"Neues Glück auf Immenhof"

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Andrea1984
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"Neues Glück auf Immenhof"

Beitrag von Andrea1984 »

Kapitel 1

Brigitte Arkens, geborene Voss und ihr Mann Alexander saßen beim zweiten Frühstück auf der Terrasse. Die Sonne schien. Vögel zwitscherten. Die Pferde standen auf der Weide. Ein Hengst wieherte laut, doch er durfte nicht zu den Stuten hinüber. Ja, es handelte sich um Scheitan, auf dem Brigitte so gern geritten war. Doch derzeit musste sie ihr Hobby leider ein wenig einschränken.

„Hier nimm’ noch ein bisschen was von der Butter ....“ mit diesen Worten schob Alexander seiner Frau die Butterdose hinüber. „..... du musst ja jetzt für zwei essen. Hat sich das Baby heute schon bewegt?“
Dalli, wie Brigitte von ihrer Familie liebevoll genannt wurde, warf ihre langen blonden Locken nach hinten: „Wenn du deine Hand auf meinen Bauch legst, kannst du es deutlich fühlen. Ganz schön zappelig. Das wird bestimmt einmal in unsere Fußstapfen treten und bald das Reiten erlernen.“

Alexanders Töchter aus seiner ersten Ehe, Sybille „Billy“ und Roberta „Bobby“ waren bereits in der Schule. Sie besuchten das Gymnasium im Dorf und hatten oft auch am Nachmittag Unterricht. Alexanders Mutter, genannt „die Zarin“ arbeitete in der Küche. Sie verstand nur wenig von Pferden und konnte nicht reiten. Dennoch gönnte sie Alexander das Glück, welches er nun gefunden hatte.

„Ich würde so gerne wieder in den Sattel steigen.“, seufzte Dalli, während sie in die Richtung der Pferde blickte. Doch leider hatte ihr der Arzt striktes Reitverbot erteilt. Was konnte da nicht alles passieren. Und auch Alexander machte sich große Sorgen um seine Frau. Hastig stellte er die Kaffeetasse auf den Tisch. Beinahe hätte er die Zeit übersehen. Die Büroarbeit wartete nicht auf ihn.

Gegen Mittag kamen Billy und Bobby aus der Schule. Ihre erste Frage galt weniger den Pferden oder dem guten Essen, sondern ausschließlich Dalli. In etwas mehr als vier Monaten sollte das Baby zur Welt kommen. Genau im September, wenn die Ferien leider schon zu Ende waren. Billy und Bobby hatten insgeheim so sehr darauf gehofft, bei der Geburt dabei sein zu können. Aber das ging nicht.

„Na, ihr Mäuse ....“, begrüßte Dalli ihre Stieftöchter und umarmte beide mit einem herzlichen Lächeln. „.... wie war’s heute in der Schule? Was habt ihr denn auf die Lateinarbeit für eine Note bekommen?“
Billy lief knallrot im Gesicht an und Bobby blickte verlegen zu Boden. Hinter den Stirnen der beiden Mädchen konnte man förmlich und deutlich „lesen“: „Warum sorgt sich ausgerechnet Dalli so um uns, die ja selbst früher oft die Schule geschwänzt und nur selten besonders gute Noten gehabt hat ?“

Die Zarin befahl dem Hausmädchen, das Essen aufzutragen. Es war für sie nichts Neues, dass ihre Enkelinnen mal wieder eine Arbeit nicht bestanden hatten. Doch warum sich aufregen? Dann wurde eben das ganze einfach wiederholt. Mit den Jahren war die Zarin deutlich nachgiebiger geworden und drückte gelegentlich schon mal ein Auge zu, was Billy und Bobby natürlich redlich ausnützten.

Nach dem Mittagessen zog sich Dalli ein wenig zurück. Sie ermüdete in ihrem Zustand leicht. Das war jedoch nichts ungewöhnliches. Billy und Bobby machten es sich im Salon bequem, um ihre Hausaufgaben zu erledigen. Sie blieben im Erdgeschoß, um Dalli nicht zu stören. Die Zarin beobachtete alles und nickte wohlwollend. Was hatte Dalli in knapp einem Jahr schon alles aus den beiden Mädchen gemacht. Auf einmal wurden die ja plötzlich lerneifrig und veranwortungsbewusst.

„Ich wünsch’ mir einen kleinen Bruder .....“ meinte Billy nachdenklich, als sie ihren Bleistift neu spitzte. „.... der dann mit uns, wenn er eines Tages groß genug ist, über die Felder und Wiesen reiten kann.“
Bobby wickelte sich eine Strähne ihres brünetten Haares um den Finger und antwortete nicht darauf. Die beiden hatten das Thema schon oft durchbesprochen. Und ändern ließ sich daran sicher nichts.

Alexander saß im Arbeitszimmer und durfte nicht gestört werden. Er rackerte sich tapfer ab und seine Familie wusste das durchaus zu schätzen. Die Mädchen waren bei Dalli in den besten Händen, die Pferde entwickelten sich gut. Was wollte Alexander da mehr. Er genoss das Glück, welches er solange entbehren hatte müssen. Viele Gedanken gingen dem großen Mann durch den Kopf.

Der frühe Tod seiner ersten Frau, als die Zwillinge noch klein waren. Dann die Reise nach Holstein. All’ das lag jedoch weit hinter ihm. Nun galt nur ein Ziel: Der Blick in die Zukunft. Alexander wandte sich um und blickte aus dem Fenster. Auf dem Hof quietschten die Räder eines Autos. Vemutlich war es der Briefträger, welcher jeden Tag, aus unverständlichen Gründen, zu spät kam. Hamlet, der weiße, starke Gänserich plusterte sich wild auf und versuchte, den Briefträger zu verscheuchen.
Zuletzt geändert von Andrea1984 am Mo 07.Dez.2009 20:54, insgesamt 5-mal geändert.
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Andrea1984
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Kapitel 2

Beitrag von Andrea1984 »

„Nicht schon wieder .....“, seufzte der junge Mann und rieb sich verzweifelt die Hände. „.... wie soll ich nur mit dem Tier fertigwerden? Und ausgerechnet jetzt ist niemand in der Nähe, der mir helfen kann.“
Die Sonne stand hoch am Himmel. Fast schien es, als ob sie den Unglücklichen auslachen wollte. Wie es das Leben nun einmal so spielte: In dem größen Schlamassel erschien stets der rettende Bote.

Und zwar in Gestalt von Alexander, welcher die Szene beobachtete hatte und als einer der wenigen Leute hier wusste, wie der Gänserich richtig zu behandeln war. Hastig drückte der Briefträger dem Hausherren die Post in die Hand. Dann drehte er den Schlüssel herum, vorhin war der Motor kurz abgestorben, und brauste so schnell wie möglich davon, eine graue Staubwolke hinterlassend.

„Was gibt es Neues?“, erkundigte sich die Zarin, welche auf dem Treppenabsatz stand, als ihr Sohn zurück ins Haus kehrte. „Von der Bank dürfte eigentlich nichts mehr kommen. Alle Rechnungen sind ordnungsgemäß bezahlt worden. Der Immenhof ist seit vielen Jahren endlich einmal schuldenfrei.“
Alexander gab die Zeitungen, sowie die Werbeprospekte gerne aus der Hand. Mit den persönlichen Briefen zog er sich wieder in das Arbeitszimmer zurück. Er wollte beim Lesen nicht gestört werden.

Derweilen hatten Bobby und Billy ihre Hausaufgaben erledigt. Nun blieb ihnen noch genug Zeit, um ein wenig ins Gelände zu gehen. Damit sie nach der anstrengenden Arbeit im Zimmer etwas frische Luft bekamen. Bobby entschied sich für Rumpelstilzchen, ein geflecktes Pony, während Billy das weiße Schneewittchen (ein direkter Nachkomme des ersten Schneewittchens) lieber bevorzugte.

„Was haben wir doch für ein Glück hier auf dem Land zu leben.“, meinte die lebhafter der Zwillinge. „Wir können reiten so oft wir wollen. Die Pferde stehen täglich auf der Weide, außer bei Regenwetter. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie es in der Großstadt zugeht. Enge, stickige Boxen, die Pferde bekommen wenig oder gar keinen Auslauf. Und dann noch diese schmalen Reithallen. Nee, danke.“

Billy stimmte ihrer Zwilingsschwester wortlos zu. Endlich waren die beiden am Kellersee angelangt. Geschickt ließen sie sich von den Rücken der Ponys gleiten und liefen um die Wette ins Wasser. Es war bereits herrlich warm. Angst , eine Erkältung zu bekommen, kannten die beiden Mädchen nicht. Und sollten sie dennoch einmal krank werden, gab es ja die „guten“, alten Hausmittel der Zarin.

Im Hochsommer tobten oft viele Kinder im See herum, doch heute war es eher ruhig. Kein Wunder, die Saison hatte noch nicht begonnen. Einige Leute arbeiteten hart den ganzen Tag über. Die Ponys grasten derweilen friedlich unter einem Baum. Jener, an den einst Ralf, ein Freund von Dalli, gefesselt worden war und sich mit seiner Musik auf der Klarinette quasi freispielen musste.

Dick und Ralf hatten vor langer Zeit, kurz nach dem Tod von Oma Jantzen geheiratet und waren nach Kanada ausgewandert. Gelegentlich erhielt Dalli eine Postkarte oder einen Brief von ihnen. Anrufen war teuer, so dass es nicht in Frage kam. Was aus Ethelbert geworden war, wusste leider kaum jemand so genau. Gerüchte schwirrten durch ganz Malente, doch niemand kannte die Wahrheit.

Leider ging die Sonne an diesem Maitag viel zu früh unter. Bobby und Billy ritten noch eine kleine Runde, um wieder warm zu werden. Danach machten sie sich auf den Rückweg zum Immenhof. Die Ponys liefen so schnell sie ihre Beine tragen konnten, als ob sie es spürten, dass ihre Reiterinnen rasch in die warme Stube drängten. Alexander legte noch etwas Holz im Kamin nach. Die Zarin stellte den Teekessel bereits auf das Feuer. Im Ofen wurde derweilen das Brot stets frisch gebacken.

„Mensch, hab’ ich einen Hunger ....“, rief Bobby erfreut aus, während sie sich die Reitstiefel mühsam von den Füßen zerrte. „..... auf Wurst und Käse. Das alles passt gut zu dem dunklen Bauernbrot.“
Die Zarin schüttelte halb missbilligend, halb zwinkernd den Kopf. Dann erkundigte sie sich interessiert: „Habt ihr die Ponys auch gut versorgt? Sonst gibt es keinen Tee und schon gar kein Brot für euch.“

Dalli nahm ebenfalls an der Teestunde teil. Sie war zwar noch etwas blass, doch das würde sich wohl in den nächsten Wochen und Monaten kaum ändern. Während die Zwillinge lebhaft plauderten und die Zarin zuhörte, gingen Dalli ganz andere Gedanken durch den Kopf.

