sind die Kinder?“, wollte Oma Jantzen wissen.
„Ich habe sie gestillt und jetzt schlafen sie.“, berichtete Margot, rieb sich die Augen.
Zur Überraschung aller hatte sie im vorigen Oktober nicht nur einem Kind, sondern Zwillingen – einem Mädchen und einem Jungen – das Leben geschenkt. Beide waren gesund und munter.
Paulina hatte dunkle Haare, die entweder braun oder schwarz werden würden. Markus hatte hellblonde Haare. Genetisch dominierten bei allen Babys die blauen Augen von Margot.
Wenn Not am Mann oder vielmehr an der Frau war, half auch Dalli bei der Betreuung der Kleinen mit, hielt sie auf dem Arm oder wickelte sie, was eben angebracht war, doch sie tat es, wie sie sich ehrlich eingestand, mehr aus Pflichtgefühl, als aus wahrem Interesse den Kleinen gegenüber.
Natürlich sprach Dalli ihre Gedanken nicht laut aus. Inzwischen hatte sie doch etwas dazugelernt, was Takt und Rücksicht anging. Seit der Geburt der Babys lief Jochen ständig mit einem breiten Grinsen im Gesicht und stolzgeschwellter Brust umher: „Eines kann jeder, aber zwei muss man erst einmal schaffen.“
Oma Jantzen war es peinlich, wenn Jochen davon redete, aber sie hatte keine Chance dagegen.

„Was gibt neues von Ralf?“, stellte Dalli ihrerseits eine Frage.
„Es geht ihm gut. Er hat viel Arbeit und daher leider keine Zeit für Besuche.“, Dick senkte den Blick.
„Kopf hoch. Vielleicht siehst du ihn ja bald wieder. Er darf doch Urlaub haben, oder etwa nicht?“
„Das mag schon sein, allerdings kann er sich das nur schwer selbst aussuchen, wann und wie lange.“
„Schreiben und telephonieren ist schön und gut, aber kein Ersatz für eine persönliche Begegnung.“
Dalli’s Bauch kribbelte, wenn sie an Ethelbert dachte. War es lediglich Freundschaft oder doch mehr, was sie für ihn empfand? Sie wusste es nicht genau. Er schrieb ihr zwar regelmäßig, allerdings nur Postkarten, keine Briefe. Die Postkarten konnte und durfte jeder offen lesen.
Dalli hätte viel lieber einen vertraulichen Brief erhalten, doch sie sah ein, dass Briefe teurer als Postkarten waren. Oder hatte Ethelbert zu wenig Zeit, um einen ausführlichen Brief zu schreiben?

Die frohe Kunde des Nachwuchses auf dem Immenhof war in alle Winde gedrungen. Von Norden nach Süden, von Osten nach Westen. Pankraz hatte geantwortet, er freue sich sehr darüber, als stolzer Großvater die Enkelkinder nach Strich und Faden verwöhnen zu können. Ethelbert hatte, nicht aus Australien, sondern aus Neuseeland, wo er zuvor gewesen war, geschrieben, er teile die Freude über den Nachwuchs und sei gespannt, wie sich die Kinder entwickeln und was aus ihnen werden würde.
Ralf war, sobald es die Gesundheit von Margot, Paulina und Markus erlaubte, persönlich auf den Immenhof gekommen und hatte Porträts der glücklichen Familie angefertigt. Eines davon steckte in einem großen Rahmen: Es zeigte Margot, jeweils ein Kind an der Brust und Jochen dahinterstehend.
Das Bild kostete keinen Pfennig, das Ralf es der Familie von Roth zu Weihnachten geschenkt hatte.

Nach dem Essen stand wieder eine Versorgung der Babys auf dem Plan. Diesmal war Dalli an der Reihe zu helfen. Gemeinsam mit Margot wickelte sie erst Paulina und dann Markus sorgfältig aus, tat was getan werden musste und holte dann neue Windeln.
„Du machst das ganz prima.“
„Dick stellt sich viel geschickter dabei an. Wahrscheinlich denkt sie daran, wie es wäre, selbst ein Baby zu haben.“, feixte Dalli unbekümmert, wie es ihre Art war.
„Du hast schon irgendwie recht. Dick und ich haben uns oft ausführlich darüber unterhalten. Allerdings ist sie noch ein wenig zu jung, um heiraten und eigene Kinder haben zu dürfen.“, Margot nahm die Babys hoch, legte sie zurück in den Stubenwagen. Er war neu. Jochen hatte ihn eigenhändig gezimmert, da aus der Kinderzeit von Dick und Dalli nichts mehr erhalten geblieben war.
„Komm, lass uns vom Badezimmer aus nach nebenan ins Schlafzimmer gehen. Ich möchte ein wenig mit dir plaudern, von Frau zu Frau, du verstehst schon, was ich meine.“

Dalli nahm das Angebot gerne an. Sie wartete, bis Margot mit den Kleinen weg war und öffnete dann für einen Augenblick das Fenster, um frische Luft hereinzulassen.
„Wie können Babys nur so stinken? Das riecht ja ärger als auf einem Misthaufen.“, Dalli sprach ihre Gedanken vorsichtshalber nicht laut aus. „Irgendwie gehört das wohl zum Elternsein dazu. Naja, früher oder später wird jedes Kind stubenrein. Das hat mir Oma einmal erzählt.“

„Hier bist du also. Ich habe schon auf dich gewartet.“, Margot strich den Kleinen beruhigend über das Köpfchen. „Sie sind schon wieder etwas gewachsen, seit gestern.“
Dalli hob und senkte die Schultern. Nun ja, wenn Margot das so sah.
„Setz dich zu mir.“
„Auf das Bett?“, Dalli war skeptisch. Durfte sie das wirklich tun?
„Warum denn nicht? Die Tagesdecke reicht locker für uns beide.“
„Was ist mit Dick? Sie wäre bestimmt auch gerne dabei.“, wandte Dalli zögernd ein.
„Im Augenblick schreibt sie wohl einen langen Brief an Ralf. Das hat sie mir vorhin erzählt.“
Dalli verriet nun, dass sie sich ihrerseits ausgeschlossen gefühlt habe: „Das hat mir schon wehgetan.“
„Jetzt tut es das nicht mehr?“, hakte Margot nach.
„Seit damals bin ich älter geworden und verstehe nun, dass mich nicht alles etwas angeht.“, verriet Dali ungewöhnlich nachdenklich. „Dabei hätte ich so gerne jemanden zum Reden gebraucht.“
„Dick hat mich auf den Gedanken gebracht. Sie hat gemeint, wenn ich mit ihr rede, warum nicht auch mit dir? Du willst doch immer als Erwachsene behandelt werden, also versuche ich das nun auch.“
Dalli setzte sich quer auf das Bett, streckte sich zu ihrer vollen Größe: „Ich bin schon 17.“
„Sehr groß für dein Alter und du wirst vermutlich noch ein gutes Stück wachsen.“
„Keine Ahnung, von wem ich das habe.“, Dalli war größer als Dick und größer als Oma Jantzen.

Einem spontanen Impuls folgend beugte sie sich hinüber zu Margot, umarmte jene zögernd.
„Na da kann ich mich ja schon einmal daran gewöhnen, wenn meine Kinder groß genug sind.“
„Darf ich „Mama“ zu dir sagen?“, scherzte Dalli, die, wie so oft, guter Laune war.
Margot lachte kurz auf, hielt sich eine Hand vor den Mund, gluckste leise vor sich hin.
„Was ist mit dir?“
„Dein Ausspruch gefällt mir. Aber ich darf doch nicht laut lachen, wegen der Babys.“
„Sie schlafen tief und fest und hören es kaum, wenn Jochen nachts wie ein Bär schnarcht.“
„Sei dir da nur nicht so sicher. Babys bekommen vielmehr mit, als wir meinen.“
Dalli rollte auf die andere Seite des Bettes, blickte hinüber in den Stubenwagen.
„Wie süß und unschuldig die Kleinen noch sind. Sie haben sich ein tolles Zuhause ausgesucht.“
„Auf dem Immenhof ist Platz für viele Kinder. Ich möchte sicher noch weitere haben, aber erst wenn diese beiden hier aus dem gröbsten heraußen sind.“, verriet Margot. „Ich habe zu meiner Schwester keinen guten Draht. Ich beneidet Dick und dich irgenwie darum.“
„Nun sind wir wieder quitt.“, Dalli schmunzelte ihrerseits, wurde dann nachdenklich. „Wie seid ihr auf die Namen der beiden gekommen? Habt ihr sie nach irgendwelchen Urstrumpfahnen benannt?“
„Der Name Paul oder vielmehr Paulina ist als Andenken an Jochens Bruder zu verstehen. Paul gefällt mir nicht, also haben wir uns auf die weibliche Form geeinigt. Markus ist uns spontan eingefallen.“
Dalli hörte nur mit einem halben Ohr zu, wie Margot ausführlich über die Strapazen der Entbindung erzählte.
„Aber dann, wie die Kleinen in meinen Armen gelegen sind, ist alles vergessen gewesen, was ich zuvor an Schmerzen erlitten habe.“
„Ich kann mir das irgendwie nicht so recht vorstellen, ein Baby zu haben oder bei einer Entbindung zu sehen zu dürfen. Ich glaube, ich würde in Ohnmacht fallen.“
„Das sagst du so in deinem jugendlichen Leichtsinn.“, nahm Margot den Faden des Gesprächs auf. „Ich erinnere dich daran, wenn es irgendwann bei Dick oder bei dir selbst soweit ist, wie du dann darüber denkst. Du bist ja noch so jung und hast dein ganzes Leben vor dir.“
„Ein Leben mit wenig Geld, dafür mit einer Familie.“, Dalli verzog kurz das Gesicht. „Ethelbert hat viel Geld und ist nicht unbedingt glücklich. Jedenfalls lese ich das aus seinen Postkarten heraus.“
„Na siehst du, wie gut du es hast. Oh, wer schreit denn da? Ist etwa schon Zeit für die nächste Fütterung?“
Dalli gab offen zu, dass das Geschrei der Babys für sie einheitlich klang, egal ob jene Hunger oder Durst oder die Windeln voll hätten oder einfach nur geknuddelt werden wollten.

„Eine Mutter weiß genau, was gemeint ist. Auch das wirst du vielleicht eines Tages selbst erfahren.“
Margot ging hinüber zum Stubenwagen, sprach leise mit den Babys, damit jene sich beruhigten.
„Zeit für die nächste Mahlzeit ist erst in einer halben Stunde. Bis dahin werden es die Kleinen schon noch aushalten. Die Hebamme hat mir das Stillen abgeraten, doch Oma meint, es sei nur recht und billig. Also höre ich da lieber auf Oma, die hat schließlich ein wenig mehr Erfahrung als ich.“
Nachdem die halbe Stunde um war, wollte Dalli eigentlich schon gehen. Der Stillvorgang sei doch etwas intimes. Aber Margot erlaubte es. Dalli durfte alles genau beobachten, ja sogar Fragen dazu stellen.
„Es bleibt unter uns Frauen. Dick weiß auch Bescheid, das ist doch selbstverständlich. Jochen hingegen darf nichts davon erfahren.“
Dalli hob beide Hände zum Schwur. Sie war stolz darauf, allmählich in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen zu werden oder jenem zumindest etwas näher kommen zu können.
Dalli blickte zu Margot wie zu einer Mutter, die sie nie gehabt hatte, auf, wenngleich der Altersunterschied so gering war, dass Margot gar nicht ihre Mutter sein konnte.

Im Frühjahr, als das Wetter allmählich besser wurde, durften die Babys langsam nach draußen. Bei den täglichen Spaziergängen war Dalli immer gerne dabei, wenn sie nicht gerade andere Verpflichtungen hatte. Noch war es ruhig, im Sommer sollten bereits die nächsten Gäste kommen.
Bei einigen der Mutterstuten gab es ebenfalls Nachwuchs. Dalli fühlte sich stolz, wenn sie Hein oder Jochen bei einer Fohlengeburt assistieren durfte. Endlich wurde sie nicht mehr als Kind behandelt.

Mitte April, an einem strahlenden Sommertag, durfte Dick für einige Tage zu Ralf nach Lübeck verreisen. Dalli war ebenfalls dazu eingeladen, als Anstandsdame sozusagen.
„Was ist mit der vielen Arbeit? Wenn vielleicht jetzt schon die ersten Gäste kommen?“
„Mach dir da mal keine Sorgen. Und wenn, dann schaffen wir das schon. Ein Tapetenwechsel tut immer gut.“, versicherte Jochen nachdrücklich.

Die Fahrt nach Lübeck verlief problemlos. In der Stadt selbst kam sich Dalli sichtlich verloren vor. Ängstlich hielt sie sich an Dick, die ihr zuflüsterte, auch nicht so selbstbewusst zu sein, wie sie wirkte. Ralf hatte viel zu arbeiten und konnte sich daher den beiden Mädchen weniger widmen, als er wollte. Dennoch lud er sie auf einen Eisbecher pro Nase und ins Kino ein. So etwas kam in Malente nicht alle Tage vor, weswegen sich Dalli sehr darüber freute. Anders als Margot und Jochen behandelte Ralf sie immer noch wie ein Kind, oder bildete sie sich das nur ein? Nun ja, er war doch um einiges älter als sie, schon erwachsen, verdiente sein eigenes Geld, hatte eine kleine Wohnung, was wollte er mehr.

Dalli war froh darüber, wieder auf dem Immenhof zu sein, während Dick es jedem erzählte, dass sie am liebsten in der Stadt leben wollte, gemeinsam mit Ralf natürlich. Arbeiten gehen, ja, wenn es denn unbedingt notwendig sei. Doch sie sähe sich eher als Hausfrau und Mutter, wie es Margot tat.
Dalli hingegen machte sich keine Gedanken um ihre eigene Zukunft. Erst einmal das Abitur machen Weiter dachte sie vorerst nicht. Insgeheim zählte sie die Tage, bis Ethelbert wieder im Lande war, oder es zumindest sein wollte. Wer wusste schon, was die Zukunft für ihn bereithielt?

Ende Mai kam, seit langem wieder, ein Brief von Ethelbert. Dalli freute sich sehr darüber und hopste, nur heimlich, damit es keiner sah, wie ein kleines Kind. Ethelbert schrieb, es gehe ihm gut, er sei wieder bei seinen Eltern und wolle im Herbst ein Studium aufnehmen. Eine konkrete Richtung hatte er noch nicht gewählt. Rechtswissenschaften oder doch eher Betriebswissenschaften?
Dalli beantwortete den Brief, sprach Ethelbert Mut zu, egal, welchen Weg er einschlagen würde.
Mans schlug auch etwas ein, nämlich Hufeisen in einen Pferdefuß. Er arbeitete in der Schmiede seines Vaters und sollte diese eines Tages mit allen Rechten und Pflichten übernehmen.
Dalli kam ab und zu vorbei, um ein Pferd dort zu versorgen und mit Mans zu plauderen. Ersteres verlief reibungslos, letzteres war nicht immer möglich, da die Schmiede einen guten Ruf und dementsprechend viele Kunden hatte, die alle versorgt werden mussten.

Dalli schoß in diesem Frühsommer derart in die Höhe, dass sie aus allen Kleidern herauswuchs. Oma Jantzen kam mit dem Nähen kaum noch hinterher.
„Wo wächst denn das Mädchen noch hin?“, schlug sie oftmals die Hände über dem Kopf zusammen.
Dalli lachte frei, wie es eben ihre Art war: „Ja, dann muss ich wohl meine Kleider wieder verlängern.“
„Es hilft nichts, für neue haben wir kein Geld. Also setz dich mal in Ruhe hierher, dann zeige ich dir, wie das geht. Mit viel Übung wirst du es eines Tages im Schlaf können, das verspreche ich dir.“
So einfach war es nicht, wie es klang. Dalli gab sich Mühe, doch sie verschnitt öfter ein Kleidungsstück, nähte ein Knopfloch verkehrt herum an und dergleichen mehr.
Mit der Zeit stellten sich langsam die ersten Erfolge ein. Dalli war sichtlich stolz darauf.

Stolz waren auch die neuen Gäste, die allmählich wieder auf dem Immenhof eintrudelten. Viele von ihnen bewunderten den Nachwuchs von Margot und Jochen, aber auch die Tiere erhielten Lob.
Nur wenige Gäste kannte Dalli noch von den vorigen Jahren her, so dass sie sich immer wieder an neue Gesichter und neue Namen gewöhnen musste. Die Arbeit mit den Gästen ging ihr leichter als die ungeliebten Näharbeiten von der Hand. Ihre karge Freizeit verbrachte sie mit dem Briefwechsel an Ethelbert, der jedoch sehr unregelmäßig verlief. Dalli hätte am liebsten jede Woche einen Brief erhalten und war oft sehr ungeduldig, wenn Ethelbert’s Antwort länger auf sich warten ließ.

Der Sommer zeigte sich von seiner schönsten Seite. Strahlende Sonnentage wechselten sich mit kühlen, gewittrigen Tagen ab. Die Gäste störte das Wetter nicht. Egal, wie unterschiedlich die Kunden waren, eine Gemeinsamkeit gab es: Sie schwärmten von der idyllischen Natur und der frischen Landluft. Der Geruch des Kuhstalles gehörte nun mal dazu. Einige Gäste wollten auch die Babys betreuen, doch das lehnte Margot, mit der Begründung, sie haben ja schon fleißige Helfer, ab.
"Walzer .... Walzer hätt' ich auch gekonnt."
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Andrea1984
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Sommer und Winter

Beitrag von Andrea1984 »

„Mir gefällt das Wetter heute gar nicht.“, meinte Dalli, wies mit der einen Hand zum Himmel hinauf. „Dicke Wolken, die sich immer wieder vor die Sonne schieben. Es wird wohl Regen geben.“
„Das wäre schon in Ordnung, besonders jetzt, nachdem es drei Wochen lang staubtrocken gewesen ist.“, mit diesen Worten schloss Dick das Gatter der Weide.
„Die Ponys spüren das auch. Vielleicht sollten wir sie lieber in den Stall bringen, da sind sicher.“
Dalli störte das Wetter kaum, das sie bei jeder Witterung im Freien unterwegs war.
„Also gut, dann machen wir es. Doch alleine schaffen wir das nicht. Ich werde Hannes und Mans Bescheid sagen.“
Gesagt getan. Gerade als Dalli und ihre Helfer dabei waren, die Ponys von der Weide Richtung Stall zu führen, brauste ein Windstoß auf, dem sogleich ein zweiter folgte. Der Regen kam hinterdrein.

„Uff, das ist geschafft.“, Dalli wischte sich die laufende Nase am Jackenärmel ab. „Was liegt nun an?“
„Die Gäste sind versorgt.“, meinte Jochen, der gerade den Stall betrat. „Margot sieht bei Oma nach dem Rechten.“
„Na dann können wir hier in Ruhe die Boxen ausmisten.“, Dalli ergriff sogleich eine Mistgabel.
„Ist ja gut. Der Wind draußen tut euch nichts.“, mit diesen Worten versuchte Dick die Ponys zu beruhigen, von denen eines mit den Hufen stampfte, das andere laut wieherte.
„Die Ponys sind noch so klein. Seht nur, wie sie sich an ihre Mütter drängen.“
„Haben wir noch genug Holz?“, wollte Dick wissen, die nun ihrerseits eine Box ausmistete.
„Für ein paar Tage reicht es noch hin. Hannes und ich gehen entweder noch in dieser Woche oder in der nächsten in den Wald, um neues zu hacken. Macht euch also keine Sorgen. „
„Wäre hätte das gedacht, dass es jetzt so stark regnet. Ich bin so verschwitzt, dass ich mich am liebsten nach draußen stellen und von dem Regen abgießen lassen würde.“
„Tu das nicht.“, erwiderte Jochen streng. „Es wäre viel zu gefährlich für dich.“

„Habt ihr das gehört? Das ist doch ein Donnerschlag gewesen?“, Dick zuckte zusammen.
„Ein Gewitter. Wie gut, dass die Ernte schon eingebracht ist.“, Jochen atmete tief durch.
„Weiß eigentlich einer von euch, warum Oma solche Angst vor einem Gewitter hat?“
„Warum fragst du sie nicht einfach? Das wäre doch am naheliegendsten.“, schmunzelte Jochen.
„Ich habe es ja versucht.“, Dalli hob mit der Mistgabel das schmutzige Heu auf die Scheibtruhe, die mitten in der Stallgasse stand. „Doch Oma redet entweder nicht davon oder sie lenkt das Thema ab.“
„Möglicherweise hat es etwas mit Opa’s Tod zu tun. Wir wissen nichts darüber, was geschehen ist.“
„Du meinst, er ist von einem Blitz getroffen worden? Oder etwas in der Richtung?“, Dalli ging hinüber zur nächsten Box, wo Schneewittchen stand, die sich im eigenen Mist gewälzt hatte.
„Nanu, wer bist du denn? Ethelbert würde dich kaum wiedererkennen, wenn er hier wäre.“
Dalli legte die Mistgabel beiseite, holte stattdessen eine Bürste, um die Stute, deren Fell einen dunkelbraunen Farbton angenommen hatte, wieder sauber zu bekommen.

Nach der Stallarbeit war erst einmal eine Reinigung des Körpers angesagt. Die Dusche befand sich nach wie vor im Stall, allerdings weit weg von den Ponys und den Großpferden.
„Verflixt, warum ist ausgerechnet heute das Wasser so kalt.“, Dalli spürte, wie ihre Zähne klapperten.
„Die Gäste haben mal wieder das ganze warme Wasser verbraucht oder der Griff klemmt.“
„Ich rubble dich ein wenig mit dem Handtuch ab, dann wird dir bestimmt wieder wärmer.“
„Eine Erkältung können wir uns jetzt nicht leisten.“, Dick warf ihre Locken nach hinten. „Wo steckt Jochen?“
„Er ist schon rüber ins Haus gegangen, das hat er uns vorhin gesagt.“, Dalli schrubbte Dick den Rücken. „Vielleicht bekommen wir nachher etwas Tee oder ein Stück Kuchen.“

Dallis Wünsche erfüllten sich nicht. Oma Jantzen hatte zwar am Vormittag etwas Kuchen gebacken oder vielmehr von Trine backen lassen, aber es war nichts mehr davon übrig geblieben.
„Trine soll euch eine Tasse Milch mit Honig oder Tee mit Rum zubereiten. Das hilft immer.“
„Jochen, du bist einfach umöglich.“, wie so oft hielt Oma Jantzen ihr Strickzeug in den Händen, deutete mit einer spitzen Nadel auf Jochen.
„Lass man. Die Mädels sind schon alt genug, um ab und zu etwas Alkohol trinken zu dürfen.“
„Also gut, dann sagt Trine Bescheid und gebt acht, dass sie alles richtig zubereitet.“

Die Mädels machten es sich im Wohnzimmer bequem, legten sogar die Füße hoch, was eigentlich undamenhaft war. Oma Jantzen hob eine Augenbraue, sagte jedoch nichts.
„Hier bitte sehr, gnädige Frau. Der Tee ist fertig.“
Dalli nippte kurz daran und hätte das Getränk im nächsten Augenblick am liebsten in einen der Blumenkübel gekippt. Das sollte Rum sein? Der schmeckte ja noch ekeliger, als die Medizin, die sie neulich, nur vorbeugend, hatte einnehmen müssen. Der Tee war nicht heiß, sondern lauwarm.
„Oma, ist alles in Ordnung bei dir?“, fragte Dick in einem besorgten Tonfall.
„Mir geht es gut, wenn da nur nicht das Gewitter wäre.“, Oma Jantzen legte die Stricknadeln auf den Tisch. „Meine Hände zittern so sehr, dass ich kaum die Nadeln halten kann. Das wird nichts mehr.“
„Was soll das werden, wenn es fertig ist?“
„Eine Jäckchen für Markus. Das Jäckchen für Paulina ist schon fertig. Ich arbeite täglich daran.“
„Oma, du solltest doch nicht …“, fing Jochen an. Oma Jantzen unterbrach ihn.
„Papperlapp, ich tue das gerne. Gönnt mir meine Freuden, die ich noch habe. Andere Frauen, in meinem Alter dämmern entweder im Altersheim vor sich hin oder sind längst unter der Erde.“
„Lasst uns von etwas erfreulicherem reden.“, wechselte Jochen elegant das Thema.
Alle Augen waren auf ihn gerichtet. Selbst Dalli, die ihre Blicke immer wieder abschweifen ließ.
„Die Saison ist, bis jetzt, recht gut verlaufen, sodass wir uns sogar etwas schwächere Einnahmen im August leisten können.“
„Was willst du damit sagen? Ich verstehe gerade nur Bahnhof sammt dem Lokführer.“
„Wir haben keine Schulden mehr?“, Oma Jantzen strahlte über das ganze Gesicht.
„So schnell ist das nicht möglich.“, dämpfte Jochen die Erwartung. „Allerdings schreiben wir in dieser Saison zum ersten Mal schwarze Zahlen. Das hört sich gut an, doch wir sollen uns nicht auf den Lorbeeren ausruhen, sondern überlegen, wie wir das Geld sinnvoll verwalten können.“
„Ich habe mich um die Finanzen nie gekümmert und vertraue dir in dieser Hinsicht.“
Dalli grinste in Richtung Dick. Beide Mädchen lachten.
„Was ist so komisch daran?“, wollte Jochen wissen.
„Oh, eigentlich nichts, nur …“, Dick konnte nicht mehr weiterreden, japste vor Lachen nach Luft.
„Ich sage nur ein Wort „Windhund.“.“, Dalli hielt sich den Bauch.
„Also wirklich…“, Oma Jantzen blieb der Mund offen stehen.
„Na da steht mir ja was bevor, wenn meine Kinder eines Tages auch so vorlaut sind.“
„Kindermund tut Wahrheit kund.“, fand Oma Jantzen langsam die Sprache wieder.
„Immerhin haben wir es geschafft, dich bei Laune zu halten, so dass du das Wetter vergessen hast.“
„Diese Kinder. Nun, sie haben Recht, das gebe ich zu. Mir geht es schon wieder viel besser.“

Was man von Dalli nicht gerade behaupten konnte. Am nächsten Tag lag sie mit Fieber, Halsschmerzen und einer roten Nase im Bett. Der Tee mit Rum, oder was auch immer das Getränk hätte sein sollen, hatte nicht geholfen. Dalli konnte kaum reden und sich daher nur schriftlich mitteilen. Sie ärgerte sich darüber, erkrankt zu sein, obendrein auch noch mitten in den Ferien. Aber es war nichts zu machen. In dicke Decken eingepackt lag Dalli in ihrem Zimmer, abgeschottet von Dick, abgeschottet vom Rest der Familie, besonders von Margot und den kleinen Babys, um diese nicht anzustecken. Babys hatten, das wusste sogar Dalli, ein eher schwaches Immunsystem.


Mitte August war Dalli nach einer beinahe zweiwöchigen Pause, wieder auf den Beinen. Am Anfang fühlte sich das junge Mädchen noch schlapp, musste sich ausruhen. Doch bald ging es Dalli wieder besser. Ende August verkündete Margot, beim Frühstück im privaten Kreis, dass abermals Nachwuchs zu erwarten sei. Der errechnete Geburtstermin war kommenden Februar.
„Wird dir das nicht zuviel? Paulina und Markus sind fast ein Jahr alt.“
„Ich werde es schon schaffen.“, versicherte Margot, von einem Ohr zum anderen strahlend. „Die Ärztin hat gemeint, dass alles in Ordnung ist und dass es diesmal wohl nur ein Baby werden wird. Jedenfalls hat sie keinen weiteren Herzschlag gehört. Ich fühle mich so, als könnte ich Bäume ausreißen.“
„Waldarbeit ist Männersache.“, quäkte Dalli dazwischen, fing sich eine Kopfnuss von Jochen ein.
„Wie weit bist du?“, wollte Dick, die gerade Marmelade auf ihr Brot strich, wissen.
„In den 14. Woche. Ich habe schon damit begonnen, einige Umstandskleider zu kaufen. Wenn sie mir nicht passen, kann ich ja notfalls eine von Jochen's Hosen anziehen.“
„Das wäre eine Möglichkeit.“, schmunzelte Jochen. „Nun ja, bis zum Februar ist ja noch Zeit.“
„Da werden die Gäste im nächsten Sommer Augen machen, wenn dann statt zwei, plötzlich drei Babys da sind.“, Dalli rührte in ihrem Kakao, den sie morgens gerne trank. Kaffee schmeckte ihr nicht.
„Dalli und Dick werden mir sicher auch diesmal wieder helfen.“
„Natürlich. Das ist doch selbstverständlich. Ich kann ja schon mal ein bissche üben, für den Fall der Fälle. Ralf und ich möchten auch mal gerne Kinder haben, aber erst in ein paar Jahren.“
„Na dann ist ja alles gut. Vor 1961 könnt ihr sowieso nicht heiraten, da du ja noch minderjährig bist.“
„Ich weiß.“, Dick ließ den Kopf hängen. „Warum vergeht die Zeit nur so langsam?“
„2 Jahre sind es nur noch. Die wirst du auch schon überstehen.“, versicherte Jochen nachdrücklich.
„Wer sagt denn, dass Ralf bis dahin nicht längst schon eine andere hat?“, neckte Dalli, auf die Gefahr sich abermals eine Kopfnuss einzufangen.
„Das würde Ralf nie tun, Er hat nur mich lieb.“, meinte Dick, hob den Kopf langsam wieder nach oben.
Vorerst wurde das Pony-Hotel nur in den Sommermonaten Juni, Juli und August geführt. Im Herbst und im Winter hatten die Ponys und die Großpferde sozusagen Ferien, durften sich erholten. Eine Verlängerung des Pony-Hotels kam, aus diversen Gründen, welche Dalli nur vermuten konnte, vorerst oder sicher nicht infrage. Sie stelle keine Fragen dazu. Die Finanzen waren Jochens Sache, eventuell hatte Oma Jantzen diesbezüglich auch ein Mitspracherecht. Genau wusste Dalli das nicht. Sie hatte ihre Arbeit, das Lernen für die Schule und ein Dach über den Kopf. Was wollte sie mehr.