Sie dachte zurück an die Hochzeit in der Kirche, wo damals Jochen und Margot sich das Ja-Wort gegeben hatten. Leider stand auch diese Ehe unter keinem guten Stern. Margot war bei der Geburt eines todgeborenen Jungen im Kindbett verstorben und Jochen einige Jahre später bei einem Reitunfall ums Leben gekommen.

Aus diesem Grund sorgte sich Dalli sehr um ihr Leben und das ihres noch ungeborenen Kindes.
Zuletzt geändert von Andrea1984 am Di 01.Jul.2008 12:35, insgesamt 3-mal geändert.
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Kapitel 3

Beitrag von Andrea1984 »

„Wo steckt Kuddel?“, wollte Alexander von seinen Töchtern beiläufig wissen und nahm sich ein Stück Brot. „Ich hab’ ihn schon länger nicht auf der Straße gehen oder auf dem Pferderücken sitzen sehen.“
Kuddel, ein langer, magerer und braungebrannter Junge war der Sohn des Schmiedes, im Alter von Bobby und Billy. Er ging mit den Mädchen zur Schule und verbrachte auch die Freizeit oft mit ihnen.

„Ach Va ....“ begann Bobby und Billy ergänzte. „ ....ti. Ja, weißt du denn nicht, dass Kuddel an Scharlach erkrankt ist und zwei Wochen das Bett hüten muss. Neulich sagte doch Emil glatt zu uns, was denn noch schlimmer als Scharlach während des Schuljahres zu haben sei. Wir wussten es natürlich nicht. Und kamen, trotzdem des eifrigen Hin – und Her überlegens einfach nicht und nicht darauf. Also meinte Emil, er hatte auch mal diese Krankheit, allerdings während der großen Ferien.“

Dalli lachte so sehr über die Geschichte, dass ihr die Tränen über die Wangen liefen. Auch sie hatte einst den Sohn des Schmiedes zum Spielgefährten gehabt. Mans war von einem Pferd, welches ausgeschlagen und ihn am Kopf getroffen hatte, als er gerade die neuen Hufeisen anlegen wollte, schwer verletzt worden, lag nun im Wachkoma in einer Klinik und dämmerte teilnahmslos dahin.

Nach der Teestunde schwang sich Alexander nun selbst kurz auf den Pferderücken. Er brauchte frische Luft und einen klaren Kopf. Die Zwillinge verzogen sich auf ihr Zimmer, um dort ein wenig Radio zu hören oder in einem ihrer vielen Bücher, die wie konnte es anders sein, von Pferdegeschichten handelten, zu lesen. Dalli hingegen wollte sich um die Näharbeiten kümmern.

„Lass’ nur, ich mach’ das schon.“,mit diesen Worten nahm ihr Billy die Nadel und die Strümpfe aus der Hand. „Wenn du in einer halben Stunde äh na gut einer Stunde nach oben kommst, ist alles fertig.“
Dalli genoß es von ihren Stieftöchtern verwöhnt zu werden. Die beiden gaben sich tatsächlich Mühe, das musste sie anerkennen. Und auch die Zarin, welche alles beobachtete, nickte zustimmend.

Das Frühjahr verging wie im Flug. Jedenfalls erschien es Billy und Bobby so. Sie gingen zur Schule, erledigten brav ihre Hausaufgaben, halfen Dalli in der Küche und im Stall und kümmerten sich um die Pferde. Auch die Zeugnisse fielen in diesem Jahr überraschend gut aus. Alexander ruderte seine Töchter in ihrem eigenen Boot gelegentlich über den Kellersee, wann immer es seine Zeit zuließ.

Dalli legte derweilen selbst letzte Hand an der Aussteuer für ihr Baby an. Im Schlafzimmer in der Kommode stapelten sich Jäcken, Hemdchen, Mützchen und noch allerhand mehr. Leider war aus der Kinderzeit von Bobby und Billy nichts mehr übrig geblieben. Die Zarin hatte vieles, kaum dass die beiden aus dem Babyjahren herausgewachsen waren, an bedürftige Kinder in Afrika verschenkt.

Ende August waren die Sommerferien schon wieder zu Ende. Nur ungern machten sich die Zwillinge diesmal auf den Weg zur Schule. Sie fürchteten die Geburt ihres Geschwisterchens zu verpassen.
„Ich hab’ ja noch gut zwei Wochen Zeit.“, beruhigte Dalli. „Vielleicht kommt das Baby ja an einem Sonntag, da seid ihr bestimmt zu Hause. Die Zarin oder euer Vater geben euch sicher Bescheid.“

Die Blätter an den Bäumen schimmerten bereits rot und gelb. Morgens lag bereits leichter Nebel über Malente. Die Vögel versammelten sich auf den Telegraphenstangen, um in den Süden zu fliegen, während die Pferde sich im Stall enger zusammendrängten und froh waren, dort bleiben zu dürfen. Schneewittchen erwartete ein Fohlen. Es sollte im April des kommenden Jahres zur Welt kommen.

In der ersten Septemberwoche klopfte es plötzlich an der Türe zum Klassenzimmer. Die Schüler schrieben gerade eine Mathearbeit und waren froh über die Unterbrechung. Der Direktor kam.
„Roberta und Sybille, ich habe euch etwas erfreuliches mitzuteilen. Es geht um eure Stiefmutter.“
„Hat sie das Baby schon?“, wollte Bobby wissen. „Ich wäre sogerne bei der Geburt dabeigewesen.“

Der Direktor schüttelte den Kopf und antwortete dann: „Die Wehen haben erst vor einer halben Stunde eingesetzt, meint euer Vater. Wenn ihr euch beeilt, könnt ihr es noch schaffen. Ich nehme euch in meinem Wagen mit. Die Mathearbeit lässt sich ja an einem anderen Tag gewiss nachholen.“
Wenige Augenblicke später raste das Auto über den sandigen Weg von der Schule Richtung Immenhof. Bobby schlug das Herz bis zum Hals und Billys Knie zitterten. Hoffentlich ging alles gut.

Dalli lag auf dem Bett im Schlafzimmer und krümte sich vor Schmerzen. So schlimm hatte sie es sich nicht vorgestellt. Alexander hielt ihr Hand und versuchte, ihr auf diese Weise ein wenig Trost zu spenden. Eine Hebamme überwachte alles. Die Zarin schlenderte unruhig vor der Türe auf und ab.
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Kapitel 4

Beitrag von Andrea1984 »

Als die Sonne unterging konnte man deutlich den Schrei des neuen Lebens auf dem Immenhof hören. Bobby und Billy nahmen sich an den Händen und tanzten jubelnd durchs Zimmer. Dabei sangen sie ganz leise, um Dalli nicht zu stören: „Unser Geschwisterchen ist endlich da. Hurra, Hurra, Hurra. “
Die Zarin lächelte ein wenig verlegen. Sie dankte dem lieben Gott, dass alles gut gegangen war.

Alexander öffnete kurz darauf die Türe: „Kommt nur herein. Dalli und dem Baby geht es sehr gut.“
Die Hebamme verließ wortlos den Raum. Ihre Arbeit war getan. Alexander drückte ihr hastig einige Geldscheine in die Hand. Die Hebamme bedankte sich dafür und verließ vorerst den Immenhof. Sie würde gewiss eines Tages hier wieder gebraucht werden. Dalli und Alexander waren ja noch jung.

In der Wiege schlummerte, ohne sich von dem Rummel um ihre Person beeindrucken zu lassen, die kleine blondlockige Henrietta Arkens. Sie hatte ihre blauen Augen vorhin nur ganz kurz geöffnet. Und versprach schon jetzt das Ebenbild ihrer Mutter zu werden. Dalli hatte Alexander vorgeschlagen, ihr erstes Kind nach ihrer Großmutter zu benennen. An ihre Mutter konnte sie sich nicht mehr erinnern.

„Ist die süß.“, waren sich Bobby und Billy, wie zumeist einig, während sie sich über die Wiege beugten. „Dürfen wir sie halten ? Und später baden oder ihr die Flasche geben oder ihr das Reiten ...“
„Nicht so schnell.“, unterbrach Alexander seine Töchter schmunzelnd. „Wer kümmert sich den um die schmutzigen Windeln? Das habt ihr nämlich in eurer Aufregung wohl einfach mehr als übersehen.“

Bobby spürte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg. Billy senkte den Blick. Es stimmte, daran hatten die beiden tatsächlich nicht gedacht. Noch bevor Bobby oder Billy etwas darauf antworten konnte, erwachte die kleine Henrietta und schrie aus Leibeskräften. Alexander nahm sie aus der Wiege und legte sie in Dallis Arme. Sofort beruhigte sich das Mädchen und lutschte friedlich an seinem Daumen.

„Henrietta ist doch viel zu lange.“, meinte Billy energisch, nachdem Bobby und sie von ihrem Vater den Namen erfahren hatten. „Das kann man doch bestimmt abkürzen. Wir werden sie Henny rufen.“
Dalli war von der Geburt sichtlich erschöpft. Dennoch lächelte sie: „Ich hab’ da wohl gar nichts mehr mitzureden, ihr Mäuse. Kommt ruhig näher. Henny beisst euch nicht. Wer möchte sie zuerst halten?“

Vorsichtig, als wäre Henny aus Porzellan, nahm Bobby sie auf den Arm. Dann folgte Billy und zuletzt Alexander. Er konnte mit Babys nicht gut umgehen und hatte alles aus der Kinderzeit der Zwillinge verlernt. Dennoch gab er sich große Mühe, welche ihm von allen Seiten angerechnet wurde. Selbst die eher streng wirkende Zarin lobte ihren Sohn gelegentlich, wenn er Hennys Windeln wechselte – Bobby und Billy drückten sich stets erfolgreich um diese Aufgabe - , das wollte schon etwas heißen.

Mitte Oktober fiel bereits der erste Schnee. Dalli war noch zu schwach, um ihren Pflichten als Hausfrau nachzukommen, doch Bobby und Billy nahmen ihr viele, eher kleine Arbeiten geradezu selbstverständlich ab z. B. das Wäschewaschen, das Strümpfestopfen und das Bügeln. Das Kochen hingegen besorgte die Zarin immer noch selbst und ließ dabei niemanden an den großen Herd heran.

Alexander stand in einem brieflichen Kontakt mit einem Züchter aus Bayern. Dieser wollte ihm einen wertvollen Hengst verkaufen, jedoch den Kaufpreis partout nicht senken. Alexander wurde immer hartnäcktiger und griff schließlich zum Telephon. Eine junge Frauenstimme meldete sich. Gerne reichte sie den Hörer weiter. Alexander trommelte ungeduldig mit den Fingern auf dem Tisch herum.

Die Zeiger der Uhr drehten sich gleichmäßig im Kreis. Endlich kam der Züchter an den Apparat. Das Gespräch dauerte lange. Es wurde schließlich zu Gunsten Alexanders beendet. Dieser hängte den Hörer ein und schlenderte ins Schlafzimmer zu Dalli hinüber. Sie wusste ja, dass er ihr den Hengst als „Belohnung“ für die Geburt von Henny schenken wollte. Und blickte daher gespannt zu ihrem Gatten.

„Der Züchter bringt das Tier in den nächsten Tagen persönlich bei uns vorbei. Es wird gewiss Abwechslung in die Zucht bringen, außer Scheitan einen weiteren Hengst auf dem Hof zu haben.“
Henny unterbrach das Gespräch ihrer Eltern, in dem sie mit Geschrei nach ihrer nächsten Mahlzeit verlangte. Oder waren die Windeln schon wieder voll? Alexander verließ taktvoll das Schlafzimmer.

Bobby schrieb die Hausaufgaben fertig, während Billy sich um die Pferde kümmerte. Eine Katze schlich durch die Boxen, mit einer großen, fetten Maus im Maul. Scheitan mampfte genüßlich das frische Heu. Er ahnte nichts davon, dass ein Konkurrent drauf und dran war, seinen Ruf hier zu gefährden. Das würde bestimmt einige Rangkämpfe geben, wer denn nun letzlich der Stärke war.
Zuletzt geändert von Andrea1984 am Mo 30.Jun.2008 15:44, insgesamt 2-mal geändert.
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Kapitel 5

Beitrag von Andrea1984 »

Billy warf die Mistgabel ins Stroh. Erschrocken wieherte Scheitan und stampfte mit den Hufen auf. Beinahe wäre er von der Mistgabel getroffen worden. Glücklicherweise landete diese nur wenige Meter neben ihm. Was war nur los heute? Wieso verhielt sich das Mädchen auf einmal so seltsam ? Ärgerte sie sich, weil sie nicht auf ihm reiten durfte ? Doch das schien es offenbar nicht zu sein.

„Henny hier, Henny da....“, maulte Billy vor sich hin, ohne nach der verbogenen Mistgabel zu sehen.“.... Dalli hat gar keine Zeit mehr für Bobby und mich. Wenn wir am Nachmittag Musik hören wollen heißt es gleich: „Nicht so laut, ihr weckt Henny auf, sie schläft doch gerade.“ Oder wenn ich mit dem Aufhängen der Wäsche beschäftigt bin: „Du hast ja eh nicht soviel Kleidung. Nimm’ das Hemdchen von Henny auch gleich mit dazu. Es muss in einer halben Stunde wieder trocken sein.“

Billy und Bobby konnten sich an ihre leibliche Mutter nicht erinnern. Diese war bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als die Zwillinge gerade einmal ein halbes Jahr zählten. Also hatte sich die Zarin auf Alexanderes Wunsch und Bitte hin, dazu bereit erklärt, ihre Enkeltöchter zu erziehen. Bis jetzt war alles soweit reibungslos verlaufen. Nun hatten Billy und Bobby jedoch die Pubertät erreicht.

Dalli verstand es nur zu gut, wenn es ab und zu Streitigkeiten mit den Zwillingen gab. Schließlich hatte auch sie selbst keine Erinnerungen an ihre leibliche Mutter und war von ihrer Großmutter erzogen worden. Aber davon wussten Billy und Bobby ja nichts. Es interessierte sie nur höchst wenig, was damals auf dem Immenhof einst geschah. Und dass dieser schon öfter kurz vor dem Konkurs gestanden und jedesmal im letzten Augenblick – wie durch ein Wunder – gerettet worden war.

Wütend verließ Billy den Stall. Sie war sichtlich eifersüchtig auf ihre kleine Halbschwester, auch wenn sie es nie und nimmer offen zugegeben hätte. Ein kalter Wind kam aus der Richtung des Kellersees herauf. Und wirbelte die Blätter durcheinander. Billy eilte rasch ins Haus, um sich ihren Mantel und ihre Mütze zu holen. Sie wollte eine Runde spazieren gehen und dabei in Ruhe nachdenken.

Dalli kam ihr auf der Treppe entgegen. Sie trug Henny auf dem Arm: „Wohin gehst du, Billy?“
Aber das Mädchen gab auf ihre freundliche Frage keine Antwort, sondern wandte wortlos den Kopf ab. Dalli blickte Billy halb zornig, halb enttäuscht hinterher. Bobby hatte von der ganzen Szene nichts mitbekommen. Sie saß nach wie vor in ihrem Zimmer. Und hatte das Radio auf volle Lautstärke aufgedreht. Nach den erledigten Hausaufgaben konnte sie sich schon mal ein wenig entspannen.

Dalli seufzte lautlos. In letzter Zeit lief alles ein wenig aus dem Ruder. Jedes der Mädchen rebellierte auf ihre Weise. Wie sollte das nur weitergehen? Zum allem Unglück fühlte sich die Zarin heute nicht wohl. Sie hatte Kopfschmerzen und konnte daher nur wenig ihren Pflichten im Haushalt nachgehen. Dalli hätte zugerne jemanden gebraucht, der ihr half. Doch Bobby schien taub gegenüber diesem Argument zu sein. Sie tanzte zur Musik und sang auch dementsprechend ein wenig falsch dazu.

Jetzt quengelte auch noch Henny los. Dalli beruhigte ihre kleine Tochter und legte sie dann wieder ins Bettchen zurück. Zum Glück war Henny ein pflegeleichtes Baby. Sie schlief rasch ein. Dabei lutschte sie seelenruhig am Daumen. Alexander war vor einer halben Stunde mit dem Auto weggefahren. Vermutlich hatte er eine geschäftliche Besprechung in der Stadt. Und so etwas dauerte länger.

Das Hausmädchen Stine hatte eine Woche Urlaub und war zu ihren Verwandten an die Nordsee gefahren. So lag nun die schwere Arbeit ganz alleine auf Dallis Schultern. Sie hätte am liebsten geweint oder laut geflucht, doch das gehörte sich ja in diesem Alter nun doch nicht mehr. Und es würde keineswegs helfen, die Situation zu verbessern. Billy war noch immer nicht zurückgekommen.

Dalli setzte sich auf das Sofa im Wohnzimmer und schloss für einen kurzen Moment die Augen. ‚Abermals kam ein tiefer Seufzer von ihren Lippen. Das Telephon klingelte, doch niemand reagierte darauf. Der Holzfußboden bebte unter Bobby ungelenkigen Tanzschritten. Henny schlief seelenruhig. Nicht einmal ein heftiges Erdbeben würde sie wohl aus ihrem tiefen Schlaf aufwecken können.

Dalli erhob sich nur ungern. Das Telephon stand draußen im Flur. Und es klingelte laut weiter.
„Arkens.“, meldete sich Dalli ein wenig barsch.

Der Anrufer am anderen Ende der Leitung schien überrascht zu sein, diesen Namen aus Dallis Mund zu hören. Eine Weile grübelte er, dann fiel bei ihm der Groschen. Wer hätte das gedacht, was aus Dalli geworden war. Offenbar lebte sie wieder auf dem Immenhof, welcher ihr inzwischen gehörte. Und sie hatte einen gewissen Herren Arkens geheiratet.

„Ralf, wie schön, einmal wieder etwas von dir zu hören.“, sprach nun Dalli erfreut in die Muschel.
Zuletzt geändert von Andrea1984 am Fr 11.Jul.2008 13:55, insgesamt 4-mal geändert.
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Kapitel 6

Beitrag von Andrea1984 »

Während Dalli mit Ralf telephonierte und auf diese Weise viele Neuigkeiten aus seinem Leben erfuhr, schlenderte Billy immer noch durch die Gegend. Der Wind hatte inzwischen nachgelassen. Fast lautlos fielen die Schneeflocken vom Himmel. Hinter einer Wolke schimmerte ein wenig die Sonne hervor. Der frische Schnee knirschte hart unter Billys Füßen. Ein Ast krachte zu Boden.

Billy’s Gedanken kreisten um Dalli und Alexander und deren Hochzeit vor elf Monaten, am 04. November. Es war ein großes Fest gewesen; das ganze Dorf hatte daran teilgenommen. Die Wirtin des „Kruges“, bei der Dalli einst übernachten wollte, teilte sich mit der Zarin den Platz hinter dem Herd. Gemeinsam arbeiteten sie an den kleinen Braten und Soßen und einer großen Hochzeitstorte.

Die Ponys waren an diesem Tag besonders sorgfältig geputzt worden. Dalli hatte es sich so gewünscht, mit einer Kutsche zur Kirche gefahren zu werden. Und Alexander konnte ihr natürlich keinen Wunsch abschlagen. Rumpelstilzchen und Schneewittchen hatten diese Aufgabe übernommen. Unter Schellengeklingel war Dalli dann in der verschneiten, jedoch sonnigen Landschaft unterwegs gewesen. In ihrem weißen Brautkleid, dem feinen Schleier und einem weißen Pelzmantel sah sie reizend aus. Alexander wartete derweilen vor der Kirche und zerrte ungeduldig an seiner Krawatte.

Unglücklicherweise war die Orgel kaputt und es fand sich niemand, der diese reparieren konnte. Dalli stieg von der Kutsche und wurde am Arm ihrem ihres entfernten Cousins Ethelbert in die Kirche geleitet. Bobby und Billy trugen an diesem Tag ihre besten blauen Kleider und sahen reizend darin aus. Doch viele Blicke galten nicht ihnen, sondern einzig Dalli und Alexander. Man freute sich mit ihnen herzlich.

„Und dann haben sie auch noch Sekt getrunken. Das ist ja widerlich.“, grummelte Billy halblaut vor sich hin. „Ständig sind Dalli und Vati photographiert worden. Dalli hat in die Kamera gegrinst wie ein Pferd. Ich finde das einfach unmöglich. Vati hat verlegen gelächelt und ist plötzlich ganz rot im Gesicht gewesen. Offenbar scheint er ja wirklich verliebt zu sein. Ich weiß nicht, was er an Dalli nur findet.“

Das Hochzeitsessen fand auf dem Immenhof statt. Allerdings nicht in der Scheune – wie eigentlich geplant - , dazu war es nun doch schon zu kalt, sondern im Salon. Stine hatte dazu extra den Tisch besonders gut geputzt, damit nur ja kein Stäubchen zu sehen war. Bobby und Billy durften beim Tischdenken helfen und die Servietten falten. Ständig trafen neue Gäste ein und brachten Blumen mit.

Dalli strahlte vor Freude über das ganze Gesicht. Sie lebte endlich wieder auf dem Immenhof und hatte zudem den Mann ihrer Träume gefunden. Alexander liebte sie wirklich, das gab er stets zu. Und zwar nicht nur, weil sie die Besitzerin des Hofes war oder er eine Mutter für seine Töchter brauchte. Alexander küsste Dalli nicht nur nach dem der Pastor den Segen dazu gegeben hatte, sondern auch zu Haus im Salon ein zweites Mal. Klick machte es und Ethelbert hatte ein Photo in der Kamera.