Ethelbert schrieb nur selten, seit er im Herbst das geplante Studium aufgenommen hatte. Dalli freute sich über jeden Brief, den sie erhielt, antwortete sogleich und wartete oft wochenlang, ehe eine Rückantwort kam. Wem sollte sie ihre Sorgen und Ängste anvertrauen? Jeder am Hof, ausgenommen vielleicht noch Dick, hielt sie für ein Kind, dass nur arbeiten und lernen sollte, aber noch viel zu jung, zum lieben und zum heiraten war. Eine weitschichtige Verwandtschaft bestand zwar, war jedoch kein Hindernis, wie Dalli in der Schule gelernt hatte, wo oft in früheren Zeiten Cousins und Cousinen, ja sogar Onkel und Nichten, Tanten und Neffen, untereinander geheiratet hatten, um die Erbfolge zu sichern. Das Problem gab es in diesem Fall eher weniger, da ja kaum etwas zum erben da war.

Mitte Oktober kam überraschend Pankraz zu Besuch. Natürlich nicht ganz uneigennützig. Er hatte einige geschäftliche Besprechungen in Lübeck und kam daher, am Rückweg nach Eltville, auf dem Immenhof vorbei. Dalli war enttäuscht, weil sich Pankraz, anders als bei ihrem Besuch damals, kaum mit ihr abgab und immer nur bei den Erwachsenen in Jochens Arbeitszimmer steckte. Dalli schmiedete insgeheim fürchterliche Rachepläne, um Pankraz zu ärgern, traute sich jedoch nicht, diese auch wirklich umzusetzen. Er konnte ärgerlich werden, das wusste sie nur allzu gut. Und dann war wieder eine empfindliche Strafe fällig. Dalli schluckte ihren Ärger hinunter, machte gute Miene zum bösen Spiel. In einer ruhigen Minute stellte Dalli fest, dass es vielleicht nur an ihrem Alter lag, dass sie vielleicht eifersüchtig auf die Großen war. Das würde sich mit der Zeit schon legen.

Leider konnte Pankraz nur wenige Stunden bleiben. Er kreuzte zu Mittag auf und reiste, nach dem Abendessen, schon wieder ab. Dalli stand lächelnd und winkend auf der Freitreppe.
„Wie gut, dass er meine Gedanken nicht lesen kann. Mit mir hat er heute wenig geredet. Das finde ich irgendwie unfair, doch es lässt sich kaum ändern. Zum Spielen hat immer weniger Zeit. Ich möchte nicht so schnell erwachsen werden, wie Dick. Sie hat immerhin ein Ziel vor Augen. Was habe ich?“
In den nächsten Tagen und Wochen lernte Dalli, verbissen wie noch nie, um sich von ihrem Kummer, den Pankraz wissentlich oder unwissentlich verursacht hatte, abzulenken. Es half langsam, aber stetig. Der Schmerz wurde weniger und machte einer Enttäuschung Platz. Dalli war sich im Klaren darüber, nicht die einzige Person auf dem Immenhof zu sein, die Erwachsenen hatten Vorrang.

Bereits Ende November schneite es, doch der Schnee blieb nicht liegen. Dalli, Dick und Jochen hatten viel Arbeit im Stall und im Haushalt, da Margot sich um die Babys kümmern und schonen musste. Dalli zog die Arbeit im Stall der Hilfe bei den Babys bei weitem vor. Tiere waren einfacher zu pflegen und rochen überdies nicht so unangenehm wie die Kleinen, wenn sie die Windeln voll hatten.

Mitte Dezember konnten, spät aber doch, einige Ponys verkauft werden. Auf diese Weise kam etwas Geld in die Haushaltskasse. Dalli hatte nur wenige Wünsche zu Weihnachten. Was sollte sie sich auch großartiges wünschen. Halt, jetzt war ihr etwas eingefallen. Ein Tagebuch. So eines, wie es Anne Frank damals verwendet hatte. Leider war sie ja viel zu früh gestorben. Dalli hatte von dem Tagebuch und dem Schicksal von Anne Frank in der Schule gelernt. Der Vater von Anne Frank, Otto Frank, war sogar noch am Leben und inzwischen 70 Jahre alt. Dalli konnte sich das nur schwer vorstellen: Die Frau tot, die Kinder, Anne und ihre ältere Schwester Margot, tot und er selbst, als einziger der Familie am Leben. Irgendwo zurückgezogen in Deutschland oder in der Schweiz.

Erst wenige Tage vor Weihnachten traf ein langer Brief von Ethelbert ein. Zunächst handelte er nur von Belanglosigkeiten, dem Wetter, dem Studium und dem sonstigen Alltag. Gegen Ende des Briefes musste Dalli mehrmals lesen, ob sie auch wirklich richtig verstanden hatte. Sicherheitshalber holte sie Dick zu Hilfe.
„Ja, hier steht es schwarz auf weiß. Ethelbert hat dich nach Weihnachten, über Silvester, einige Tage nach München eingeladen. Du wirst seine Eltern kennenlernen.“
„Diese Güte, das kann ich doch gar nicht annehmen.“, stammelte Dalli. „Ich habe kaum was zum anziehen.“
„Wenn es sein muss, leihe ich dir ein Kleid von mir. Aber mach es bloß nicht kaputt.“
Es tauchte ein weiteres Problem auf, dass sich nicht so einfach lösen ließ. Wie sollte Dalli nach München kommen? Mit der Eisenbahn fahren? Alleine, als junge Dame. Das war unschicklich.

Dalli schrieb Ethelbert, sie nähme seine Einladung gerne an. Nur wie sähe es auf der Reise aus. Dick wolle vermutlich nicht mitkommen. Oma Jantzen könne man die weite Reise nur schwer zumuten.
Ethelbert antwortete mit einem Brief, dann solle eben Jochen mitkommen, als Aufsichtsperson sozusagen. Überdies sei er doch ihr Vormund, das wisse Ethelbert von Jochen selbst.
Eine Weile wurde hin und her überlegt. Jochen wollte eigentlich nicht verreisen. Was wäre wenn, das Baby zu früh käme oder Margot etwas zustieße? Oma Jantzen beruhigte ihn, sie bleibe ja da. Und wenn wirklich etwas dringendes sei, so könne man jederzeit die Hebamme zu Hilfe holen.

Ausnahmsweise durfte Dalli zum Telephon greifen und Ethelbert anrufen. Ja, es sei alles in Ordnung. Jochen käme mit. Das Gespräch dauerte, vor allem aus Kostengründen, nur wenige Minuten.
Dalli freute sich so sehr, dass sie jubelnd durch das Zimmer tanzte. Sie konnte es kaum abwarten, nach München zu fahren, Großstadtluft zu schnuppern und mal etwas anderes kennenzulernen.

Doch zunächst stand noch das Weihnachtsfest auf dem Plan. In diesem Jahr stellte sich Dalli in die Küche, um Kekse zu backen. Sie probierte gleich mehrere Sorten aus. Das Ergebnis konnte sich sehen oder vielmehr schmecken lassen. Wie schade, dass Paulina und Markus noch zu klein waren, um die Kekse genießen zu können. Dick, Oma Jantzen und Jochen langten hingegen zu. Margot verzichtete lieber. Ihr gelüstete in dieser Schwangerschaft eher nach saurem, besonders Hering.

Am zweiten Weihnachtsfeiertag ging Jochen, wie er es oft, an den Tagen zwischen den Jahren, tat, in den Dorfkrug, um einen über den Durst zu trinken. Diesmal nahm er auch die Mädels mit. Dick hielt sich nur an Wasser und Limonade, während Dalli ein kleines Bier verkostete. Allerdings vertrug sie es schlecht und bekam davon Durchfall. Nun diese Lehre hatte sie daraus gezogen. Nie wieder Alkohol oder jedenfalls nicht sofort. Sie sah ein, dass sie dafür noch viel zu jung war.
Von der Atmosphäre her, gefiel es ihr im Dorfkrug recht gut. Es waren nur wenige Leute aus dem Dorf da. Fremde kamen im Winter nur selten oder gar nicht, nach Malente.
Dalli achtete darauf, sich nicht zu blamieren. Wenn sie es täte, wäre ihr guter Ruf schnell dahin.
Daher verhielt sie sich, anders als sonst, eher zurückhaltend, saß mehr beobachtend am Tisch. Jochen nickte. Dalli blinzelte zurück. Ja, sie hatte diese Geste schon verstanden.

Am Tag danach wurden die Koffer für die weite Reise gepackt, die am 28. Dezember losgehen sollte. Dalli konnte, vor Aufregung, kaum schlafen und essen. Sie versuchte sich einzureden, es sei eine harmlose Reise, ein Besuch unter Verwandten, weiter nichts. Es würde schon alles gut gehen.
Um das Fahrgeld brauchte sich Dalli nicht zu kümmern. Ethelbert hatte selbiges bereits geschickt und meinte, er wolle auch die Rückfahrt finanzieren, das sei in der Einladung alles dabei.
Dalli fühlte sich beschämt, aber sie konnte das großzügige Angebot nicht einfach ausschlagen.

„So, das wäre also geschafft. Lehn dich zurück und entspann dich. Wir haben eine weite Fahrt vor uns.“, Jochen schloss die Augen, zumindest für einen Moment.
Dalli hingegen blieb wach, blickte mal aus dem Fenster, mal in das Abteil. Es war beinahe leer.
„Wann kommt denn der Schaffner?“
„Immer mit der Ruhe. Ich weiß es doch nicht. Er wird schon den Weg zu uns hierher finden.“
Dalli rutschte auf dem Sitz hin und her.
„Musst du auf die Toilette? Ich glaube, im nächsten Abteil befindet sich eine.“
„Nein, es ist alles in Ordnung. Mir geht es gut.“, versicherte Dalli.
„Dann setz dich wieder ruhig hin. Denk daran, dass du eine junge Dame bist.
„Das hast du noch nie zu mir gesagt.“
„Ich gewöhne mich nur langsam daran, dich als Erwachsene zu betrachten.“, brummelte Jochen.
„Woher …“, Dalli verschlug es die Sprache.
„Deine Schwester hat dich offenbar in der letzten Zeit beobachtet, ihre Schlüsse daraus gezogen und sich mir anvertraut. Sie meint, dass du dich oft ausgestoßen oder wie ein Kind behandelt fühlst.“
„Ich bin ja eines, jedenfalls auf dem Papier.“, Dalli spürte, wie sich ihre Wangen rot anfühlten. Doch das konnte auch an der eisigen Kälte, die draußen herrschte, liegen.
„Von deiner Körpergröße her, könntest du durchaus schon als erwachsen gelten. Ich werde mich bemühen, Dick und dir, ab dem kommenden Jahr mehr Verantwortung zu übertragen.“
„Menschenskind, das finde ich prima. Endlich darf ich mehr tun, als nur die Gäste bedienen oder den Pferdestall ausmisten.“, freute sich Dalli, ohne genauer nachzufragen, was Jochen damit meinte.
„Es gibt viel zu tun und ich kann die ganze Arbeit nicht mehr alleine machen.“
„Was meinst du damit?“, wollte Dalli nun doch wissen, während die Telegrafendrähte vor dem Fenster an ihr vorüberzufliegen schienen.
Das Gespräch wurde unterbrochen, als der Schaffner eintrat. Jochen hielt die Fahrkarten, die er vom Fahrgeld gekauft hatte, bereit. Der Schaffner zwickte hinein, nickte kurz und ging dann wieder hinaus.
„Das ging ja schnell. Ich habe mir das ganz anders vorgestellt.“
„Bezüglich der Arbeit. Es gibt sogar mehrere Bereiche, wo ich dich brauchen kann. Du darfst es dir aussuchen. Ich habe noch keine genauen Pläne, wo du hinpassen könntest. Das gilt auch für Dick.“
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Verlobung und Hochzeit

Beitrag von Andrea1984 »

„Ist das wirklich wahr?“, Dalli blieb skeptisch. „Du muss heiraten, Mans?“
„Ja, weil sonst niemand anderer die Schmiede übernehmen kann.“, bestätigte Mans, der an diesem Nachmittag, gemeinsam mit seinen Eltern und seiner Verlobten auf den Immenhof zu Besuch gekommen war. „Allerdings erst im nächsten Jahr, weil es soviel zu organisieren gibt.“
„Tu nicht so, als ob eine Ehe etwas schlimmes wäre.“, mischte sich Jochen, seine Pfeife schmauchend, in das Gespräch ein. „Sieh nur, wie es mir ergeht. Ich blühe richtig auf.“
„Kein Wunder, bei einer so reizenden Gattin und ebenso reizenden Kindern.“
„Drei Stück und wer weiß, wieviele noch dazu kommen werden. An mir soll es nicht liegen.“
Oma Jantzen riss die Augen und den Mund weit auf, schloss sie nach ein paar Sekunden wieder.
„Lass man Oma, die Mädels können das ruhig hören. Sie sind ja schon erwachsen oder so gut wie.“
„Kinder werden so schnell groß. Wie gut, dass es eure kleinen gibt, sonst wäre ich ganz alleine hier.“

Dalli stand auf, ging hinüber zu Oma Jantzen und gab ihr einen Kuss: „Besser so.“
„Viel besser. Allerdings wird es langsam an der Zeit, dich nach einem Freund umzusehen.“
„Ich bin noch jung, es eilt ja nicht.“, gab Dalli schlagfertig zurück. Insgeheim war sie froh, sich nicht mit den Problemen einer Verlobung, von einer Ehe ganz zu schweigen, herumschlagen zu müssen.
„Wann darf ich endlich heiraten?“, wollte Dick, die neben Oma Jantzen auf dem Sofa saß, wissen.
Diese hob abwehrend die Hände: „Mach mich nicht arm, Kind. Es ist ja schön und gut, dass du jemanden hast, der für dich sorgen kann, wenn ich einmal nicht mehr bin. Aber ich will dich nicht hergeben. Wer soll dann für mich sorgen? Margot liegt ja derzeit schon wieder im Wochenbett.“
„Sarah und ihr geht es gut, dass ist das wichtigste.“, Jochen atmete tief durch, während er gleichzeitig nach Paulina und Markus sah, die friedlich in der Wiege lagen und alles zu beobachten schienen.