„Auf einmal ist dieser Ethelbert verschwunden. Und keiner hat gewusst warum. Angeblich ist er nicht mal dazu gekommen, sich von Dalli und Vati zu verabschieden.“, spann Billy ihre Gedanken weiter. „Ich möchte wissen, woher Dalli diesen Mann kennt. Bobby und mir hat sie nie etwas von ihm erzählt. Ob Vati vielleicht besser Bescheid darüber weiß ? Doch er arbeitet momentan einfach viel zu viel.“

Im Schnee konnte man die Hufabdrücke der Pferde erkennen. Vor einigen Tagen war Alexander auf Scheitan ausgeritten, um auf diese Weise, nach der langen harten Arbeit im Büro, wieder ein wenig frische Luft zu bekommen. Billy biss sich vor Wut auf die Lippe. Anstatt mit ihr über alles zu reden, war ihr Vater einfach ausgeritten, ohne jemandem – außer Dalli natürlich – Bescheid zu geben. Eh klar.

„Als er zurück gekommen ist, hat er dann gleich als erstes, noch in den schmutzigen Stiefeln, gleich nach Henny geschaut, ob es ihr ja gut geht. Sie ist nämlich ein bisschen erkältet gewesen. Doch inzwischen läuft ja alles wieder prima, zumindest meint es Dalli. Sie hat in ihrer früheren Firma gekündigt und arbeitet nun hier täglich mit Vati zusammen. Der Immenhof bedeutet ihr offenbar viel.“

Billy hatte mit diesem Gedanken nicht so unrecht. Dalli hing an dem Immenhof. Er war ihre Heimat. Hier verlebte sie einst sorglose Kinderjahre mit Dicki, Ethelbert, Mans und noch vielen anderen. Ralf kam erst später dazu. Er wurde damals beinahe selbstverständlich in den Freundeskreis von Dick und Dalli integriert. Und konnte angeblich – so hatte es Dalli einmal erzählt – wundervoll Klarinette spielen.

„Ich hasse dieses alberne Lied, dass Dalli mit uns gesungen hat.“, seufzte Billy. „Damals ist es ja ganz nett gewesen, doch inzwischen finde ich es nicht mehr lustig. Wie wohl Bobby darüber denken mag?“
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Kapitel 7

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„Bobby, mach’ dir Tür auf. Ich möchte mit dir reden.“, klang es streng von den Lippen der Zarin. Auch ihr missfiel das Abspielen der lauten Musik – von der Richtung gar nicht erst zu reden – und un/willkürlich folgende Rücksichtslosigkeit in Bezug auf die kleine Henny. Entweder waren diese Ereignisse nur Zufall oder kamen sie in den letzten Tagen und Wochen doch öfter als notwendig vor?

Nur ungern erhob sich Bobby von ihrem Stuhl und drehte das Radio auf das zurück, was ihr Vater unter „Zimmerlautstärke“ verstand. Dann schlenderte sie zur Türe, um diese zu öffnen. Es geschah nur selten, dass die Zarin ein ernstes Wort mit ihren Enkeltöchtern sprach. Und wenn, dann hatte sie auch allen Grund dazu. Alexander drückte öfter mal ein Auge zu und verwöhnte seine Mädchen sehr.

Die Zarin betrat das Kinderzimmer und nahm aufgefordert auf dem Bett Platz: „Was ist nur los mit Billy und dir? Euer Verhalten Dalli gegenüber finde ich nicht besonders nett. Sie gibt sich wirklich Mühe und kümmert sich sehr gut um euch. Die Arbeit im Haushalt wird nicht weniger. Warum helft ihr Dalli nicht mehr dabei, wie am Anfang? Besonders jetzt, wo eure kleine Schwester Henny viel Pflege braucht.“

Bobby verschränkte wütend die Arme vor der Brust. Eigentlich war es gar nicht ihre Absicht, mit der lauten Musik gleich so einen großen Streit anzurichten. Doch Billy hatte sich mal wieder durchgesetzt und gemeint: „Ja, lass’ die Musik ruhig auf voller Lautstärke laufen. Damit bringen wir Dalli zur Weißglut. Vielleicht schimpft sie dann mit uns und kümmert sich mal kurz nicht um die kleine Henny.“

„Nun?“, meinte die Zarin schon ein wenig entgegenkommender. Sie kannte die Zwillinge inzwischen auseinander und wusste, dass man mit Bobby durchaus vernünftig reden konnte. Während Billy hingegen nicht so einfach zum Einlenken zu bewegen war und stur wie ein Esel sein konnte. Allmählich entspannten sich Bobbys Gesichtszüge. Dann lief sie zur Zarin und brach in Tränen aus.

„Ich wollte es doch gar nicht. Jedenfalls nicht so oft. Doch Billy hat mich immer wieder dazu überredet.“, schniefte Bobby, während sie in den Armen ihrer Großmutter lag. „Klar verstehe ich, dass man Rücksicht auf ein Baby nehmen muss. Doch ab und zu möchte ich schon mal meine Lieblingsmusik hören, ohne deswegen immer wieder gleich geschimpft oder bestraft zu werden.“

Die Zarin nahm sich fest vor, nun auch mit Billy darüber zu reden. Doch das war nicht so einfach. Gerade als sie zumindest Bobby ein wenig beruhigt und getröstet hatte, wachte Henny drüben im Schlafzimmer auf und verlangte laut brüllend etwas. Bobby putzte sich die Nase: „Lass nur. Ich gehe rüber und werde nach Henny sehen. Die Windeln kann ich ihr wechseln oder das Fläschchen geben.“

Dalli stand am Treppenabsatz und bewegte sich nicht. Sie hatte gerade den Hörer zurück auf die Gabel gelegt. Und das ganze Gespräch zwischen der Zarin und Bobby mitbekommen. Die Türe im Kinderzimmer stand offen. Außerdem hatte der Immenhof seit jeher sehr dünne Wände. Bobby kümmerte sich tatsächlich liebevoll um Henny, welche gierig an dem vollen Fläschchen saugte.

Die Zarin stieg langsam die Treppe herunter: „Hast du einen Augenblick Zeit für mich, Dalli? Komm, setzten wir uns gemeinsam ins Wohnzimmer oder in den Salon hinüber. Ich werde kurz in die Küche gehen und uns einen Tee kochen. Der beruhigt die Nerven. Glaub’ es mir. Ich besitze doch einige Jahre mehr Lebenserfahrung als du. Und weiß durchaus, was in dieser Situation zuträglich ist.“

Alexander saß inzwischen im Büro. Er arbeitete einige Akten ab. Die Türe war verstärkt mit einer Art Polster. So kam es, dass er weder die laute Musik von Bobby, noch den Streit zwischen Billy und Dalli mitbekommen hatte. Und schon gar nicht Hennys Geschrei, dass angeblich – wie es Stine einmal halb scherzhaft, halb ernshaft folgendermaßen bezeichnet hatte – „ja sogar Tote damit aufwecken kann.“

Billy war noch immer nicht von ihrem Spaziergang zurückgekommen. Allmählich ging die Sonne unter. Und der kalte Wind blies erneut. Die Ponys im Stall wurden unruhig und stampften mit den Hufen.

Ein Duft nach frischem Tee zog durch das Haus. Die Zarin hatte sich wieder einmal selbst übertroffen. Dalli nippte einige Schlucke des heißen, stark mit Zucker gesüßten Getränks. Gerade wollte sie etwas sagen, um der Zarin alles zu erklären, als ihr plötzlich die Tränen nur so aus den Augen flossen. Dalli war mit den Nerven am Ende. Ihre Hände zitterten so sehr, dass sie die Tasse nicht mehr halten konnte.

Pardauz – schon lagen die Scherben auf dem Fußboden. Dalli’s Herz klopfte bis zum Hals. Sie versuchte abermals die richtigen Worte zu finden, doch wieder versagte ihr die Stimme. Es war alles einfach zuviel für sie. Die Zarin strich Dalli beruhigend über die Schultern und den Rücken.
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Kapitel 8

Beitrag von Andrea1984 »

Was die beiden zu besprechen hatten, blieb vorerst noch unter vier Augen und daher geheim. Dann erhob sich die Zarin: „Ich werde jetzt das Abendessen vorbereiten. Und Bobby darum beten, dass sie mir dabei helfen soll. Zu zweit geht alles leichter von der Hand. Wie wär’s damit, wenn du deine Augen mit kaltem Wasser abwischst? Sie sehen so rot und verweint aus. Was würde Alexander sagen, wenn er dich hier und jetzt so sehen könnte. Ein Glück, dass er heute Abend viel im Büro zu arbeiten hat.“

Kurze Zeit später stand das Abendessen auf dem Tisch. Billy war von ihrem Spaziergang wieder zurückgekehrt. Sie langte tüchtig zu, der Aufenthalt in der frischen Luft machte sichtlich hungrig. Das war ja an und für sich nichts Ungewöhnliches bei ihr. Auch Bobby verfügte stets über einen gesunden Appetit. Kein Wunder, die Zwillinge waren ja noch im Wachsen und brauchten daher starke Kost.

„Wer war heute Nachmittag am Telephon?“, erkundigte sich Alexander bei Dalli, während er sein Brot mit Butter bestrich und anschließend mit Wurst belegte. „Leider habe ich es im Büro nicht gehört. Bei dem Schalldämpfer ist das kein Wunder. Sonst hätte ich auch abheben und plaudern können.“

Dalli antwortete: „Es war Ralf. Du weißt ja, er ist mein Schwager. Dick, meine Schwester und er sind seit einigen Jahren glücklich verheiratet. Sie leben nun in Kanada und haben drei reizende Kinder.“

„Offensichtlich verdient Ralf gut. Sonst hätte er dich nicht anrufen können. Normalerweise schreibt ihr euch doch gelegentlich an den Feiertagen z.B. zu Weihnachten oder zum Geburtstag.“, meinte Alexander anerkennend. Er wollte Ralf gerne einmal persönlich kennenlernen. Doch der Immenhof bot nicht soviel Platz für Gäste, auch wenn es sich dabei um nahe Verwandte seiner Frau handelte.

Eine Weile plauderten Dalli und Alexander noch über Ralf und einen möglichen, geplanten Besuch auf dem Immenhof. Irgendwann mengte sich auch Bobby in die Unterhaltung ein. Sie erwähnte eine wichtige Mathearbeit und jammerte über die schweren Themen, welche der Lehrer dazu verlangte „Wie soll ich das bis nächste Woche in meinen Kopf bekommen? Das schaff’ ich ja doch nicht so.“

Alexander hatte sogleich einen guten Ratschlag bereit, um das Problem zu lösen. Henny, welche in ihrer Wiege, die nahe an den Tisch geschoben worden war, lag, verfolgte das Gespräch aufmerksam, in dem sie von einem zum anderen blickte. Es schien, als wolle auch sie etwas dazu beitragen. Vor lauter Plaudern übersah Alexander etwas Wichtiges. Und niemand machte ihn darauf aufmerksam.

Normalerweise saß Dalli zwischen den Zwillingen. Doch heute hatte Billy absichtlich am unteren Tischende Platz genommen und Bobby drückte sich fest an Alexanders Seite. Die Zarin schüttelte insgeheim den Kopf, während sie scheinbar mit einem unbeteiligten Gesicht bei Tisch saß und ihre Mahlzeit zu sich nahm. Doch sie wusste, das jedes Eingreifen die Situation auch nicht lösen würde.

Nach dem Abendessen wusch Billy das Geschirr, Bobby trocknete es ab und verräumte es im Schrank. Dann gingen die beiden gemeinsam nach oben auf ihr Zimmer. Alexander stellte sich kurz in den Windschatten des Hauses – er klemmte vorsichtshalber einen Schuh zwischen die Türe, damit sie nicht von selbst zuschlug – und rauchte heimlich eine Zigarette. Dalli brachte derweilen Henny zu Bett.

Und die Zarin saß im Wohnzimmer über eine Handarbeit gebeugt. Vermutlich waren es Strümpfe für Henny. Oder doch für die Zwillinge. Wer konnte das so genau erkennen, nachdem gerade erst die Maschen angeschlagen wurden. Eifrig klapperten die Stricknadeln. Alexander dämpfte hastig die halbgerauchte Zigarette aus. Dann wusch er sich die Hände und ging hinüber ins Wohnzimmer.

Im Kamin knisterte das frische Holz, welches vor einigen Tagen frisch geschlägert worden war. Die Standuhr schlug sieben Uhr. Alexander ging unruhig auf und ab. Offensichtlich hatte er ein Problem und wusste nicht, ob und wie er darüber reden sollte. Die Zarin ließ sich in ihrer Handarbeit nicht stören. Alexander nahm den Brandy aus dem Kasten und schenkte sich ein Glas halbvoll. Er nippte hastig einen Schluck. Dann räusperte er sich mehrmals. Aber die Zarin war so in ihre Handarbeit vertieft – sie suchte gerade eine heruntergefallene Masche – und vergaß daher ihre Umgebung.

Oben im Kinderzimmer tuschelten und kicherten die Zwillinge noch miteinander. Sie taten es leise, um niemanden zu stören. Im Schlafzimmer lag Henny in der Wiege. Sie hatte sich bloßgestrampelt und lutschte seelenruhig an ihrem rechten Daumen, später an ihrem linken. Ihr persönlicher Schlafrhythmus war noch längst nicht mit dem allgemeingültigen in Einklang zu bringen.

Dalli stand im Badezimmer und kämmte sich die Haare. Erneut rannen ihr dicke Tränen über die Wangen. Es waren lautlose Tränen der Verzweiflung und der Hoffnungslosigkeit. Wie lange sollte das noch weitergehen?
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Kapitel 9

Beitrag von Andrea1984 »

„Der Züchter aus Bayern scheint unzuverlässig zu sein.“, ergriff Alexander nun endlich das Wort. Die Zarin nickte. Ja, sie hatte den Inhalt des Satzes verstanden, doch was sollte sie dazu schon sagen. „Er wollte das Tier, wie telephonisch vereinbart, persönlich auf den Immenhof bringen. Doch es ist ihm offenbar im letzten Augenblick etwas dazwischengekommen. Er hat mir nicht Bescheid gegeben.“

Die Zarin strickte konzentrierte eine Runde. Anschließend legte sie für einen kurzen Augenblick die Stricknadeln in den Schoß und antwortete: „Immer mit der Ruhe, Alexander. Es wird sich schon alles irgendwie aufklären. Vielleicht ist der Züchter erkrankt ? Oder das Tier ? Oder möglicherweise beide?“

Alexander ließ sich auf das Sofa fallen. An diese beiden Möglichkeiten hatte er wirklich nicht gedacht.

„Ich bin müde und werde nun zu Bett gehen.“, meinte der Hausherr und hielt sich beim Gähnen die Hand vor den Mund. „Wie ich sehe, geht es dir ja wieder besser. Deine Kopfschmerzen sind weg. Gute Nacht, Mutter. Ich werde sehr leise nach oben gehen, um Dalli und Henny nicht aufzuwecken.“
Die Zarin wünschte ihrem Sohn ebenfalls eine Gute Nacht. Und strickte dann noch zwei Reihen.

Am nächsten Morgen klingelte schon in aller Frühe mehrmals das Telephon. Zuerst war es der Züchter aus Bayern, der sich für die Verspätung entschuldigte – ja, er war tatsächlich einige Tage mit einer schweren Grippe im Bett gelegen – und dann rief der Direktor der Schule an, dass eine Unterrichtsstunde an diesem Tag entfalle, da sich die zuständige Lehrkraft auf einem Fortbildungsseminar befinde. Die Stunde werde an einem anderen Tag ganz gewiss nachgeholt.

Bobby und Billy packten ihre Schulbrote zusammen und machten sich auf den Weg. Das mit dem Entfallen der Stunde stimmte ja, doch es war leider nicht die erste – wie die Zwillinge gehofft hatten – sondern die letzte. Fünf Stunden mussten sie heute also auf der harten Schulbank sitzen, unter anderem schwierige Gedichte auswendig lernen, deren „Moral“ sie bis heute nicht verstanden.

Im Frühjahr und im Sommer waren die Mädchen zumeist mit dem Rad unterwegs, doch inzwischen lag zuviel Schnee auf den Straßen. Also stiegen sie auf die Pferdekutsche um. Heute war Billy dran, die Ponys einzuspannen. Sie entschied sich für Gänseblümchen und Radieschen. Zum einen übernahm sie diese Aufgabe wirklich sehr gerne und zum anderen ging sie so Dalli aus dem Weg.

Bobby verabschiedete sich von allen, die sich noch im Haus aufhielten. Dann lief sie nach draußen und knallte dabei – eher unbeabsichtigt – die Türe hart zu. Die Zarin räumte das Frühstücksgeschirr ab. Alexander telephonierte schon wieder – oder noch immer – doch diesmal hatte er selbst die Nummer gewählt und war nicht, wie bisher an diesem Tag, von jemandem angerufen worden.

Schon war das gleichmäßige Traben der Ponys zu hören. Dalli stand am Fenster im Wohnzimmer und beobachtete die Zwillinge dabei. Billy hatte – das konnte man durchaus wörtlich nehmen – die Zügel in der Hand. Bobby bewunderte lieber die Landschaft und freute sich an dem frischgefallenen Schnee. An diesem Tag zogen immer wieder dichte Wolken über den Himmel. Selten kam die Sonne hervor.

Dalli hatte dunkle Ringe unter den Augen. Kein Wunder, war sie doch die ganze Nacht nicht zum Schlafen gekommen. Erst schnarchte Alexander so laut, dass sie Wände wackelten. Dann verlangte Henny nach ihrer Mahlzeit. Und so ging es in einem ja beinahe gleichmäßigen Rhythmus dahin. Dalli war noch nie in ihrem Leben so einsam und unglücklich gewesen. Naja, das stimmt nicht ganz.

Damals als Margot im Kindbett gestorben war. So etwas kam selten vor, doch das Leben ging irgendwie weiter. Jochen war damals noch stiller, noch mürrischer als sonst gewesen. Hatte nun doch schon zwei Frauen verloren, denen er – jeder auf seine Art – die verdiente Liebe schenken konnte. Weit schwerer wog der plötzliche Tod von Oma Jantzen. Auch hier heilte die Zeit alle Wunden.

Jochen bewirtschaftete den Immenhof weiter. Doch es kamen immer weniger Gäste hierher. Dick und Ralf heirateten kurz vor Weihnachten, wenige Monate nach dem Tod von Oma Jantzen. Auch das war wieder eine Art Verlust für Dalli. Sie stand Jochen zur Seite, so gut sie es in ihrer Art vermochte. Wenige Jahre später nahm der Gutsbesitzer an einer Fuchsjagd von Freunden teil. Und kehrte von dort nicht mehr lebendig zurück. Sein Pferd hatte ihn bei einem Sprung abgeworfen. Genickbruch.

Als ob das alles noch nicht schon genug gewesen wäre, wurde Mans, etwas mehr als einen Monat später, von einem Pferd unglücklich am Kopf getroffen und lag seitdem im Wachkoma. Es bestand keine Chance, dass er jemals wieder aufwachte. So vergingen die Jahre in Freud und Leid.
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Kapitel 10

Beitrag von Andrea1984 »

„Liebling, was ist los mit dir?“, unterbrach Alexander besorgt die wirren und krausen Gedanken seiner Frau. „Du schaust schon seit zehn Minuten aus dem Fenster. Bobby und Billy sind schon unterwegs zur Schule. Mach’ dir keine Sorgen, sie kennen den Weg gut und können sich daher nicht verlaufen.“
Dalli hätte am liebsten mit ihrem Mann über alles gesprochen. Ob es dann wohl besser wurde?

Hastig strich sie sich eine Haarsträhne aus der Stirn: „Alles in Ordnung. Ich bin nur ein wenig müde. Henny hat mich die ganze Nacht auf Trab gehalten. Doch nun schläft sie friedlich in ihrer Wiege.“
Alexander gab Dalli einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Er wäre nie auf die Idee gekommen, dass seine Frau ihn soeben belogen hatte. Außerdem fand er jetzt kein offenes Ohr für ihre Probleme.

Schon klappte die Türe seines Büros hinter ihm zu. Alexander mochte das Abarbeiten der Akten nicht besonders gerne, doch was sollte er im Herbst und Winter sonst unternehmen. Der Plan aus dem Immenhof ein Ponyhotel zu machen, war an vielen Punkten – unter anderem Dallis Willen - gescheitert: „Das hatten wir schon, als ich noch ein Kind war.“ Aber davon wurde die finanzielle Lage auch nicht besser. Gewiss, der Immenhof war im Augenblick schuldenfrei, doch wie lange noch?

Die Pferde verkaufen, nein das kam für Alexander nicht in Frage. Er hatte aus nur wenigen eine große Zucht hervorgebracht, die sich in der Umgebung sehen lassen konnte. Besonders Scheitan gehörte schon seit vielen Jahren auf den Immenhof und war nur ungern davon wegzudenken. Auf dem Hof watschelte Hamlet ungestört herum. Er plusterte sich wild auf, doch niemand bemerkte dies heute.