Trine, das treue Hausmädchen, kam mit Sekt und Pralinen herein. Die Gäste und die Hausbewohner stießen auf die Verlobung an. Bis jetzt hatte Dalli mit Luisa, Mans‘ Verlobter, noch keine drei Sätze gewechselt. Weniger aus Desinteresse, sondern weil alle die Braut in Beschlag nehmen wollten.
„Als Mitgift bekommt Mans alles überschrieben, so dass ich mich ruhig aufs Altenteil zurückziehen kann und darauf zu hoffen, ein paar Enkel auf meinen Knien zu schaukeln.“
„Immer mit der Ruhe.“, Mans griff nach Luisa’s Hand. „Damit hat es ja noch Zeit. Erst muss ich mich in die Geschäfte einarbeiten. Ich habe zwar vieles in der Schule gelernt, doch das ist alles nur Theorie.“
„So ein braver Junge.“, lobte Oma Jantzen. „An ihm kann sich manch einer ein Beispiel nehmen.“

Dalli grinste von einem Ohr zum anderen. Sie wusste sehr wohl, dass ihre Schulleistungen nicht die besten waren, aber das störte sie wenig. Was sie in der Landwirtschaft und im Pferdestall konnte, hatte sie zu Hause gelernt und wandte es täglich an, sofern ihr neben der Betreuung der Babys dafür noch Zeit blieb. Ja auch das sollte sie lernen, um es einmal selbst anwenden zu können. Wobei sie sich das irgendwie nicht so recht vorstellen konnte. In der Theorie wusste Dalli, was es mit Fortpflanzung auf sich hatte, aber in der Praxis konnte sie das Wissen vorerst nicht umsetzen. Geschweige denn mit jemandem darüber reden. Vielleicht noch mit Dick, aber die hatte wenig Zeit, seit sie an ihrer Aussteuer arbeitete und überdies einen Buchhaltungskurs in Hamburg besuchte.

Nach dem kleinen Imbiss stand ein Spaziergang auf dem Programm. Es war zwar windig und regnete leicht, doch das störte niemanden. Die Menschen auf dem Land waren abgehärtet. Vor dem Spaziergang schlüpfte Dalli schnell in das Schlafzimmer von Jochen und Margot, wo die Wöchnerin und der Säugling lagen.
„Ich finde es schade, dass du noch nicht aufstehen darfst.“
„Meine Kraft werde ich bald wieder brauchen.“, Margot stillte gerade die kleine Sarah, die bereits mit einem Zahn im Mund zur Welt gekommen war und daher nicht nur an der Brust saugte, sondern auch hineinbiss. „Außerdem hat es mir die Hebamme so verschrieben und Gnade Gott, wenn ich mich nicht an die Anweisungen halte. Die Entbindung ist, verglichen mit jener der Zwillinge, einfacher verlaufen.“
„Dazu kann ich nichts sagen. Es wird wohl schon stimmen.“, Dalli beobachtete die Idylle und lächelte.
„Warte es nur ab, in ein paar Jahren, wirst du mit deinem Baby da liegen und ich werde dir gute Ratschläge geben. Nun lauf, die anderen warten schon auf dich. Sarah und ich sind gut versorgt.“
„Eigentlich möchte ich gar nicht nach draußen gehen. Wer sieht bei dir nach dem rechten?“
„Trine hat sich dafür bereiterklärt.“, Margot klopfte der Kleinen vorsichtig auf den Rücken, damit sie ihr Bäuerchen machten konnte, was sie sogleich auch tat. „Brav hast du das getan, sehr brav.“
Dalli verdrehte innerlich die Augen. Sie konnte nicht verstehen, was so besonders daran sein sollte.
Für jene Kleinigkeit wurden Babys und Kleinkinder gelobt, dabei war das doch selbstverständlich: Essen, schlafen, nicht mehr in die Windeln pinkeln und vieles mehr.
„Dalli, wo bleibst du!“, jemand rief nach ihr. Hastig nahm Dalli die Beine in die Hand und lief los.
Bei dem Spaziergang musterte Dalli unauffällig die Frau, welche die nächsten Schmiedsfrau im Dorf werden sollte. Luisa bewegte sich eher langsam, was bei ihrer geringen Körpergröße und ihrem Gewicht kein Wunder war. Vater Dirks, also der alte Schmied, hatte gemeint, sie habe ein breites Becken. Dalli verstand nicht was damit gemeint war, doch es klang durchaus nach einem Lob.
„Zu dumm nur, dass Mans unser einziger Sohn geblieben ist. Hätten doch nur die beiden anderen damals die schwere Krankheit überlebt, würde Mans nicht alle Last auf seinen Schultern tragen.“
„Tja, das ist der Lauf der Welt. Damit müssen wir uns abfinden.“, erwiderte Vater Dirks. Er schien seine künftige Schwiegertochter zu mögen, da er viel mit ihr plauderte und sie zum Lachen brachte.

„Was machst du ein Gesicht wie neun Tage Regenwetter, Dalli?“, wollte Dick wissen.
„Mir geht es gut, es ist alles in Ordnung.“, log Dalli, hoffte, dass man ihr diese Lüge nicht ansah.
„Naja, du musst es ja wissen. Ich mache mir eben Sorgen um dich. Du bist blass um die Nase.“
Dalli atmete tief durch, biss sich auf die Lippen. Sie wollte nicht darüber reden, nicht in der Öffentlichkeit, wo jeder jeden kannte und eine Aussage oft viel Tratsch nach sich zog.
„Wie geht es Ralf und seiner Familie?“, lenkte Dalli geschickt von ihrer Person ab.
„Gut, danke der Nachfrage.“, Dick vergrub die Hände fester in den Manteltaschen. „Er schreibt mir oft, weil er vor lauter Arbeit keine Zeit für Besuche hat. Telefonieren ist sehr teuer. Ich vermisse Ralf.“
„Er besucht dich bestimmt eines Tages wieder oder du ihn.“, versuchte Dalli ihre Schwester zu trösten.
„Ja, im Sommer. Doch das ist noch so schrecklich lange bis dahin. Was soll ich nur ohne Ralf tun?“
„Arbeiten, lernen, die Pferde versorgen, Oma Gesellschaft leisten.“, zählte Dalli an den Fingern ab. „Wobei die Reihenfolge nichts zu bedeuten hat, mir ist das gerade jetzt spontan so eingefallen.“
„Dann bin ich beruhigt.“, jetzt atmete Dick tief durch. „Komm lass uns einen Zahn zulegen, sonst holen wir die anderen nie ein. Sieh nur, wie Luisa vorsichtig den Kinderwagen schiebt.“
„Sie wird halt üben, für den Fall der Fälle. Oder ist sie vielleicht schon schwanger? Was meinst du?“
„Schwer zu sagen, ich kenne sie selbst kaum. Ich weiß nur, dass sie im Juni 1939 geboren ist, derzeit bei ihren Eltern in Hamburg lebt und sich am Land wohler als in der Stadt fühlt.“
„Das ist doch immerhin schon etwas. Seltsam. Wieso fühle ich mich so klein, ihr gegenüber?“
„Weil du Respekt vor ihr hast. Das muss nicht unbedingt etwas schlechtes sein.“
„Genau wie vor Ethelberts Eltern. Was habe ich gezitterte und dann sind sie eigentlich sehr nett gewesen. Ich darf sie sogar duzen, weil wir ja irgendwie miteinander verwandt sind. Du darfst sie auch duzen, das habe ich dir erzählt.“

Dalli fragte höflich an, ob sie auch einmal den Kinderwagen schieben dürfe, wurde jedoch abgewiesen. Inzwischen hatte Dalli an Reife gewonnen und nahm sich nicht mehr jede Ablehnung zu Herzen, schaffte es stattdessen auch einmal ein Ansinnen der Erwachsen abzulehen, ohne dabei taktlos zu erscheinen. Sie tröstete sich in diesem Fall damit, dass es noch viele Gelegenheiten geben würde, die Kleinen zu versorgen, das Jahr 1960 war doch gerade einmal im März angelangt.

Nach dem Spaziergang lud Oma Jantzen die Gäste ein, zum Abendessen zu bleiben. Bei der Unterhaltung zu Tisch langweilte sich Dalli innerlich, ließ sich jedoch nichts anmerken. Dabei kam ihr zum ersten Mal zu Bewusstsein, wie wenig sie eigentlich wusste und konnte. Aber eine Ausbildung, wie Dick sie derzeit machte, war zu teuer. Das wusste Dalli genau. Also schluckte sie ihren Ärger hinunter, machte gute Miene zum bösen Spiel und bot sich freiwillig an, nach dem Essen das Geschirr zu spülen. Für einen Augenblick wenigstens konnte sie dem Trubel der Gesellschaft entfliehen.

Während die Teller und Tassen klapperten, hatte Dalli genügend Zeit nachzudenken. Nachzudenken, was sie einmal werden wollte. Ewig konnte sie nicht auf dem Immenhof bleiben, soviel war ihr schon klar geworden. Platz gab es zwar, aber nur ein Zimmer. Dick würde bestimmt nach der Heirat mit Ralf nach Lübeck ziehen, entweder zu seiner Familie oder sich eine eigene Wohnung suchen.
So enden wie Trine, den ganzen Tag hinter der Herrschaft herräumen und putzen. Danke nein.
Dalli pustete sich eine Locke aus der Stirn. Ein Friseurbesuch war wieder einmal fällig. Oder Dick sollte ihr die Haare schneiden, das war einfacher und kostete nichts, nur ein paar Minuten Zeit.

Solange die Gäste da waren, konnte Dalli nicht über ihre Zukunftspläne reden, das wäre unhöflich gewesen. Also nippte sie an ihrer Limonade, die es nur zu besonderen Anlässen gab und hörte zu.
„Ich habe schon meine ganze Aussteuer beisammen.“, Luisa bekam rote Wangen vor Aufregung.
„Dan könnt ihr doch schon in diesem Jahr heiraten.“, neckte Jochen. „Oder wollt ihr solange warten, wie ich es bei Angela und bei Margot getan habe? Nehmt mich bloß nicht als euer Vorbild.“
„Gut Ding will Weile haben.“,meinte Mans ruhig. „Es sind noch einige Formalitäten zu klären, das geht nicht von heute auf morgen. Die Behörden arbeiten überdies sehr langsam.“
„Die Geschäfte laufen gut, da es viele Bauern hier gibt und solche, die es werden wollen.“, brummelte Vater Dirks in seinen nicht vorhandenen Bart. „Selbstverständlich könnt ihr eure Pferde und Ponys auch nach der Geschäftsübergabe bei uns beschlagen lassen, zu einem Spezialpreis, versteht sich.“
„Diese Güte, das kann ich doch gar nicht annehmen.“, Oma Jantzen drehte ein Taschentuch zwischen ihren Fingern hin und her. „Womit habe ich das alles nur verdient?“
„Dank deines bestrickenden Wesens.“, ergriff nun wieder Jochen das Wort. „Die Leute im Dorf kennen dich und deinen tadellosen Ruf. Mach dir also keine Sorgen und genieße dein Altenteil.“
„Ich bin jünger als Vater Dirks.“, protestierte Oma Jantzen beinahe lautstark. „Da ist von einem Altenteil noch keine Rede. Ich fühle mich, als ob ich Bäume ausreißen könnte.“
„Dann fange gleich mal morgen damit an, der alte Kirschbaum ist schon fällig,“
„Nicht so laut, sonst werden die Babys davon munter.“, mahnte Dick besonnen.
„Ich werde schnell nach dem rechten sehen.“, versprach Jochen, ging weg und kam nach zehn Minuten wieder. „Es ist alles in Ordnung. Margot hat alle drei versorgt. Sie schlafen tief und fest. „

„Schade, dass nur ein Junge dabei ist.“, Luisa hatte eine hohe, durchdringende Stimme. „Ein zweiter wäre besser, damit die Erbfolge gesichert ist.“
„Abwarten und Tee trinken.“, Jochen brachte nichts so leicht aus der Ruhe, doch er hörte sich verärgert an. „Mal sehen, was du zusammenbringst und wann ich dir gratulieren kann.“
„Erst in der Ehe, mit dem Segen des Pastors. Vorher darf ich nicht einmal daran denken.“
„Warum spuckst du dann so große Töne?“, Jochen runzelte die Stirn. „Ich freue mich über jedes meiner Kinder: Die Hauptsache, es ist gesund. Alles andere ist mir nicht so wichtig.“
„Bravo Jochen. Das ist ein vernünftiges Wort.“, Oma Jantzen klatschte in die Hände. „So und nun lasst uns das Thema wechseln, bevor es noch peinlicher wird. Wie entwickeln sich die neuen Fohlen?“
Jochen antwortete, ja selbst Dick gab zu diesem Thema ihren Kommentar ab, weil sie etwas davon verstand. Nur Dalli starrte auf den Teppichboden, zählte die Fäden, welche dort heraushingen. An diesem Abend kam sie sich so klein und unbedeutend vor, sie wusste nicht einmal warum.

Das Gefühl verflog jedoch schnell wieder. In den nächsten Wochen und Monaten wurde Dalli viel gebraucht, ja sie durfte sogar, auf Mans’s Wunsch, eine der Brautjungfern sein. Luisa rümpfte die Nase, aber Mans ließ in dieser Hinsicht nicht mit sich reden. Wenn die Braut schon ihre große Familie einladen wolle, dann habe er auch das Recht, nebst seiner kleinen Familie, auch ein paar Freundinnen aus seiner Jugendzeit einzuladen. Natürlich erhielten auch Oma Jantzen, Dr. Pudlich, Jochen und Margot eine Einladung zur Hochzeit. Die Kinder hingegen ware noch zu klein dafür.

Im Sommer wurde das Ponyhotel wieder eröffnet, diesmal jedoch ohne Margot’s Unterstützung. Sie widmete sich voll und ganz ihren Kindern, übersiedelte dafür in das Forsthaus über, wo es ruhiger war. In diesem Jahr kam, nachdem er einige Zeit nicht hier gewesen war, Herr Ottokar zu Besuch, ein passionierter Medizialrat. Leider alleine, da seine Gattin im Winter überraschend das Zeitliche gesegnet hatte. Herr Ottokar meinte, er könne nun tun, was er wolle, ja vielleicht sogar ein weiteres mal heiraten, wobei er Dalli ansah. Sie tat jedoch so, als ob sie die Avancen nicht merkte. Harmloses Reden gehörte zur Arbeit dazu, doch ein Flirt war tabu. Dalli ließ es sich gefallen, wenn ein Gast ihr schöne Augen machte oder ihr auf den verlängerten Rücken klopfte, doch das war schon alles. Einen Griff des Gastes in ihr Dekollete quittierte Dalli mit einer Ohrfeige. Oma Jantzen zeigte sich entrüstet darüber, doch Jochen hatte glücklicherweise alles beobachtet. Der Gast reiste wutschnaubend ab.
Dennoch musste Dalli versprechen, in Zukunft vorsichtiger zu sein, immer könne Jochen nicht achtgeben. Bis jetzt habe das Ponyhotel einen sehr guten Ruf, es wäre doch schade darum.

In ihrer Freizeit gab Dalli nicht nur den Gästen, sondern auch Paulina und Markus Reitunterricht, wenngleich nur in einfacher Form. Paulina quietschte vor Freude, während sich Markus zurückhaltender gab und offenbar wenig oder kein Interesse am Reiten hatte.
Gegen Ende des Sommers trafen Ethelberts Eltern, wie im Winter vereinbart worden war, auf dem Immenhof ein, jedoch ohne Ethelbert, der ein Praktikum im Ausland absolvierte. Dalli vermisste Ethelbert, wie einen Bruder, den sie nie gehabt hatte und nie haben würde.


Dalli dachte sich nichts schlimmes dabei. Sie behandelte die Verwandten wie andere Gäste auch, brachte Kaffee, Tee und Brötchen, unternahm Spaziergänge in die Umgebung und stellte die neuesten Fohlen vor. Ethelberts Vater mochte Pferde sehr gerne, während Ethelberts Mutter die Nase darüber rümpfte und weder die Ställe, noch die Weiden besichtigen wollte. Selbst Oma Jantzen konnte sie nicht dazu überreden. Stattdessen hielt sich Ethelberts Mutter lieber in Gesellschaft von Margot auf, um sich mit ihr über Kindererziehung zu unterhalten. Dalli bedauerte Margot und hätte ihr zugerne Gesellschaft geleistet, doch die Arbeit bei den anderen Gäste und bei den Pferden ging vor.
Im Herbst wurden Mans und Luisa in der Kirche feierlich aufgeboten, damit das ganze Dorf von der Hochzeit erfuhr. Auch in der Zeitung wurde die Neuigkeit bekanntgegeben. Mans strahlte auf den Photos wie ein Honigkuchenpferd, während Luisa ein ernstes Gesicht aufsetzte.
Sogleich schossen Gerüchte wie Unkraut aus dem Boden: Luisa liebe Mans nicht, sie sei nur hinter seinem Geld und seiner sicheren Arbeit her und dergleichen mehr. Dalli behielt ihre Meinung für sich, um nicht selbst zum Gegenstand des Dorfklatsches zu werden, das wäre nicht fair gewesen.

In dieser Zeit war Dalli viel alleine. Dick besuchte oft Ralf oder wurde von ihm besucht, natürlich nur unter Aufsicht, damit nichts passieren konnte. Einmal als Dalli etwas aus Dicks Zimmer holen durfte, fiel ihr der Stapel an neugestickten Handtüchern auf, jedes mit Dicks Inititalien versehen.
Noch am selben Tag fühlte Dalli ihrer Schwester auf den Zahn.
„Ja, es stimmt. Ralf hat um meine Hand angehalten. Wir wollen im nächsten Jahr, gemeinsam mit Mans und Luisa heiraten, um Kosten zu sparen. Da bist du als Brautjungfer gleich doppelt wichtig.“
„Mensch, du wärst ja auch eine gewesen.“, dämmerte es Dalli.
Dick nickte, während sie an einer Bettdecke stickte: „Braut sein ist viel schöner. Ich habe schon mit Margot über einige Geheimnisse, die nur eine Ehefrau wissen darf, unter vier Augen geredet.“
„Aha, den Vollzug der Ehe, oder wie man das auch immer zu nennen pflegt.“
„Dalli…“, rief Dick aus. „… ich bin entsetzt! Was weißt du noch alles darüber?“
„Oh nicht viel, nur das was uns die Lehrerin in der Schule so beigebracht hat. Und einiges habe ich mir selbst zusammengereimt, wenn der Hengst mit der Stute alleine im Paddock ist.“
„Gut, das genügt schon.“, Dick fädelte den verlorenen Faden wieder ein. „Bei dir hat es ja wirklich noch Zeit. Erstmal kannst du ja an den Babys anderer Leute üben, für den Fall der Fälle.“
„Bei deinen auch.“, Dalli konnte es einfach nicht lassen, diese Frage zu stellen.
„Wenn es soweit ist, ja. Allerdings hat Ralf ebenso ein Wort mitzureden.“
„Dann will ich dich nicht länger stören, es sei denn, du brauchst meine Hilfe hier gerade sehr.“
„Geh zu Oma.“, winkte Dick ab. „Wir sehen uns dann beim Abendessen.“

Die große Hochzeit fand im April 1961 statt. Beinahe das ganze Dorf war eingeladen. Dalli half bei den Vorbereitungen mit, die vorwiegend darin bestanden, die Bräute zu unterstützen. Dick trug ein weißes Brautkleid und einen gleichfarbigen Schleier. Beim Ankleiden, dem Dalli beiwohnte, stutzte sie.
„Nanu. Was ist mit dem Kleid passiert? Ist es dir zu eng geworden?“
Dick lief rot an: „Wir bekommen Nachwuchs. Eigentlich ist es nicht geplant gewesen, doch wir wollten sowieso heiraten und warum nicht gleich so. Ende Oktober soll es soweit sein.“
„Mensch, das ist ja prima.“, Dalli umarmte ihre Schwester vorsichtig. „Warum hast du mir nicht schon eher etwas davon erzählt?“
„Am Anfang bin ich mir ja selbst nicht sicher gewesen. Aber irgendwann habe ich keinen Zweifel mehr daran gehabt.“, Dick strich vorsichtig über die leichte Wölbung, welche sich gerade noch unter dem Brautkleid verbergen ließ. „Ich kann es kaum abwarten, bis das Baby da ist. Ob Junge oder Mädchen ist egal, Hauptsache gesund. Ralf sieht das genauso. Oma ist etwas schockiert, doch inzwischen hat sie es wohl akzeptiert. Margot und Jochen freuen sich auch mit mir. Es wird schon alles recht werden.“
„Schade, dass du dann nicht mehr reiten darfst.“, zeigte sich Dalli ehrlich betrübt.
„Das werde ich wohl aushalten. Es ist ja nur für ein paar Monate.“, Dick lächelte zögernd. „So, nun dreh dich um, damit ich dein Kleid zuknöpfen kann. Vielleicht solltest du deine Haare aufstecken?“
„Muss das sein? Die Spangen pieksen mich immer so.“, wandte Dalli ein.
„Du bist jetzt eine junge Dame und willst als eine solche behandelt werden.“
„Na gut, dann bringen wir es hinter uns.“, seufzte Dalli. Mit zusammengebissenen Zähnen steckte Dalil ihre Haare zu einem Knoten hoch und mit Spangen fest. Es würde ewig dauern, die Locken aufzudrösseln und auszubürsten. Schon bei dem Gedanken daran wurde es Dalli mulmig.
„Hast du dir schon einen Namen für das Baby überlegt?“, wollte sie wissen.
„Wir haben uns noch nicht entschieden. Felix oder Thomas oder Elisabeth oder Dorothea. Es gibt einfach soviele schöne Namen.“
„Vielleicht werden es Zwillinge?“, bohrte Dalli nach, während sie hinter Dick die Treppe nach unten ging.
„Die Ärztin hat bei der vorigen Untersuchung nur einen Herzschlag gehört. Zwillinge sind ja schön und gut, aber ich möchte keine haben, wenigstens nicht so bald.“

Im Flur warteten schon Oma Jantzen, Dr. Pudlich, Margot und Jochen, alle festlich gekleidet.
„Geht es dir gut, besonders in deinem Zustand?“, zeigte sich Oma besorgt. „Dalli weiß Bescheid?“
„Ja und ja. Mach dir keine Sorgen. Ich bereue diesen Schritt nicht.“, Dick zupfte eine Schleife in der Mitte des Kleides zurecht.
„Na das wird ein Gerede geben, wenn das Baby da ist und die Leute auf sechs, statt auf neun Monate kommen.“, scherzte Margot. „Schau nicht so entsetzt, ich versuche nur, dich ein wenig aufzumuntern.“
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Abschied und Ankunft

Beitrag von Andrea1984 »

Auf eine andere Art und Weise versuchte Oma Jantzen Dick aufzumuntern, als sie ihr noch am selben Tag einen Picknickkorb zusteckte: „Damit ihr auf der langen Fahrt etwas zu futtern habt.“
„Danke, Oma, es ist sehr lieb von dir.“, meinte Dick, während sie vorsichtig den Sicherheitsgurt anlegte. „Ich muss doch jetzt für zwei essen. Ralf gibt acht, dass uns nichts passiert.“
„Zwei Wochen sind so lang.“, quäkte Dalli dazwischen. „Ich vermisse euch schon jetzt.“
„Wir sind ja nicht aus der Welt.“, Ralf ging um das Auto herum, kontrollierte die Reifen.
„Aus meiner schon. Wie soll ich es nur ohne Dick aushalten und die Arbeit schaffen?“
„Ich hätte doch so oder so nicht mehr im Ponyhotel weitergearbeitet.“, antwortete Dick ruhig.
„Stimmt, das ist mir glatt entgangen. Schreibt uns doch eine Postkarte oder zwei, je nach dem.“
„Wenn dafür die Zeit übrig bleibt, ganz bestimmt. Ansonsten werden wir viel unternehmen.“
„Das sind doch eure Flitterwochen und nicht eine Exkursion?“, Dalli hob eine Augenbraue.
„Ja meinst du denn, dass wir nur am Strand liegen und Daumen drehen?“, gab Dick zurück.
„So steht es in den Liebesromanen, die ich heimlich von Oma gemopst habe.“
„Dalli!“, seufzte die gerade Erwähnte. „Was soll nur aus dir werden?“
„Etwas wahres ist dran.“, meinte Dick. „Ralf, können wir fahren oder musst du noch auf Toilette?“
„Wo sind Jochen und Margot?“, wollte Dalli wissen. „Ich habe sie zuletzt in der Kirche gesehen:“
„Jochen hat ausgerechnet heute einen wichtigen, geschäftlichen Termin in Hamburg und Margot ist mitgefahren. Sie haben sich schon vorhin von uns verarbschiedet. Mach dir keine Sorgen.“
„Es kann immer etwas passieren.“, seufzte Oma Jantzen. „Ich werde nicht schlafen können.“
„Oma, ich bin doch auch noch da.“, Dalli legte ihr eine Hand auf den Arm. „Es wird alles gut.“
„Ausgerechnet nach Italien. Als ob es in Deutschland nicht auch schöne Städte geben würde.“
„Das ist schon immer Ralfs und mein Wunsch gewesen, dorthin zu fahren. Wir haben schon alles fest gebucht und müssen heute Abend am Campingplatz eintreffen, sonst ist der Stellplatz leider besetzt.“
„Wie man ein Zelt aufbaut, haben wir lange genug geübt.“, ergänzte Ralf. Er steckte den Schlüssel in das Zündschloss und ließ den Motor laufen. Dalli stand, nach außen hin, ruhig und gefasst da und winkte solange, bis die beiden Frischvermählten aus dem Blickfeld verschwunden waren.

Am nächsten Tag kam Ethelbert überraschend zu Besuch. Er bedauerte, die Hochzeit verpasst zu haben, doch es sollte nicht sein.
„Ich wäre gerne selbst der Bräutigam gewesen.“, gab Ethelbert offen zu.
„Das wirst du bestimmt eines Tages. Dick hat dich doch nie wirklich geliebt.“
„Ich bin so dumm gewesen, ihr Ralf vorzustellen. Danach hat sie nur Augen für ihn gehabt.“, Ethelbert stieß mit der Gabel in den Kuchen, welchen Margot frisch gebacken hatte.
„Schön, dass du es einsiehst.“, neckte Dalli. Nur sie durfte sich das erlauben.
„Doch ich gebe nicht so schnell auf. Und wenn ich so alt wie Jochen werden muss.“
„Die Jugend von heute.“, seufzte Jochen, rührte in seinem Kaffee. „Zu meiner Zeit hätte es das nicht gegeben, dass so ein junger Hupfer den Respekt vor der älteren Generation vermissen lässt.“
„So habe ich es nicht gemeint. Verzeih mir bitte.“, Ethelbert bewies durchaus seine Manieren.
„Wir könnten ja eine Wette abschließen.“, bot Dalli an. Sie nahm das Thema nicht so ernst. Was ging sie Ethelbert’s Hochzeit oder auch nur der Plan dazu an. Das war doch wirklich nicht ihre Sache.

Das Kaffeestündchen fand bei diesem schönen Wetter im Garten statt. Eine Wespe schwirrte herum. Trine brachte noch etwas Kaffee. Oma Jantzen schenkte dem Gast nach.
„Wie lange kannst du hier bleiben? Es sind keine Ferien, oder?“, wollte Dali aus Höflichkeit wissen.
„Einige Tage schon, ich habe im Moment viel freie Zeit.“, antwortete Ethelbert ebenso höflich. „Lass uns das Thema wechseln. Wie geht es den Pferden und den Ponys?“
„Schneewittchen bekommt dieser Tage ihr erstes Fohlen.“, berichtete Dalli erfreut. „Vielleicht kannst du ja bei der Geburt dabei sein. Oder wäre dir das zu anstrengend?“
„Mensch, warum hast du mir das nicht gleich gesagt.“, Ethelbert’s Augen strahlten wie Sterne.
„Ich wollte dich überraschen.“, meinte Dalli und ergänzte auch gleich die Information zum Nachwuchs bei Dick und Ralf. „Ob ich sie wohl noch erkennen werde, wenn sie aus den Flitterwochen zurück ist.“
Ethelbert grinste, Jochen lachte und Oma Jantzen schüttelte den Kopf.
„Du wirst dich nie ändern, Dalli. Ich merke mir diesen Satz, für den Fall der Fälle, dass du mal heiratest und ein Baby erwartet, was Dick dann zu dir sagen wird.“
„Oh, Oma. Darauf kannst du lange warten. Erst mal ist ja Dick an der Reihe. Und Margot, wobei ich glaube, dass sie mit den drei Rangen im Augenblick genug Arbeit hat und daher nicht an diesem Kaffeestündchen teilnehmen kann, obwohl sie es bestimmt gerne möchte.“
„Tja, wir werden sehen. Noch ist ja nicht aller Tage Abend.“, behielt Oma Jantzen das letzte Wort.
Nach dem Kaffeestündchen plauderte Ethelbert mit Jochen, von Mann zu Mann, während Dalli sich um die Babys kümmerte, um Margot zu entlasten, die ab und zu durchblicken ließ, wie anstrengend die Arbeit war. Oma Jantzen zog sich zu einem Mittagsschlaf in ihr Zimmer zurück und schnarchte.
Mit ihren Worten bezüglich Schneewittchen behielt Dalli recht. Hannes gab am frühen Abend Bescheid, es sei nun soweit und er könne Hilfe dabei gebrauchen. Dalli und Ethelbert kamen dazu.