Dalli arbeitete hart an diesem Vormittag. Sie kümmerte sich um das Aufhängen der Wäsche, staubte die Möbel in den vielen Zimmern ab und sah zwischendurch immer wieder nach Henny. Gerade als die Turmuhr draußen ein Uhr schlug, kamen die Zwillinge mit der Kutsche durchs Tor gefahren. Die Hufe der Pferde wirbelten den Schnee durcheinander. Hamlet watschelte hinüber zur Wagenremise.

Dalli öffnete den Zwillingen die Haustüre. Sie trug eine Küchenschürze, ihre blassen Wangen von heute Morgen bekamen langsam wieder Farbe. Die Zarin behielt Henny, während des Tischdenkens im Auge. Und konnte daher nur vermuten, was bei der Haustüre nun geschah. Alexander klappte soeben seine Aktenmappe zu, nachdem er eine wichtige Stelle mit einem Lesezeichen markiert hatte.

Gerade als die Zarin den Gong schlug und die Familie Arkens am Tisch Platz nehmen wollte, klingelte es an der Haustüre. Bobby und Billy warfen sich – quer über den Tisch – einen fragenden Blick zu. Wer wollte etwas um diese Zeit auf dem Immenhof ? Würde die entfallene Schulstunde etwa doch heute schon nachgeholt werden ? Oder war etwas mit dem Immenhof selbst nicht in Ordnung ?

„Wo läufst du hin, Alexander?“, wollte die Zarin wissen. Sie verteilte gerade die Suppe. „So warte doch, bis wir mit dem Essen fertig sind. Wer auch immer vor der Türe steht, hat bestimmt genug Zeit.“
Die Worte, welche Alexander mit dem Besucher sprach, waren vom Speisezimmer aus nicht zu verstehen. Es näherten sich Schritte. Jemand atmete tief ein. Henny erwachte und blinzelte um sich.

„Es hat sich nichts verändert, seit ich das letzte Mal hier gewesen bin.“, rief eine männliche Stimme erfreut aus. Dalli glaubte zunächst, ihren Ohren nicht zu trauen. Wie war das denn nur möglich?
„Ethelbert, wie schön, dich endlich wiederzusehen.“, mit diesen Worten fiel sie ihrem entfernten Cousin vor Freude um den Hals. Bobby und Billy verhielten sich anfangs ein wenig zurückhaltend.

Ethelbert war groß und schlank. Er hatte schwarze Haare und blaue Augen. Damals, als Junge hatte er für Dalli geschwärmt, doch sie sah lediglich einen Freund in ihm. Später wandte er sich Dick zu, doch diese gab ihm unmissverständlich zu verstehen, dass Ralf ihre große und einzige Liebe war. Um Ablenkung von seinem Kummer zu suchen, hatte Ethelbert sich fest in die harte Arbeit gestürzt.

„Der Hengst steht draußen vor der Türe. Naja, eigentlich noch im Transporter. Ich weiß nicht, ob sich Rasputin mit Scheitan verträgt.“, berichtete Ethelbert lässig und schob sich seinen Hut ins Genick. „Ja, ich arbeite als Pferdezüchter in Bayern. Das Geschäft läuft prima, so wie ich es mir vorgestellt habe.“
Dalli stellte ihren Cousin nun ihrer Familie vor. Die Zarin meinte höflich: „Angenehm, sehr angenehm.“

Bobby und Billy murmelten ebenfalls einige Höflichkeitsfloskeln. Sie wussten, dass Ethelbert auf der Hochzeit von Dalli und Alexander gewesen war, doch sie konnten sich nur flüchtig an ihn erinnern. Dalli strahlte über das ganze Gesicht und hob nun Henny aus der Wiege: „Meine süße, kleine Tochter, Henny. Wenn du magst, darfst du sie gerne einmal halten, Ethelbert. Sie beisst dich gewiss nicht.“
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Kapitel 11

Beitrag von Andrea1984 »

„Sie ist ja auch kein Pony.“, schmunzelte Ethelbert und strich Henny behutsam über die feinen, blonden Locken. Er konnte gut mit Kindern umgehen, hatte jedoch leider selbst keine eigenen.
Bobby und Billy lachten schallend über den ulkigen Kommentar von Ethelbert. Langsam begann er, durchaus den einen oder den anderen Sympathiepunkt bei ihnen auf diese Weise zu sammeln.

„Wenn Sie wollen, können Sie gerne mit uns essen.“, bot die Zarin freundlich an. Sie mochte Ethelbert vom ersten Augenblick gerne. Er sah blass und erschöpft aus. Von München nach Holstein war es ein weiter Weg. „Billy, hol’ noch ein Gedeck für unseren Gast, bitte. Der Stuhl hier ist noch frei. Setzen Sie sich doch, Ethelbert. Sie werden gewiss müde von der langen Fahrt sein. Und durstig bestimmt auch.“

Ethelbert nahm das Angebot gerne an. Und meinte daraufhin, er lasse sich ruhig duzen, auch auf dem Gestüt in Bayern kenne man das nicht anders. Wer „Sie“ zu einem anderen sage, werde entweder ausgelacht oder könne sich gleich eine andere Arbeit suchen. Mit Wasser, ja etwas anderes hatte die Zarin gerade nicht im Haus, wurde nun „Brüderschaft“ getrunken. Auch die Zwillinge durften Ethelbert duzen. Insgeheim wunderten die beiden sich sehr über diesen ungewöhnlichen Vor – und Rufnamen.

„Ich hab’ einen Stallknecht vom Gestüt mitgebracht. Der sieht solange nach Rasputin.“, antwortete Ethelbert auf Dallis Frage, während sie ihm höchstpersönlich den Suppenteller füllte und eine Serviette zuschob. „Wie geht es Dick und Ralf ? Ich hab’ schon länger nichts mehr von ihnen gehört.“
„Sie leben inzwischen in Kanada und haben drei Kinder. Ralf hat mich von dort kürzlich angerufen.“

„Fein, das freut mich sehr.“, meinte Ethelbert, während er sich das leckere Essens schmecken ließ. Ihm ging es wie vielen anderen Menschen auch: Er war überrascht von Dallis Kochkünsten – früher war ihr angeblich sogar einmal der einfache Milchreis angebrannt – und zum anderen konnte er die Zwillinge einfach nicht auseinander halten. Diese machten sich natürlich prompt einen Spaß mit ihm.

„Euch werde ich niemals unterscheiden können.“, seufzte Ethelbert und verdrehte die Augen zum Himmel, als er mit den Zwillingen nach dem Essen durch die Ställe schlenderte und ihm die Ponys vorgestellt wurden. „Bestimmt bringt ihr euren Vater und Dalli damit mächtig zur Verzweiflung.“
„Bloß die Zarin, unsere Großmutter, kennt uns auseinander.“, versicherten die Mädchen einig.

Drinnen wurde bereits der Kaffee serviert. Alexander rührte schweigend in der Tasse. Der Besuch von Ethelbert kam ihm durchaus nicht ungelegen. Ja, es war noch ein Gästezimmer unter dem Dach frei. Selbstverständlich durfte Ethelbert einige Tage ohne auch nur einen Pfennig zu zahlen, auf dem Immenhof bleiben, wenn er es wollte. Und um Rasputin werde man sich schon tüchtig kümmern.

„Sobald die Straßen schneefrei sind, sitze ich auf Rasputins Rücken.“, kündigte Dalli forsch und mutig an. „Ich bin schon so lange nicht mehr geritten und habe es daher bestimmt schon wieder verlernt.“
„Aber Liebling ....“, meinte Alexander und schenkte Dalli noch etwas Kaffee nach. „.... wer wie du von Kindesbeinen an reitet, besitzt diese Fähigkeit sein Leben lang. Ich hab’ es erst viel später gelernt.“

Die Zarin schaukelte Hennys Wiege und beteiligte sich nicht an dem Gespräch. Ihre Gedanken glitten hinüber zu den Zwillingen. Hoffentlich kamen sie bald wieder zurück. Immerhin waren noch einige Hausaufgaben zu machen. Und das Geschirr konnte auch nicht unbegrenzt warten. Schon stürmten Bobby und Billy lebhaft herein. Sie hakten sich bei Ethelbert unter und pfiffen fröhlich vor sich hin.

„Wir haben deinen Cousin tüchtig reingelegt.“, berichtete Bobby. „Er verwechselt uns jetzt ständig und weiß noch immer nicht, wer nun Rasputin in die Box geführt und wer ihm dann Scheitan gezeigt hat.“
Billy hingegen verstummte, als sie Dalli erblickte und kniff die Lippen zusammen. Alexander fiel es auch diesmal nicht auf, dass die Zwillinge sich nicht mehr so friedlich wie früher Dalli gegenüber verhielten.

Ethelbert nahm erschöpft auf dem Sofa, neben der Zarin Platz: „Nun habe ich mir einen Kaffee redlich verdient. Wartet nur, Mädchen. Ich werde mich für euren Scherz eines Tages gewiss an euch rächen.“
Dabei zwinkerte er jedoch lustig mit den Augen. Bobby und Billy atmeten erleichtert auf. Sie wussten, dass Ethelbert längst nicht so streng und distanziert war, wie er sich nach außen hin manchmal zeigte.

Die Zarin erhob sich kurz. Sie holte die frischgebackene Nusstorte aus der Küche. Selbstverständlich bekam Ethelbert als Gast das erste Stück. „: Kann ich bitte das Rezept haben? Die Torte ist köstlich.“
„Ich werde es dir gerne abschreiben.“, meinte Dalli. „Oder eine von den Mäusen wird es übernehmen.“
Bobby biss herzhaft in ihr Kuchenstück. Billy mochte den „kindischen“ Spitznamen nicht mehr leiden.
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Kapitel 12

Beitrag von Andrea1984 »

Sie stand auf und verließ das Wohnzimmer. Dalli setzte ihren Kuchenteller ab. Was war nur Billy gefahren? Warum ließ diese sie links liegen ? Langsam wurde es Zeit, der Sache auf den Grund zu gehen. Bobby wickelte derweilen Ethelbert mit ihrem Charme um den Finger. Alexander nickte wohlwollend in ihre Richtung. Ja, genau so sollte man sich gegenüber einem Gast verhalten.

Die Zarin ließ sich nach einer Weile entschuldigen. Und nahm Henny mit nach oben. Bobby erzählte einen lustigen Witz. Alexander schmunzelte darüber – er hatte den Witz schon öfter gehört und fand ihn daher nicht mehr ulkig – doch Ethelbert zeigte sein offenes Lachen, welches in der Vergangenheit bereits häufig mit dem Wiehern eines Pferdes – nicht zu Unrecht übrigens – verglichen worden war.

„Du musst noch deine Hausaufgaben schreiben.“, mahnte Alexander , als Bobby noch eine Weile im Wohnzimmer sitzen bleiben wollte. „Es ist schon spät heute. Nicht, dass du morgen früh verschläfst.“
Bobby wünschte Ethelbert und ihrem Vater eine „Gute Nacht“, wie es sich gehörte. Der Nachmittag war wie im Flug vergangen. Niemand hatte sonderlich auf die gleichmäßig tickende Uhr geachtet.