Kurze Zeit später wurde Schneewittchen von einem gesunden Stutfohlen entbunden. Es war braun, sollte jedoch später weiß, wie seine Eltern werden. Dalli wischte sich eine Träne aus den Augen.
„Es ist immer wieder schön, so ein kleines, hilfloses Wesen zu sehen, dass man betreuen kann.“
„Ich habe das noch nie so erlebt und bin auch ganz überwältigt davon. Wie soll das Kleine heißen?“
„Das überlasse ich dir. Schneewittchen gehört ja dir und das Kleine auch, wenn du magst.“
Gemeinsam versorgten Dalli und Ethelbert die Stute und ihr Fohlen, saßen dann nebeneinander im Heu und beobachten die Tiere, wie sie sich langsam zurückzogen, um nicht gestört zu werden. Es gab Momente im Leben, wo die sonst so schlagfertige Dalli keine Worte fand. Dieser gehörte dazu.

An diesem Abend schwebte Dalli zunächst wie auf Wolke sieben, so kam es ihr jedenfalls vor. Sie hätte zu gerne Dick von dem großen Ereignis berichtet, musste sich jedoch noch ein wenig gedulden.
„Wie geht es Mans und seiner Frau?“, durchbrach Ethelbert die Stille.
„Ganz gut. Die beiden haben keine Flitterwochen, sondern sind hier geblieben.“
„Das verstehe ich nicht.“, Ethelbert hob und senkte die Schultern.
„Vermutlich aus Kostengründen, was ich so beim Essen im Dorfkrug gehört habe. Schade, wegen Mans. Ich hätte ihn nämlich gerne geheiratet, aber es soll einfach nicht sein, irgendwie.“
Ethelbert prustete, ähnlich wie Schneewittchen, die gerade an der Futterkrippe stand.
„Ernsthaft? Du bist in Mans verliebt gewesen. Davon habe ich nie etwas gemerkt.“
„Es war nur Quatsch.“, wehrte Dalli ab. „Mans ist wie ein Bruder für mich, das kannst du mir glauben.“
„Was bin ich für dich?, stellte Ethelbert eine wichtige Frage.
Dalli spürte, wie ihre Wangen rot anliefen. War es wirklich so warm hier drinnen?
„Ich weiß es nicht. Lass mich bitte alleine, ja.“
„Das war nicht die Antwort, welche ich gerne hören wollte.“, Ethelbert stand auf, klopfte sich das Heu von dem Pullover und der Hose. „Ich bin enttäuscht von dir, weil ich mir mehr erwartet hätte.“
„Was willst du denn hören?“, Dalli dämpfte ihre Stimme, um die Pferde nicht zu erschrecken.
„Denk darüber nach.“, mit diesen Worten verließ Ethelbert den Stall.

Dalli fühlte sich getadelt, obwohl sie ein reines Gewissen hatte. In den nächsten Tagen ging sie Ethelbert nach Möglichkeit aus dem Weg und vermied ein längeres Zusammensein unter vier Augen. Gegen Ende der nächsten Woche traf eine Postkarte von Dick und Ralf ein. Sie war zwar an Oma Jantzen gerichtet, doch eine Postkarte durfte jeder lesen. Dalli war froh, als Ethelbert wieder abreiste und verabschiedete sich höflich, aber kühl von ihm. Das Angebot Briefe zu schreiben galt nach wie vor noch, wie Ethelbert versicherte. Dalli nickte. Sie nahm sich vor, den Briefverkehr zu beschränken. Statt einem Brief pro Woche, nur noch einen Brief im Monat oder im halben Jahr, je nach dem.

Eine Woche später kamen Dick und Ralf wieder aus den Flitterwochen zurück, berichteten über ihre Eindrücke, zeigten Bilder her und wirkten fröhlicher denn je. Dalli heuchelte Interesse, obwohl sie nicht verstehen konnte, was an den Kirchen und Klöstern und Schlössern besonders dran war.
„Das Baby bewergt sich schon.“, verriet Dick. „Ich spüre es nur ab und zu, doch es wird mehr werden.“
„Du hast auch eine gesunde Farbe bekommen.“, lobte Dalli ehrlich. „Braun wie ein Pferdeapfel.“
„So, wir müssen wieder los. Ralfs Eltern warten schon auf uns und die Arbeit im Büro auch.“

Am nächsten Tag fing Dick ihre Arbeit bei Dr. Westkamp im Büro an und sollte sie, bis Ende August, wo der Mutterschutz begann, durchführen. Ralf hatte dafür gesorgt. Dr. Westkamp war es nur recht. Es gab immer genug Arbeit. Dalli hätte auch ein Angebot bekommen, es jedoch abgelehnt. Sie wurde auf dem Immenhof nötiger, als in der Stadt gebraucht. Sollten doch die Leute darüber reden.
Dalli half Jochen und Hannes bei den Vorbereitungen auf die nächste Saison im Ponyhotel. Zäune mussten repariert und gestrichen, Vorräte aufgefüllt und Pflanzen auf den Feldern gesät werden.

Auf diese Weise hoffte Dalli ihre aufsteigenden Gefühle für Ethelbert unterdrücken zu können. Ja, sie empfand durchaus etwas für ihn, aber nicht mehr. Wie sollte sie ihn von der Idee mit der Liebe abbringen? Dalli redete heimlich mit den Pferden darüber, da sie sich nach wie vor von den anderen Bewohnern des Immenhofs in dieser Hinsicht unverstanden fühlte. Gut, es gab eine Verwandtschaft zu Ethelbert, aber war es denn verboten, deshalb zu heiraten? Dalli kannte sich nicht genau aus.

Das Ponyhotel lief gut an, die Gäste waren zufrieden. An einem freien Tag durfte Dalli in die große Stadt fahren, genauer nach Lübeck, wo Dick und Ralf in einer kleinen Wohnung lebten.
„Hier habt ihr es sehr gemütlich eingerichtet.“, lobte Dalli, bewunderte die Bilder an den Wänden und die Nippes in den Regalen. Auch ein Kinderzimmer stand schon bereit, fehlte nur noch das Baby.
„Das freut mich sehr.“, Ralf stand auf. „Ich würder ja noch gerne mit dir plaudern, aber die Arbeit ruft.
„Machst du schon wieder Überstunden?“, Dick seufzte, faltete die Hände über ihrer deutlichn Wölbung. „Naja, es ist alles für uns. Ich werde es aushalten, Und dir helfen, sowie ich wieder kann.“

Erst als Ralf gegangen war, fasste sich Dalli ein Herz und brachte das Thema Ethelbert auf das Tapet.
„Ich weiß nicht recht, wobei ich dir helfen soll.“, Dick runzelte die Stirn. „Ethelbert ist in dich verliebt, aber du nicht in ihn. Oder etwa doch?“
„Ich finde ihn nett, aber das alleine reicht wohl kaum für eine Ehe.“, schniefte Dalli.
„Soll ich mit ihm reden? Er macht mir keine Avancen, da bin ich mir sicher.“
Dalli verriet nun, was Ethelbert ihr von der Liebe für Dick gesagt hatte.
„Dann halte ich mich besser heraus.“, Dick stellte die Teetasse zurück auf den Tisch. „Ich würde alles nur noch schlimmer machen. Außerdem habe ich keine Zeit und keinen Bock dafür, ganz ehrlich.“
„Mir ist das alles zuviel. Die Arbeit wächst mir über den Kopf“
„Es wird schon alles wieder gut. Lass dich nicht hängen.“
„Ich würde dich ja gerne umarmen, aber ich habe Angst dir weh zu tun.“
„Das Baby ist gut geschützt. Eine Umarmung tut ihm nichts.“
Dalli umarmte ihre Schwester vorsichtig: „Danke, nun geht es mir schon wieder besser.“
„Na siehst du. Es ist alles nur halb so schlimm. Und nun lass uns von etwas anderem reden.“
„Wie wäre es mit einem Spaziergang? Ich kenne die Stadt doch kaum. Oder wird dir das zuviel?“
„Im Gegenteil. Ich soll mich durchaus in Form halten, das sagt die Ärztin auch. Na dann, komm mit.“

Dalli erfuhr, während des Spaziergangs einiges über Ralfs Familie, darunter seine Schwester Patricia, die auch Nachwuchs erwartetete, jedoch erst nach einigen Jahren Ehe.
„Das habt ihr nicht so abgesprochen?“, hakte Dalli nach.
„Wo denkst du hin.“, meinte Dick entrüstet. „Meine Schwiegereltern, die ich duzen und beim Vornamen nennen darf, wären fast vom Sofa gefallen, als sie die Neuigkeiten erfahren haben.“
„Die Gesichter hätte ich zugerne gesehen. Leider bin ich zu weit weg gewesen.“, scherzte Dalli.
„Wenn du magst, kannst du die Taufpatin des Babys sein.“, bot Dick an. „ich habe das mit Ralf schon abgesprochen, er ist voll und ganz damit einverstanden.“
„Das wird eine große Verantwortung für mich sein. Ich habe keine Ahnung, was auf mich zukommt.“
„Wenn es soweit ist, werde ich dir alles sagen, was du darüber wissen musst.“
„Was täte ich nur ohne dich.“, Dalli blickte in dieser Sache bewundernd zu ihrer Schwester auf, wenngleich jene um einen Kopf kleiner und doppelt so breit, zumindest im Moment, war.

Das Gespräch mit Dick gab Dalli die nötige Kraft, welche sie in den nächsten Wochen und Monaten brauchte. Gegen Ende der Saison verkündete Jochen, der die Geschäfte führte, das Ponyhotel schrieb zum ersten Mal schwarze Zahlen und man könne über neue Anschaffungen wie z. B. eine Reithalle nachdenken. Oma Jantzen zeigte sich skeptisch darüber, das sei zu teuer. Margot verhielt sich neutral. Dalli hingegen war offen für die Neuigkeit und unterstützte Jochen mit guten Argumenten.
„Gebt mir Zeit. Eine alte Frau ist doch kein D-Zug.“, seufzte Oma Jantzen.
„Alle Zeit, die du haben willst.“, beschwichtigte Jochen.
„Vielleicht erlebe ich ja noch das eine oder das andere Urenkelkind mit.“
„Das liegt nicht in meiner Hand. Ich habe alles getan, was ich konnte. Jetzt sind die jungen Leute an der Reihe.“, scherzte Jochen. „Bitte entschuldigt mich, ich möchte jetzt eine Pfeife rauchen.“
„Natürlich, das ist doch selbstverständlich. Mein Mann, Gott hab ihn selig, hat auch gerne Tabak zu sich genommen und dann fürchterlich gehustet. Mein Mitleid hat sich in Grenzen gehalten.“

Dalli spitzte die Ohren. Das klang ja höchst interessant und war mal etwas anderes, als der ewige Dorfklatsch und das Reden über die Tiere. Dalli wusste gar nichts über Opa Jantzen, weil er schon lange tot war. Nicht einmal Angela hatte ihn gekannt. Das wollte schon etwas heißen.
Nur eines wusste Dalli nicht: Warum Oma Jantzen Angst vor Gewittern hatte. Egal, wie sehr sie sonst damenhaft wirkte. Bei Gewitter zeigte sie offen ihre Schwäche. Dalli war stets bereit, Oma Jantzen zu trösten, in dem sie ihr einen kalten Umschlag oder etwas warmes zu trinken brachte.
Ein Brief von Ethelbert traf ein. Sachlich stand etwas von neuen Plänen zu lesen. Ethelbert wollte sein Studium aufgeben und stattdessen praktische Erfahrung sammeln. Doch er wusste noch nicht genau, was und wo. Dalli schrieb zu, jedoch mehr aus Höflichkeit, als wahrem Interesse. Warum vertraute ihr Ethelbert diese Pläne an, wo er doch enttäuscht von ihr war? Wie sollte sie ihm helfen, wo sie doch wenig, bis gar nichts davon verstand. Einzig zuhören und Trost spenden konnte sie Ethelbert.
Seit Dalli im Frühjahr das Abitur, mehr schlecht als recht bestanden hatte, gab es für sie nur noch ein Ziel: Auf dem Immenhof leben und arbeiten. Das Ponyhotel machte im Herbst eine Pause, aber es mangelte nie an Aufgaben: Fohlen wurden geboren, ältere Tiere starben. Andere wurden verkauft und dazugekauft, so es die finanziellen Möglichkeiten und die Räumlichkeiten zuließen. Es war ein Kreislauf von Leben und Tod, von Ankunft und Abschied. Dalli gewöhnte sich schnell daran.

In diesem Herbst kreisten ihre Gedanken weniger um die Tiere, als vielmehr um Dick, deren erste Schwangerschaft sich allmählich dem Ende zuneigte. Dick schrieb regelmäßig, da anrufen zu teuer war. Es gehe ihr gut und sie könne es kaum abwarten, das Baby endlich in natura sehen zu können.
Ende September in aller Herrgottsfrüh klingelte das Telefon. Dalli wurde davon munter, saß beinahe senkrecht im Bett. Was war geschehen? Sie blinzelte, gähnte und rieb sich die Augen.
„Dalli, aufstehen, zieh dich an. Wir fahren nach Lübeck. Bei Dick ist es soweit.“
„Was schon? Es sind doch noch vier Wochen bis zum errechneten Termin.“
„Die Fruchblase ist geplatzt, das Baby wird noch heute das Licht der Welt erblicken.“, verkündete Jochen. „Ich gebe dir eine Viertelstunde, um dich frisch zu machen. Margot, Oma und die Kleinen schlafen noch. Wir wollen ihnen einen Zettel schreiben und auf den Küchentisch legen.“

Auf der Fahrt nach Lübeck bestürmte Dalli ihren Schwager mit vielen Fragen, um von ihrer Nervosität abzulenken. Jochen gab nur knappe Antworten, er musste sich auf das Auto fahren konzentrieren. Im Krankenhaus von Lübecke wurden Dalli und Jochen schon von Ralf erwartet, der nicht mit in den Kreissaal durfte. Die Hebamme hatte ihn eigenhändig nach draußen geschoben.
„Kommen die Schreie von Dick?“, wollte Dalli neugierig wissen.
„Es wäre möglich. Sie hat in den vergangenen Tagen immer wieder über Schmerzen geklagt. Und dann ist die Fruchtblase geplatzt. Auf dem schnellsten Weg sind wir hierher gefahren.“
„Hast du deine Eltern schon verständigt.“, Jochen behielt die Ruhe oder tat zumindest so.
„Dafür ist es noch zu früh.“, Ralf warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Sie schlafen noch. Außerdem haben sie immer etwas Stress. Meine Schwester Patricia hat vor einigen Tagen einer gesunden Tochter das Leben geschenkt. Mathilde soll die Kleine heißen.“
„Sind die beiden auch hier?“, bohrte Dalli nach.
„Kind, Kind stell nicht immer soviele Fragen. Das geht dich nichts an.“
Dalli biss sich auf die Lippen, um nicht laut loszuheulen.
„Musste das sein? Sag nicht immer „Kind“ zu ihr. Dalli ist eine junge Dame und hat den gleichen Respekt verdient, den sie dir entgegenbringt.“, versuchte Jochen den Streit zu schlichten.
Dalli schluckte. Ralf ging auf dem langen Flur auf und ab. Jochen saß ruhig da.

Draußen war alles zunächst finster. Nebel zog durch. Erst nach einer Weile wurde es langsam hell.
Am späten Vormittag kam eine Hebamme mit einer blutverschmierten Schürze auf Ralf zu: „Gratuliere Ihnen, Herr Schüller. Sie haben einen gesunden Sohn. Ihrer Gattin geht es gut. Sie wird versorgt und kommt dann auf das Zimmer 101 auf Station B.“
Der sonst so beherrschte Ralf vergoss Tränen der Freude: „Ein Sohn, ich kann es kaum fassen.“
Dalli hätte zu gerne gewusst, was mit „versorgt“ gemeint war, doch sie nahm sich Ralfs Tadel zu Herzen, stellte keine unnötigen Fragen. Auch ihr liefen die Tränen über die Wangen.
Erst nach einer Weile durfte Dalli ihre Schwester und ihren Neffen auf dem Zimmer besuchen.
„Der kleine kommt ganz nach dir.“, meinte sie bewundernd. Ein dunkler Haarflaum bedeckte sein Köpfchen. Die Augen schimmerten schwarz.
„Habt ihr schon einen Namen gefunden?“, Jochen sah alles etwas sachlicher.
„Wie wäre es mit Felix? Das ist Latein und bedeutet …“
„… „der Glückliche.“ Was meinst du habe ich jahrelange im Lateinunterricht getan? Schiffe versenken gespielt oder was?“, unterbrach Dalli ihren Schwager. „Der Name gefällt mir sehr gut.“
Schließlich stand der ganze Name fest. Felix Carl Schüller. Carl, nach dem frühverstorbenen Vater von Dick und Dalli.
„Wir werden noch einige Tage hier bleiben müssen, um sicher zu sein, dass alles in Ordnung ist. Ich fühle mich erleichtert.“, gab Dick offen zu. „Noch einmal mache ich das so schnell nicht mit.“
„In ein oder zwei Jahren vielleicht.“, Ralf hielt den kleinen Felix in den Armen, liebkoste ihn sanft.
„Lass uns gehen, hier stören wir nur.“, meinte Dalli, zupfte Jochen am Hosenbund.
„Ich bin müde, weil ich die ganze Nacht kein Auge zugetan habe.“, Dick atmete tief ein und aus.
„Dann stören wir euch nicht länger.“, meinte Jochen höflich.
„Sagt ihr den anderen Bescheid? Ich wüsste zu gerne, was Oma dazu meint.“
„Ihr erster Urenkel. Nicht, dass sie vor Aufregung einen Herzinfarkt bekommt.“
„Wir werden es ihr schonend beibringen.“, versprach Jochen. „Ich möchte den Kleinen auch gerne einmal halten, aber damit eilt es ja nicht. Er sieht so zerbrechlich aus.“
„53 Zentimeter und 3,90 kg schwer. Da kann man nicht von zerbrechlich reden.“, meinte Dick stolz.
"Walzer .... Walzer hätt' ich auch gekonnt."
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Andrea1984
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Vertrauliche Gespräche

Beitrag von Andrea1984 »

Die Herren ließen sich entschuldigen: Jochen wollte eine Pfeife rauchen, was nur im dafür vorgesehenen Raucherzimmer möglich war und Ralf kündigte an, seiner Familie Bescheid zu sagen.
„So nun kann ich den Kleinen stillen.“, meinte Dick, lüpfte ihr Nachthemd und legte Felix an.
„Darf ich dabei zusehen? Oder soll ich diskret weggucken?“
„Das musst du Felix fragen.“, schmunzelte Dick, wurde jeodch wieder ernst. „Es ist wunderschön.“
Sie streichelte ihn, strich ihm beruhigend über den Rücken. Felix schmatzte und sabberte.
„Dein schönes Nachthemd wird ja ganz beschmutzt.“
„Es gehört mir nicht, sondern ist vom Krankenhaus zur Verfügung gestellt worden.“
In diesem Augenblick spürte Dalli zum ersten Mal so etwas wie Eifersucht gegenüber Dick. Bisher hatte sie fast alles mit ihr geteilt und nun sollte sie hinter ihr zurückstehen.
„Was guckst du so traurig?“, wollte Dick wissen, während sie Felix an die andere Brust legte.
„Ich weiß es nicht.“, gab sich Dalli betont flapsig, um ihre Gefühle zu unterdrücken.
„Mach mir doch nichts vor. Ich sehe doch, dich bedrückt etwas. Möchtest du darüber reden?“
„Wenn es unter uns bleibt.“, Dalli sah Dick in die Augen, als wollte sie eine Hypnose anwenden.
„Felix erzählt nichts weiter.“, versicherte Dick.
„Ihn meine ich nicht, sondern Ralf. Ihr habt doch kaum Geheimnisse voreinander.“
„So ist das nun mal in einer Ehe. Du wirst das erfahren, wenn du selbst verheiratet bist.“
„Damit hat es noch Zeit.“, Dalli bat darum, sich setzen zu dürfen, was ihr gewährt wurde. „Für alles bin ich zu klein oder zu jung, was auf dasselbe hinausläuft. Ich wäre gerne ein paar Jahre älter.“
„Wünsch dir das nicht. Genieße lieber die Zeit, solange du jung bist.“, Dick ließ Felix sein Bäuerchen machen, legte ihn anschließend in das Gitterbett, welches links neben dem Bett stand, zurück.
„Du hörst dich alt und weise an. Doch im Grunde hast du Recht. Aber lass das bloß nicht Ralf hören.“
„Er unterschätzt dich, dass ist mir schon oft aufgefallen. Vielleicht kannst du ja eines Tages mit ihm reden, wenn es sich ergibt. Derzeit hat Ralf immer viel zu tun und daher nur wenig Zeit für dich.“
„Ich soll mit ihm darüber reden?“, Dalli unterdrückte einen Aufschrei. „Dazu habe ich viel zu viel Respekt vor Ralf. Er ist um einige Jahre älter als ich und wirkt immer total selbstbewusst.“
Dick lächelte: „Ralf hat einige Schwachpunkte, doch die verrate ich dir noch nicht. Da musst du schon selbst darauf kommen. Ich habe diese auch erst langsam und unter vier Augen entdeckt.“
„Jeder Mann hat seine Schwächen. Jochen zum Beispiel raucht gerne, obwohl Margot das nur ungern sieht. Es ist auch wegen der Kinder. Er soll doch stets ein gutes Vorbild für sie darstellen.“
„Na siehst du. Wenn dir das bei Jochen gelingt, so wirst du es auch bei Ralf schaffen.“
„Oh, an ihn habe ich nicht oder nicht nur gedacht. Doch genug davon.“, lenkte Dalli ab. Sie fragte Dick wie die Entbindung verlaufen war und bohrte nach, wenn etwas unklar formuliert wurde.
„Das bleibt natürlich unter uns.“, diesmal war es Dick, welche diese Worte fest aussprach.

Dalli hob die rechte Hand zum Schwur, meinte dann: „Die Herren sind schon lange fort.“
„Sie werden schon wieder zurückkommen. So groß ist das Krankenhaus eigentlich nicht.“
„Kann ich dir etwas helfen? Hast du du Hunger? Oder ist zuerst Felix wieder an der Reihe?“
„Ich glaube, er braucht eine frische Windel. Möchtest du es machen? Ich darf nicht aufstehen.“
Dalli biss sich auf die Lippen: „Ich habe Angst, den Kleinen falsch anzufassen.“
„Dann klingle ich nach einer Krankenschwester, damit sie dir, beim ersten Mal, dabei helfen kann.“
Gesagt – getan. Wenige Minuten später kam eine Krankenschwester herein, sah bei Dick und Felix nach dem Rechten.
„Sie haben doch nichts dagegen, dass meine Schwester sich um das Baby kümmert?“
„Das geht schon in Ordnung. Eigentlich sollten Sie es ja selbst machen, aber wo sie noch nicht aufstehen dürfen, ist es zu riskant. Dann wollen wir einmal.“, die Krankenschwester schob Felix ins Badezimmer. Dalli folgte ihr und stand unschlüssig daneben. Was durfte sie nun tun?
Mit flinken Handgriffen wurde Felix gewickelt und wimmerte dabei leise vor sich hin, als ob er Schmerzen hätte oder ihm kalt sei. Dalli warf die benutzte Windel in einen Mülleimer.
„So nun bist du wieder frisch und kannst mit deiner Mutter kuscheln.“
„Er versteht noch gar nichts.“, Dalli runzelte die Stirn.
„Babys sind klüger als man denkt. Ich habe selbst einige davon großgezogen.“
Wieder dieser herablassende Tonfall, aber Dalli sah ein, dass die Krankenschwester im Recht war.
„Wenn Sie etwas brauchen, klingeln Sie einfach.“, mit diesen Worten verließ die Krankenschwester das Zimmer. Felix lag in Dick’s Armen, schmatzte, ohne etwas im Mund zu haben.
„Du bist sauber geblieben. Das wundert mich ehrlich.“, sagte Dick.
Dalli verriet, dass sie eigentlich kaum etwas getan hatte: „Ich fühle mich so nutzlos. Ralf und Felix brauchen dich. Jochen braucht Margot und umgekehrt. Oma braucht Dr. Pudlich. Wer braucht mich?“
„Sag das nicht. Wir brauchen dich alle. Vielleicht kannst du auch noch Mans und Ethelbert dazu rechnen. Was täten wir nur ohne dich.“, versicherte Dick mit Nachdruck in der Stimme.
„Das sagst du doch nur so.“, Dalli war skeptisch. „Ich kann nicht mein ganzes Leben auf dem Immenhof verbringen, mich um die Tiere und die Gäste und Oma kümmern. Ich will auch mal was erleben, in ferne Länder reisen, neue Eindrücke sammeln, anstatt immer nur das Gleiche tun.“
„Deine Zeit wird schon noch kommen. Mach dir keine Sorgen. Vielleicht kann ich mit Jochen reden, dass er dich etwas lernen lässt. Einen Buchhaltungskurs oder etwas in der Richtung.“
„Ja, wird das nicht zu teuer?“, Dalli wusste genau, dass nach wie vor gespart wurde.
„Buchhaltung kannst du immer brauchen. Sowohl auf dem Immenhof, als auch später für dich.“
„Jochen lässt mich ab und zu in die Bücher gucken, aber ich verstehe nichts davon. Wenn er gut gelaunt ist, darf ich ein paar Unterlagen mit der Schreibmaschine abtippen, doch das dauert.“
„Maschine schreiben musst du auch lernen. In Lübeck oder in Hamburg gibt es Kurse dafür. Allerdings haben diese schon begonnen, spät einsteigen kannst du leider nicht.“
„Woher weißt du das?“, wollte Dalli neugierig wissen.
„Ich habe mich danach erkundigt, weil ich das Maschine schreiben auf diese Weise selbst gelernt habe. Ralf kann es allerdings viel besser als ich und gibt mir immer wieder gute Ratschläge.“
„Wenn Felix groß ist, wird er euch beide überflügeln.“, neckte Dalli, um von ihrer Unsicherheit abzulenken. Nur ja keine Blöße geben. Was sollten die Erwachsenen von ihr denken.
„Vielleicht ja. Doch darüber mache ich mir jetzt noch keine Gedanken.“, gab Dick offen zu. „Oh, er ist eingeschlafen. Hörst du, wie er schnarcht?“
„Das tun alle Babys. Keine Ahnung, woran das liegt.“
„Bei der Entbindung hat Felix viel Fruchtwasser in die Nase bekommen. Es musste abgesaugt werden. Wenn das Schnarchen zu laut ist, kann es auch sein, dass er Polypen hat.“
Ein Fremdwort, welches Dalli nicht kannte. Doch sie würde es einfach im Lexikon nachschlagen.

Dalli blieb noch eine Weile bei Dick, plauderte mit ihr über dieses und jenes. Felix schlummerte seelenruhig, wie es nur Babys und kleine Kinder konnten, die sich geborgen fühlten.
Dalli merkte erst, wie die Zeit vergangen war, als eine Hilfsschwester hereinkam und fragte, was Dick zum Mittagessen haben möchte. Essen dürfe sie ja, aber aufstehen noch nicht. Dick meinte, ihr sei alles recht, solange sie es nicht selber kochen müsse. Appetit habe sie eigentlich keinen.
Die Hilfsschwester verließ das Zimmer und kam wenige Minuten später mit einem Teller Brühe und einem Glas Wasser zurück. Brühe sei notwendig, um wieder zu Kräften zu kommen.
Dick kostete ein paar Bissen, legte den Löffel beiseite: „Die Suppe ist noch viel zu heiß.“
Die Hilfsschwester ging abermals nach draußen, kam jedoch nicht wieder zurück.
„Wenn du willst, dann füttere ich dich.“, bot Dalli an. „Oder braucht Felix zuerst seine Mahlzeit?“
„Er ist versorgt. Doch ich habe wirklich keinen Hunger.“, Dick nippte an dem Wasser.
„Wo bleiben nur Jochen und Ralf so lange? Das Rauchen dauert schon eine Ewigkeit.“
„Oh, ich hätte es dir eigentlich gar nicht sagen dürfen. Jochen hat mir vorhin gesagt, dass er auf den Immenhof zurückfährt und erst am Abend wieder hier her kommt. Du darfst solange da bleiben.“
„Jochen hätte es mir ruhig selbst mitteilen können. Und was ist mit Ralf?“, hakte Dalli nach.
„Er besucht seine Eltern und seine Schwester, die ja auch im Wochenbett liegt. Heute will ich niemanden hier haben, nur dich.“
„Was für eine Ehre.“, Dalli schluckte. Damit hatte sie nicht gerechnet.
„So gefällst du mir schon besser, wenn du wieder lächelst, anstatt Trübsal zu blasen.“, Dick aß langsam, als ob sie heute noch keinen Bissen zu sich genommen hätte. Dalli knurrte der Magen, aber sie musste ihre eigenen Bedürfnisse unterdrücken, wenigstens für diesen einen Tag.