Auch an diesem Tag bzw. Abend kam es nicht zu einer Aussprache zwischen Dalli und Billy. Die beiden gingen sich auch weiterhin aus dem Weg. Inzwischen dämmerte es auch Ethelbert, welcher zwei Wochen als Gast auf dem Immenhof blieb, das da etwas faul war Doch er war inzwischen klug genug, sich nicht in die Angelegenheiten der anderen einzumischen, welche ihn nichts angingen.

Rasputin entwickelte sich gut. Er schaffte es mit List und Tücke Scheitan den Rang als Leithengst streitig zu machen. Nur widerwillig fügte sich der Besiegte. Doch so war es nun einmal Brauch: Wer im Kampf verlor, hatte in der Herde keine Rechte mehr. Im Stall standen die Boxen der beiden Hengste weit voneinander entfernt, damit es nicht zu gröberen Kämpfen kam. Wie es im Frühjahr und im Sommer auf der Weide aussah, nun darüber machte sich Alexander jetzt noch keine Gedanken.

Weihnachten und Neujahr verliefen in einem stillen Gleichmaß. Henny entwickelte sich gut. Die wirtschaftliche Lage auf dem Immenhof stabilisierte sich allmählich. Mitte April kam das erste Fohlen von Schneewittchen mitten in einer Gewitternacht zur Welt. Die Zwillinge übernahmen alleine die Geburtshilfe, ja eigentlich saßen sie nur dabei und schauten andächtig zu. Die Geburt des Fohlens verlief ohne Komplikation. Schon bald stand das weiße Stutfohlen fest auf seinen mageren Beinen.

„Ich lauf’ schnell nach drinnen und sag’ Vati oder Dalli Bescheid.“, wisperte Bobby, um die Tiere nicht zu stören. Schon war sie in der Dunkelheit verschwunden. Billy beobachtete Schneewittchen und das Fohlen im Schein einer wackligen Stalllaterne. Hastig saugte das Fohlen am Euter seiner Mutter. Billy zog die Decke fest über sich. Ein kalter Luftzug drang von der Stalltüre herein, die Bobby versehentlich offen gelassen hatte. Hoffentlich geschah dem kleinen Fohlen dabei nichts schlimmes.

Es näherten sich Schritte. Bobby kam zurück. Hinter ihr folgte Dalli, deren Haare offen auf ihren Schultern lagen und die sich hastig einen Morgenmantel über das Nachthemd geworfen hatte. Draußen zuckten Blitze über den Himmel. Im nächsten Augenblick krachte schon ein Donnerschlag nieder. Auch das Trommeln des Regens auf das Stalldach war nun in diesem Augenblick zu hören.

„Habt ihr schon einen Namen für das Fohlen gefunden?“, erkundigte sich Dalli interessiert. Immerhin war es das erste Fohlen, um welches sich Bobby und Billy von dessen Geburt an kümmern sollten.
„Nee, noch nicht.“, antwortete Bobby. „Viele kreative Namen sind leider schon vergeben. Laut dem Stammbaum soll der Name mit einem „S“ beginnen. Immerhin ist der Vater des Fohlens ja Scheitan.“

Billy seufzte tief. Als ob sie nichts besseres zu tun hatte. Doch sie musste so lange hier „ausharren“, bis ein Name gefunden worden war. Bobby setzte sich neben ihre Zwillingsschwester auf einen Strohballen. Gemeinsam teilten sie sich die Decke. Schneewittchen zog sich mit ihrem neugeborenen Fohlen in den hinteren Teil der Box zurück. Offenbar wollte sie nicht länger beobachtet werden.

Bobby murmelte halblaut einige Namen vor sich hin. Billy schüttelte jedes Mal den Kopf dazu. Dalli gähnte verstohlen. Seit Henny nun jede Nacht durchschlief, war sie das Aufstehen um diese Uhrzeit einfach nicht mehr gewöhnt. Bobby und Billy hingegen machte es nichts aus, die halbe Nacht im Stall zu verbringen. Heute war Sonntag, da hatten sie schulfrei und konnten dann mit einem guten Gewissen ausschlafen. Eine kleine Spinne webte ihr Netz quer über das hohe Fenster der Box.


Allmählich ließ das Gewitter nach. Dalli erhob sich aus der Hocke und meinte: „Ich gehe wieder zu Bett. Ihr könnt ja gleich die Stallarbeit übernehmen, wo ihr doch schon wach seid. Oder etwa nicht?“
Zuletzt geändert von Andrea1984 am Mi 16.Jul.2008 14:54, insgesamt 1-mal geändert.
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Kapitel 13

Beitrag von Andrea1984 »

Leise entfernten sich Dalli’s Schritte. Und das Gewitter ließ nach. Zumindest was den Blitz und den Donner betraf. Nur der Regen trommelte weiterhin auf das Stalldach, aber Bobby und Billy achteten nicht darauf. Sie übernahmen die Stallarbeit, wie sie es Dalli so halb und halb versprochen hatten. Bobby hätte gerne mit Billy über alles geredet, doch dann verschob sie die Aussprache kurzerhand.

Schweigend verschlossen die beiden nach getaner Arbeit die Stalltüre und begaben sich hinauf in ihr Zimmer. Bobby rieb sich verschlafen die Augen und Billy taumelte beim Gehen. Mit letzter Kraft schlüpften sie in ihre rosafarbenen Nachthemden, mit den weißen Bündchen an den Rändern. Doch sie konnten, trotz aller Müdigkeit, nicht einschlafen. Bobby rollte sich auf die Seite Richtung Billy.

„Wir müssen reden.“, sagte sie in einem energischen Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. „Es geht um Dalli. Wie kannst du sie nur so gemein behandeln und seit Wochen einfach ignorieren?“
Billy stützte den Kopf auf die Hände und dachte nach. Plötzlich durchbrach ihr lautes Niesen die Stille. Bobby reichte ihrer Zwillingsschwester ein Taschentuch. Diese putzte sich nun ausgiebig die Nase.

„Ich bin eifersüchtig auf Henny. Sie wird verwöhnt von hinten bis vorne.“, antwortete Billy nach einer Weile. „Dalli hat weniger Zeit für uns als früher. So kommt es mir jedenfalls vor. Was meinst du dazu?“

Bobby hatte so etwas in der Richtung bereits vermutet und meinte daraufhin: „Henny ist noch ein Baby. Wir müssen Rücksicht auf sie nehmen. Unsere Mutti hat sich bestimmt damals auch um uns gekümmert, als wir in Hennys Alter gewesen sind. Wenngleich ich mich daran nicht erinnern kann.“

„Es stimmt schon .....“, gab Billy nur höchst widerwillig zu.“.... und nach Muttis Tod war dann Großmutter für uns da. Was heißt da war. Ich meine, sie ist es bis heute. Vermutlich hat sie mit dir geredet und es geschafft, dich von dem Pfad der Eifersucht behutsam auf ihre Weise wegzuführen. Und ich hab‘ damals an jenem Tag beim Spazierengehen versucht, einen klaren Kopf zu bekommen.“

„Manchmal braucht man jemanden, der einem ins Gewissen redet.“, stellte Bobby trocken fest. „Ob das nun die Großmutter oder die Zwillingsschwester ist. Jetzt müssen wir nur noch gemeinsam überlegen – ich helf‘ dir, das ist selbstverständlich – wie du dich mit Dalli wieder vertragen kannst.“

Billy griff nach einem Kissen und warf es nach Bobby. Eine lustige Kissenschlacht begann daraufhin.

In einem Punkt hatte Billy deutlich die Unwahrheit gesagt. Sie war nicht nur eifersüchtig auf Henny – ihre kleine Schwester, oder eigentlich Halbschwester - , sondern auch darauf, dass Dalli alles so leicht zu nehmen schien. Kein Wunder, lebte sie doch auf dem Immenhof wie einst, konnte schalten und walten, wie es ihr beliebte und vergaß darüber ein wenig die Sorgen der anderen Bewohner hier.

Am nächsten Tag, nach dem die Zwillinge mit der Erlaubnis ihres Vaters erst einmal lange geschlafen hatten, gab es auf den ersten Blick keine Veränderungen. Alexander wollte einen Ausritt unternehmen. Er stellte sich das einfach vor: Dalli würde Scheitan reiten und er selbst Rasputin. Aber dann stolperte Dalli unglücklich, als sie mit einem Korb voller Babywäsche die Treppe herunterkam.

Einige Tage musste sie einen Verband um den rechten, verstauchten Fußknöchel tragen. Somit fiel das Reiten schon wieder flach für sie. Darüber ärgerte sich Dalli sehr, doch sie ließ sich ihre Gefühle darüber nicht anmerken. Henny lachte und quietschte vor Freude. Sie wuchs und gedieh prächtig. Die Zarin schob ihre Enkelin im Kinderwagen über den Hof. Es war ein warmer, sonniger Frühlingstag.

Alexander loste aus, ob nun Bobby oder Billy ihn beim Ausritt begleiten durfte. Das Los – ein kurzes Streichholz – rutschte in Bobbys Hand. Sie kleidete sich rasch um. Wenige Augenblicke später konnte man das Klappern der Hufe auf dem Hof – weit genug weg von Henny – hören. Es war ein Privileg, dass die Zwillinge auf Scheitan reiten durften, welcher als sehr schwierig, ja geradezu bockig galt.

Dalli biss sich auf die Lippen. Jetzt nur nichts falsches sagen oder tun. Sie hatte nun die Chance zu einer Aussprache mit Billy. Nanu, wo hielt sich denn das Mädchen schon wieder auf? War sie etwa mit den anderen ausgeritten? Oder half sie Stine, welchen den ganzen Tag eine Melodie laut und falsch vor sich hin pfiff, in der Küche? Nein, wieder Fehlanzeige Dalli zögerte. Jetzt war guter Rat teuer.

Billy hatte die allgemeine Verwirrung ausgenützt und sich geschickt, hinter dem Rücken von Stine, quasi als Schutz, nach oben geschlichen. Und die Zimmertüre vorsichtshalber abgeschlossen. So leicht wollte sie es Dalli nicht machen. Die sollte ruhig noch ein wenig zappeln. Jeder machte einmal Fehler. Doch dann sollte man auch den Mut haben, sie offen einzugestehen und darüber zu reden.
Zuletzt geändert von Andrea1984 am Sa 15.Nov.2008 16:59, insgesamt 1-mal geändert.
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Beitrag von Andrea1984 »

Aber auch diesmal kam der Aussprache zwischen Dalli und Billy etwas Wichtiges dazwischen. Nämlich ein langer Brief, welcher auf dem Tisch am Fuß der Treppe lag. Er war für Dalli bestimmt. Diese öffnete ihn mit einer Haarklammer, setzte sich auf den Hocker, faltete das Papier auseinander und las, was in Dicks deutlicher und klarer Handschrift auf feinem Briefpapier geschrieben stand.