Nach dem Essen, erhielt auch Felix eine weitere Mahlzeit, die ihm zu munden schien.
Dick klingelte nach der Hilfsschwester, bat um eine Bettpfanne. Dalli verstand nur Bahnhof. Sie wurde gebeten, das Zimmer zu verlassen und auf dem Gang zu warten. Nun ungern fügte sie sich.
„Ich würde mir das nie antun, ein Kind im Krankenhaus zur Welt zu bringen, wo alles so steril ist. Dann schon lieber auf dem Immenhof, so wie es Margot getan hat im Bett. Da ist es viel ruhiger als hier. Ständig geht jemand hin und her. Einmal eine Krankenschwester, die einen Patienten schiebt, der im Rollstuhl sitzt. Einmal eine Gruppe von Angehörigen, welche das richtige Zimmer sucht.“
Dalli blickte aus dem Fenster oder vielmehr, sie versuchte es, konnte jedoch aufgrund des dichten Nebels, der heute einfach nicht weichen wollte, kaum etwas klar und deutlich erkennen.

Erst nach ein paar Minuten durfte Dalli das Zimmer wieder betreten, wo die Luft abgestanden roch. Doch das Fenster durfte nicht geöffnet werden, da jeglicher Luftzug dem Baby schaden konnte.
„Wie kann ich dir jetzt helfen?“, bot Dalli an. „Wie kann ich dich bei Laune halten?“
„Felix ist schon versorgt, das hat die Hilfsschwester bereits getan. Ich mag gerne, dass du einfach nur still sitzt. Oder wird dir das auf die Dauer zu anstrengend?“
„In den vergangenen Tagen bin ich immer viel herumgerannt. Vom Haus in den Stall und wieder zurück. Da tut mir etwas Ruhe schon ganz gut.“, gab Dalli offen wie nur selten zu.
Felix lag mit offenen Augen da, schien seine Umgebung zu beobachten, alle Eindrücke aufzunehmen. Er wimmerte nur dann, wenn Dick ihn in das Gitterbett legte oder jemand ihn wickelte. Dalli übersetzte das Wimmern als: „Ich will zu meiner Mutter.“
„Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern, wer uns versorgt hat, als wir noch klein gewesen sind.“
„Vermutlich Oma? Oder Angela? Oder jemand fremder? Ich weiß auch nichts mehr von damals.“
„Hast du Angs gehabt? Angst vor der Entbindung, meine ich.“
„Oh ja und wie. Ich habe es nur niemandem gesagt, die hätten mich ausgelacht.“, Dick seufzte. „Aus Erzählungen von Oma weiß ich, dass unsere Mutter an den Folgen deiner Geburt am Kindbettfieber gestorben ist. Und bei Angela. Nun darüber brauche ich nicht zu reden, du bist ja dabei gewesen.“
„Auch nicht überall. Jedenfalls nicht am Sterbebett. Doch ich habe sie gesehen, danach. Wie friedlich sie auf dem Bett gelegen hat, in ihrem Brautkleid, mit einem weißen Schleier in den Haaren.“, Dalli kämpfte mit den Tränen. Angela war im November 1955, nur wenige Monate nach der Hochzeit mit Jochen, an den Folgen einer Fehlgeburt ganz überraschend gestorben. Jochen hatte einige Zeit getrauert und im Sommer 1956 Margot kennengelernt, sich mit ihr verlobt und geheiratet.

„Wie meinst du das? Wer hätte dich ausgelacht?“, bohrte Dalli nach.
„Patricia, Ralfs Schwester. Sie bildet sich immer wer weiß was ein, aus welcher vornehmen Familie sie doch stammt und lauter so Zeug. Ihr Mann ist auch nicht viel besser. Die beiden haben sich gesucht und gefunden.“, Dick rümpfte die Nase. „Jeder Topf findet seinen Deckel. Apropos?“
„Worauf bezieht sich deine Frage?“, gab sich Dalli ahnungslos. „Jochen und Mans sind schon vergeben, Onkel Pankraz vermutlich auch, sonst hätte er Margot nicht – ja ich weiß, man redet nicht darüber, aber dir kann ich es ruhig sagen – und Ethelbert …“
„Ihn meine ich. Ralf wird ihm Bescheid bezüglich Felix’ geben, da bin ich mir ganz sicher.“
„Soweit mir bekannt ist, hat Ethelbert keine Freundin.“, wich Dalli der Frage geschickt aus. „Wir schreiben uns hin und wieder, aber Ethelbert lernt fleißig, um die Prüfungen gut zu bestehen.“
„Gibt es etwas Neues bei Mans und Luisa?“, jetzt war die Reihe an Dick, Fragen zu stellen.
„Bezüglich der Geschäfte: Die laufen gut. Vor allem, weil immer wieder Ponys und Pferde vom Immenhof in die Schmiede kommen und dort sehr gut behandelt werden. Mehr weiß ich nicht.“
„Dann werde ich einmal persönlich Mans auf den Zahn fühlen.“, meinte Dick.
„Jetzt fällt bei mir der Pfenning. Luisa ist nicht schwanger oder zumindest, nicht, dass ich wüsste. Wenn sie es wäre, würde man es schneller erfahren, als man bis drei zählen könnte.“
„Behalte sie im Auge, jedoch unauffällig, Versprichst du mir das?“
„Warum interessiert es dich? Du magst sie doch nicht, weil sie aus der Stadt kommt?“
„Das ist dir aufgefallen. Es stimmt. Aber ich behandle sie dennoch mit Respekt.“, Dick gähnte, streckte sich wie eine Katze. „Erzähl mir mehr vom Dorfklatsch. Früher hat es mich nie so interessiert, doch seit ich in der Stadt lebe, bekomme ich davon überhaupt nichts mehr mit. Die Nachbarn grüße ich zwar, aber ein enger Kontakt hat sich bis dato nicht ergeben. In Malente ist das ganz anders.“
„Da kennt jeder jeden und sei es auch nur vom Sehen her. Man wird genau beobachtet, was man arbeitet, ob man zur Kirche geht und wenn nein, warum nicht und vieles mehr.“, seufzte Dalli. „Manchmal wird mir das zuviel. Ich komme mir dann wie ein Goldfisch im Aquarium vor.“

Der Nachmittag verging schneller als Dalli erwartete. Am frühen Abend kamen Jochen und Ralf wieder zurück. Dalli bedankte sich noch einmal bei Dick für das Hierbleiben dürfen und winkte Felix nach. Noch in diesem Jahr sollte er getauft werden. Allerdings nicht mit Dalli als Taufpatin, sondern mit einer Cousine von Ralf, welche dieses Amt auch bei Ralfs Nichte Mathilde übernehmen wollte.
Dalli unterdrückte auch diesmal ihre Enttäuschung und hoffte auf ein mögliches, weiteres Baby von Dick und Ralf. Jochen und Margot waren mit ihren drei Kindern offenbar vollauf ausgelastet.

Im Herbst und im Winter unterhielten sich die Erwachsenen viel über Politik, was es mit der Mauer, die in Berlin gebaut worden war, auf sich hatte und wer nun aller im Osten lebte. Dalli saß nur gelegentlich bei den Gesprächen dabei, hörte mehr zu, als dass sie selbst etwas redete. Den Vorschlag, einen Buchhaltungskurs besuchen zu dürfen, hatte Jochen aus Kostengründen abgelehnt. Dalli sollte sich noch ein Jahr oder zwei Jahre gedulden, wenn die finanzielle Lage halbwegs stabil wäre.

Das Weihnachtsfest oder vielmehr den zweiten Weihnachtsfeiertag verbrachte Dalli nicht nur in Gesellschaft von Oma Jantzen, Dr. Pudlich, Jochen, Margot und den Kindern, sondern auch in Gesellschaft von Dick, Felix und Ralf, die zu Besuch gekommen waren und bis zum neuen Jahre bleiben wollten. Dalli freute sich sehr darüber. Endlich gab es Abwechslung im trüben Alltag. Die Zeit verging so schnell. Nur ungern ging Dalli, nach den Weihnachtsfeiertagen an ihre Pflichten zurück. Mitte Februar, während eines Besuches der Sonntagsmesse, ließ Dalli ihre Blicke unauffällig in Luisa’s Richtung wandern. War der Mantel zu eng geschnitten oder gab es schon Nachwuchs?
Dalli berichtete Dick in einem Brief davon, weil telefonieren zu teuer war. In der gleichen Zeit traf auf ein Brief von Ethelbert ein, der nach wie vor schreibfaul war oder viel zu tun hatte. Dalli beantwortete diese Zeilen höflich, ohne sich viele Gedanken darüber zu machen, Ethelbert Hoffnungen zu geben.
Mitte März gab Luisa tatsächlich bekannt, in der Hoffnung zu sein und trug ihre Rundung stolz zur Schau, anstatt sie zu verstecken, wie es sich eigentlich gehörte. Dalli rümpfte innerlich die Nase.

Nur zwei Wochen später schrieb auch Dick, wieder schwanger zu sein. Das Baby sei nicht geplant gewesen, doch nun habe sie sich damit abgefunden. Der errechnete Geburtstermin war für Anfang September festgelegt worden. Dalli rechnete nach und stellte fest, dass Felix noch nicht einmal ein Jahr alt und schon großer Bruder sein würde. Ralfs Eltern, so berichtete Dick weiter, seien ganz aus dem Häuschen vor Freude, nur Patricia sei enttäuscht, weil Mathilde ständig kränkle und überdies „nur ein Mädchen“ sei. Man erwarte nun einmal einen Erben, der die Firma, in welcher Patricias Mann eine höhere Position inne hatte, eines Tages erben sollte. Dick schrieb, sie könne diese Erwartungshaltung nicht teilen. Hauptsache, das Baby sei gesund, alles andere ergebe sich schon von selbst irgendwie.

Dalli fühlte sich nach wie vor ausgeschlossen. Wenn es um wichtige Angelegenheiten ging, konnte oder durfte sie nicht mitreden. Dick hatte wenig Zeit, da ihr Hauptaugenmerk bei Ralf und Felix und dem zu erwartenden Baby lag. Dalli fand daher Trost bei den Tieren, blieb immer öfter im Stall, um noch etwa zu erledigen, sei es Boxen ausmisten. Eines Tages wurde sie von Margot dabei ertappt.
„Nanu. Es ist schon spät. Solltest du nicht im Bett sein?“
„Ich kann nicht schlafen.“, mogelte Dalli. „Ich habe soviel Energie und weiß nicht wohin damit.“
„Komm, lass uns nach drinnen gehen. Sonst erkältest du dich noch. Wir haben doch erst April.“

„Ich weiß.“, Dalli folgte Margot nach drinnen, trat vorsichtig die Schuhe auf dem Läufer ab.
„Hier ist es deutlich wärmer.“
„Kein Wunder, wo doch Jochen den Kamin eingeheizt hat.“, Dalli machte es sich davor bequem.
„Soll ich dir eine warme Milch bringen oder ein Stück Schwarzbrot mit Honig?“
Dalli schüttelte den Kopf: „Ich möchte, dass du einfach nur neben mir sitzt. Tagsüber können wir kaum miteinander reden, da die Kinder immer etwas von dir brauchen. Ich bin nicht eifersüchtig.“
„Kinder geben soviel zurück.“, bestätigte Margot in ihrer ruhigen Art. „Auch wenn sie manchmal am liebsten nehmen und an die Wand klatschen möchte. Dann schauen sie dich treuherzig an, so dass du beinahe schwach wirst, obwohl du dir in diesem Moment keine Schwäche erlauben darfst.“
„Jochen legt sie ab und zu über’s Knie.“, Dalli grinste wie ein Honigkuchenpferd.

„Das haben sie dann auch verdient, wenn sie sich bei Tisch nicht benehmen können oder dreist zu Oma sind.“, ergänzte Margot, die nun im zweiten Sessel, gegenüber von Dalli Platz genommen hatte.
„Lass man, es sind doch Kinder.“, Dalli zitierte Jochen, der das einst über Dick und sie gesagt hatte.
„Die Verantwortung dafür wird man sein ganzes Leben lang nicht mehr los. Ich glaube nicht, dass du schon reif für diesen wichtigen Schritt bist.“
„Muss man denn unbedingt verheiratet sein und Kinder haben, um glücklich zu sein?“, eine knifflige Frage, doch Dalli konnte damit nicht länger hinter dem Berg halten. Es war ihr durchaus bewusst, dass diese Formulierung ein wenig zu dreist klang. Aber allmählich hatte es Dalli satt, als „Kind“ oder als „junge Dame“ bezeichnet zu werden, egal ob im direkten Gespräch oder im Dorfklatsch.
Jetzt bot sich die günstige Gelegenheit. Gegenüber Jochen und Oma hätte sich Dalli das nie erlaubt.
„Jeder wie er kann und mag. Vermutlich hast du schon andere Pläne für deine Zukunft. Vielleicht kann ich dir dabei helfen, diese umzusetzen. Wo ich doch etwas mehr Lebenserfahrung als du habe.“

Dalli brachte den Buchhaltungskurs auf das Tapet. Interesse habe sie und Zeit auch, aber die Kosten.
„Pappi würde uns bestimmt helfen. Ich brauche ihn nur zu fragen.“
„Das kann ich auf keinen Fall annehmen.“, meinte Dalli nachdrücklich. „Nie und nimmer. Das ist doch viel zu teuer.“
„Ein Vorschuss, den du später zurückzahlen kannst, wäre eine faire Lösung.“
„Du meinst ein Kredit? Ich habe derzeit wenig Geld, doch wenn ich dann wirklich Buchhaltung lerne, kann ich ja bestimmt in einem Büro eine gute Anstellung finden.
„Wenn du es mit dem Kredit so nennen willst. Wie auch immer. Was hältst du von dieser Idee?“
„Ich werde darüber nachdenken. So eine wichtige Entscheidung fällt man nicht spontan“, zeigte sich Dalli ungewöhnlich kompromissbereit. „Danke für das Zuhören. Das tut sonst niemand.“
„Keine Ursache. So, nun lass und schlafen gehen. Wir haben eine kurze Nacht vor uns.“
„Warum das?“, Dalli gähnte. „Habe ich etwas verpasst? Oder mal wieder nicht zugehört?“
Margot verwies auf die Standuhr, welche die volle Stunde schlug: 22:00 Uhr.

Lautlos wie die Katze Minka, huschte Dalli nach oben, kleidete sich um und ging zu Bett. Allerdings konnte sie immer noch nicht so recht einschlafen. Vielleicht half es ja, Schäfchen zu zählen?
Zuletzt geändert von Andrea1984 am Di 01.Feb.2022 23:02, insgesamt 1-mal geändert.
"Walzer .... Walzer hätt' ich auch gekonnt."
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