„Liebe Dalli!

Wie geht es dir? Und besonders deinen Töchtern? Ralf hat neulich mal mit dir telephoniert. Jetzt müssen wir wieder sparen, um die hohen Kosten für das Telephonat irgendwie hereinzubekommen. Nicht, dass es uns so geht, wie damals dem Immenhof. Ralf hat mir anschließend berichtet, dass unser Hof endlich einmal schuldenfrei ist. Wenn Oma das noch erleben würde. Sie wäre stolz darauf.

Ralf arbeitet als Holzfäller, das hat er doch glatt zu erwähnen vergessen. Gelegentlich spielt er den Kindern und mir am Abend etwas auf der Klarinette, ja es immer noch dieselbe wie einst, vor. Wenngleich die Kinder jammern und meinen für das Zuhören dieser Musikrichtung sind sie aus dem Alter doch längst heraußen. Ich denke oft an damals, als Ralf sich mit der Musik freigespielt hat.

Nun will ich dir ein wenig über meine Kinder erzählen, damit du dir ein Bild von ihnen machen kannst. Ralf jun ist inzwischen dreizehn, Anna fast zwölf und Margot fast zehn. Ralfie sieht seinem Vater sehr ähnlich mit seinen braunen Haaren und den braunen Augen. Anna hingegen ist deutlich mein Ebenbild. Sie hat schwarze Locken und blaue Augen. Und ist ebenso temperamentvoll wie ich einst. Margot hat braune Haare und blaue Augen. Sie ist eher schüchtern und zieht sich gerne zurück.

Ralfie hilft seinem Vater bei den schweren Arbeiten, wo immer dies bereits möglich ist. Anna kümmert sich um den Haushalt, ja sie kann bereits einfache Gerichte zubereiten. Margot hingegen steckt ihre Nase fast immer in ein Buch. Oder sie übt auf der Klarinette. Sie ist die einzige von den Kindern, welche Ralfs Musikalität geerbt hat. Ralfie verdreht die Augen zum Himmel und jammert, wenn die Musik erklingt. Anna hält sich meist in der gleichen Sekunde die Ohren zu: „Das ist ja Katzenmusik.“

Natürlich ermahne ich meine Kinder, wenn sie so etwas sagen. Doch ich kann ihnen nicht lange böse sein. Besonders Anna wickelt mich mit ihrem Charme immer wieder um den Finger. Von wem mag sie das wohl geerbt haben? Während ich diese Zeilen hier schreibe, übt Margot brav und fleißig auf ihrer Klarinette und Ralfie hackt einen großen Stapel Holz. Anna kümmert sich derweilen um das Essen.

Ralf ist einige Tage unterwegs, doch er kommt bestimmt bald wieder zurück. Du kannst dir nicht vorstellen, wie dicht und groß die Wälder hier in Kanada sind. Wir leben in der Zivilisation, doch es gibt auch Leute, die weder über Strom noch über fließendes Wasser verfügen. Einige bewahren den Glauben an die alte Tradition und andere hätten dies gerne, können sich jedoch Strom und Wasser nicht leisten. In Kanada geht es ruhig und friedlich zu. Mal abgesehen von den wilden Bären im Wald.

Gestern ist ein Nachbar beim Zelten am Ontario See überrascht und ausgeraubt worden. Bären wittern sofort, wenn sie etwas Essbares finden. Und wehe dem, der ihnen dabei in die Quere kommt. Es gibt ein gutes Mittel, um sich vor Bären zu schützen. Die Vorräte niemals an einen Baum hängen, sondern immer im Zelt verbergen. Und vor allem, niemals laut schreien, wenn die Tiere auftauchen.

Ich hab‘ ja so leicht kaum vor etwas oder jemandem Angst, doch einem richtigen Bären muss ich nicht unbedingt begegnen. Dann schon lieber einen Ausritt auf dem Rücken eines Pferdes. Wir selbst haben eine alte Farm gekauft und sind eifrig dabei, sie instandzusetzen. Vorläufig besitzen wir noch keine Tiere, doch das kann sich ja bald ändern. Ich vermisse die Pferde, das gebe ich gerne zu.

Wenn die Kinder reiten wollen, gehen sie einfach zu unserem Nachbarn hinüber. Mr. Johnson – oder eigentlich Walter (hier in Kanada reden sich viele Leute mit dem Vornamen und „Sie“ an) – ist ein gutmütiger, etwas älterer Herr mit grauen Haaren und einem dunkelbraunen Schnauzbart. Er versteht viel von Pferden und kümmert sich in jeder freien Minute um seine Tiere. Ähnlich wie einst Dr. Pudlich.

Schade, dass Oma und er nie geheiratet haben. Ich hätte ihnen das Glück so sehr gegönnt. Und freue mich mit dir, dass du deines gefunden hast und wieder auf den Immenhof zurückgekehrt bist.

Sei herzlich umarmt und liebevoll gegrüßt von deiner Schwester Dick

Vancouver, den 15. April 1976
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Beitrag von Andrea1984 »

Dalli wischte sich hastig eine Träne aus den Augen. Wie lange war das nun schon her, ihre Kindheit und Jugend auf dem Immenhof. Über zwanzig Jahre. Die Zeit verging so rasch, dass Dalli es kaum glauben konnte. Sie hatte sich verändert, ähnlich wie eine Raupe, die zu einem Schmetterling wurde. Einst stand Dalli ungewollt im Schatten ihrer Schwestern, der frühverstorbenen Angela und eben Dick, welche eigentlich Barbara hieß, jedoch von niemandem, nicht einmal Ralf, so genannt werden wollte.

Auch Ethelbert hatte sie es damals am ersten Tag unmissverständlich klargemacht, als er am Bahnhof von Malente beim Abgeholt werden mit der Ponykutsche gefragt hatte: „Wer von euch ist denn nun Barbara?“ Ihre Antwort darauf: „Ich, aber sag‘ bloß nicht Dick zu mir.“ Ethelbert hatte natürlich verstanden, dass diese Antwort nur scherzhaft gemeint war. Dennoch konnte er nicht darüber lachen.

Erschrocken wirbelte Dalli herum. Was hatte sie aus ihren Gedanken gerissen? Ihr Herz raste bis zum Hals. Ihre Hände zitterten und ihre Knie waren weich wie der Wackelpudding, den es neulich zum Nachtisch gegeben hatte. Hoffentlich war Henny nichts geschehen? Das schoß Dalli sogleich als erstes durch den Kopf, während sie ihre Blicke in alle verfügbaren Richtungen hastig schweifen ließ.

Es war nichts Aufregendes passiert. Stine, dem kräftigen dunkelblonden Bauernmädchen mit den hellblauen Augen, war lediglich beim Abwaschen ein Teller zu Bruch gegangen. Dalli seufzte auf, diesmal jedoch vor Erleichterung: „Und ich hab‘ schon geglaubt, dass Sachen geschehen sind, welche ich mir nicht mal im Traum auszudenken wage. Diesmal ist Gottseidank ja alles nicht so schlimm.“

Im nächsten Augenblick kam die Zarin von draußen mit Henny wieder zurück: „Du siehst so blass aus, Dalli. Hoffentlich geht es dir gut. Mach‘ dir nicht draus. Ein Teller lässt sich leicht ersetzen. Ich hab‘ alles gehört. Stine lässt ja immer die Fenster in der Küche weit offenstehen, damit die Gerüche besser fortziehen können. Aber auch erst, nachdem ich sie mehrmals darauf aufmerksam gemacht habe.“

Henny quengelte. Sie wollte offenbar etwas. Dalli erkannte die Anzeichen sofort: „Ich gehe jetzt nur rasch nach oben, um Hennys Windeln zu wechseln. Und werde gleich wieder herunterkommen.“
Die Zarin wusste nichts von dem Brief, welchen Dick an Dalli geschrieben hatte, da dieser sich wohlverwahrt in Dallis Schürzentasche befand und daher von niemandem gesehen werden konnte.

Die Zarin ließ sich im Wohnzimmer auf das Sofa fallen. Und stöhnte. Sie litt unter der Hitze. Es gab nichts, womit sie sich frische Luft hätte zufächeln können. Nicht einmal die Zeitung von gestern. Von der heutigen ganz zu schweigen. Nun blieb der Zarin nur eines übrig: Auf die Rückkehr von Alexander und Bobby zu warten. Oder doch lieber mit Billy über alles reden? Die Zarin hätte gerne mit den Schultern gezuckt, doch dazu war sie inzwischen im fortgeschrittenen Alter nicht mehr in der Lage.

„Geh‘ ruhig ins Haus, Vati.“, rief Bobby von draußen. „Ich bringe Rasputin und Scheitan nach dem Absatteln sogleich auf die Weide. Das herumstehen in den Boxen ist bei diesem herrlichen Wetter nichts für sie. Außerdem fühlen sie sich in Gesellschaft der anderen Pferde sowieso am wohlsten.“

Alexander saß ab und übergab Bobby die Zügel. Dann zog er sich, noch auf der Veranda, die schmutzigen Reitstiefel aus. Heiß brannte die Sonne an diesem Tag vom Himmel. Der Schweiß lief Alexander in kleinen Bächen von der Reitkappe, welche er selbstverständlich bei jedem Ausritt trug, ins Genick. Sein Gesicht war leicht gerötet, jedoch von einem Sonnenbrand noch sehr weit weg.

Vom Brunnen im Hof konnte man sich jederzeit kühles, frisches Wasser heraufpumpen. Alexander verzichtete jedoch darauf. Er wusste, dass man niemals kaltes Wasser trinken durfte, wenn man erhitzt war. Sonst würde man davon schwer krank werden, ja man konnte sogar daran sterben.

Alexander war in seine Gedanken vertieft. Er hörte nicht, wie die Zarin näher kam. Dabei stieß sie mit ihrem Stock kräftig auf die Erde. Bobby band die Pferde im Hof am Anbindebalken vorschriftsmäßig an. Dann trug sie die Sättel und die Trensen in die Sattelkammer. Jedes Stück hatte dort seinen Platz.

Auch das Putzen der Sättel und Trensen gehörte an diesem Tag zu ihren Pflichten. Bobby arbeitete sorgsam. Sie konnte es sich nicht vorstellen, eines Tages den Immenhof zu verlassen. Dabei hatte Alexander ihr vorhin so einen schönen Plan bezüglich eines Semesters im Ausland vorgelegt. Und was sie davon hielte. Ja, selbstverständlich würde er auch mit Billy über dieses Thema reden.

„Ihr seid nun 15 Jahre alt. Es wird jetzt Zeit, sich über eure Zukunft Gedanken zu machen.“
Zuletzt geändert von Andrea1984 am Fr 07.Nov.2008 14:28, insgesamt 1-mal geändert.
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